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9 – Heinz


Stuttgart, Montag, 21. Juli 1986

»Meine Chance«, zischte German Heinz. »Ich fick’ euch alle! Alle miteinander!« Und er meinte nicht die Splitter seines bleichen Gesichts, die ihm kubistisch verzerrt entgegen leuchteten – einer seiner Alki-Wohngenossen hatte die Spiegelscherben krumm und schief mit krumpeligem braunem Paketklebeband wieder übers Waschbecken geklebt. Nein, Heinz sah sein Gesicht nicht einmal; er meinte Schneidereit und Klemens und Sallinger und die Pisser, die ihn damals verpfiffen hatten, um ihren eigenen Arsch zu retten – wegen vier Gramm, das muss man sich mal vorstellen! Er meinte die Bullen und die Staatsanwältin und die Knastaufseher, die tätowierten Knackis und die blöden Sozialarbeiter und die Ärzte in der Reha-Klinik. Und seine Mutter und ihren Heiratsschwindler und die Regierung und die Heroin-Mafia und all die Musiker, die Erfolg hatten mit ihrer Musik, auch wenn es meist in seinen Ohren gar keine Musik war. Und er meinte natürlich das Publikum, das verdammte wankelmütige, treulose, ahnungslose, strunzdumme Publikum, das ihm nicht hatte folgen können auf einem Weg, der doch so klar vorgezeichnet war wie die Gleise eines Intercity.

»›Der deutsche Coltrane‹!«, zitierte er eine Artikelüberschrift des Jazz-Podium. »Ha! Der olle Trane hätte neunzig werden müssen, um dahin zu kommen, wo ich schon war! Mit dreiundzwanzig! Ich hab’ sie doch alle weggeblasen, vierundsiebzig, in Donaueschingen! Shepp hat Telleraugen gekriegt! Sauer hat sich die Kante gegeben vor Verzweiflung! Ayler wollte nach mir nicht mehr auf die Bühne! Stockhausen wollte abreisen! Der einzige, der mich halbwegs verstanden hat, war doch der Brötzmann!«

»Sei da mal nicht so sicher«, sagte die mittlere der Scherben. »Als du gespielt hast, saß der mit seinen Kumpels im Adler und hat gebechert!« Der Schock, dass Spiegel sich mit ihm unterhalten konnten, war nicht mehr so groß wie beim ersten Mal, aber wohl fühlte Heinz sich auch diesmal nicht dabei. Schon weil ihn die Ahnung beschlich, dass es nicht wirklich Spiegel waren, die mit ihm sprachen, sondern Stimmen, die nur in seinem Kopf existierten. Wahnvorstellungen also. Dieser Ahnung nachzugehen hätte bedeutet, zu fragen, woher die Stimmen kamen, sich Gedanken zu machen, ob er seinen Konsum noch im Griff habe.

»Halt die Schnauze!«, sagte Heinz also lieber, riss die sprechende Scherbe von der Wand und pfefferte sie hinter die Toilette. »Ich rede von Kunst! Von Donaueschingen! Von Tantaphos und Sisylos, ihr Banausen!« Verängstigt kniffen die heil gebliebenen Scherben die Augen zusammen, klatschten in die unsichtbaren Händchen und riefen »Oh ja! Tantaphos! Sisylos! Die erste Free-Jazz-Oper! Ein Wunderwerk! Ein Meilenstein! Eine epochale Grenzüberschreitung!«

Aber hallo, dachte Heinz befriedigt. Er hatte zwar heftige Kämpfe ausfechten müssen, mit den Veranstaltern, mit den Redakteuren des Südwestfunks, mit den Sponsoren – aber er hatte sein Konzept realisieren dürfen.

»Und was für ein Konzept«, flüsterte er und wiegte bewundernd den Kopf. In der dreieckigen, wimpelförmigen Scherbe rechts unten veränderte sich das Licht, im ganzen Bad veränderte sich das Licht, wurde dunkler, diffuser, blauer …

Viereinhalbtausend Menschen, ein überwiegend intellektuelles, interessiertes, engagiertes und sachverständiges Publikum, hatten gerade andächtig John Cages Song Books I-III, Version für Vokalensemble und elektronische Klangtransformation gelauscht und anschließend mit höflichem bis Bewunderung zollendem Beifall bedacht, nur stellenweise gestört von Gelächter, Pfiffen und Buhrufen. Dann war Joachim-Ernst Behrend ans Mikrophon getreten und hatte erst Cage gedankt und dann das Publikum um etwas Geduld für eine längere Umbaupause gebeten. Und ihm in seinen gewohnt wohlgesetzten Worten empfohlen, sich derweil schon einmal mental auf ein ganz besonderes musikalisches, optisches und emotionales Ereignis vorzubereiten und sie auf die »historischen Konnotationen« des Werkes hingewiesen. Beeindrucktes, erwartungsvolles Murmeln.

Acht Aufbauhelfer errichteten hinter dem Schlagzeugpodest eine Wand aus Blech, sechs Meter breitem und drei Meter hohem, fein geriffeltem, matt grau schimmerndem Weißblech. Bauten auf dem Podium ein Schlagzeug-Set auf, das bei manchen im Publikum beunruhigte Reaktionen auslöste – es war kein filigranes Jazzschlagzeug, sondern eher die Art Set, die man auf einem Konzert von John Hiseman oder Ginger Baker erwartete. Links davon wurde ein Arsenal an exotischen Perkussionsinstrumenten aufgebaut und mikrophoniert, von lateinamerikanischen Congas über indische Tablas bis zu chinesischen Tempelgongs, und rechts davon entstand ein Gestell, an dem siebenundsiebzig der unterschiedlichsten Flaschen aufgehängt wurden, von Acht-Zentiliter-Parfümflakons über normale Halbliter-Bier- und Ein-Liter-Milchflaschen bis zum Fünf-Liter-Weinballon. Jede von ihnen war mit Flüssigkeit gefüllt, manche nur ein, zwei Fingerbreit, andere halb voll, einige bis zum Hals. Vor dem Podest standen drei Orange-Verstärker, wie sie der eine oder andere jüngere Zuschauer vielleicht von Rockfestivals kannte, ein antikes Grammophon und ein fahrbarer Leierkasten, wie die Älteren sie sicher schon durch die Straßen ihrer Stadt hatten ziehen sehen und hören. Es gab keinen Affen auf dem Leierkasten – Heinz war zwar Tierfreund, aber abgelehnt hatten den Affen die Rundfunkredakteure, aus Angst vor Tierschützerprotesten.

Als Letztes wurde Heinz Gehrmanns Mikrophon verkabelt, zentral am Bühnenrand, und zu Füßen des Stativs eine Batterie von Effektpedalen, die das Mikro mit den Oranges verbanden. Dann wurde alles an Bühnenlicht gelöscht, und fast fünf Minuten lang geschah rein gar nichts.

Dann wurde langsam, quälend langsam, die vordere Bühnenhälfte in neblig-blaues Licht getaucht. Eine blonde Frau in einem antik-griechischen weißen Gewand betrat die Bühne, ging, feierlich schreitend, zu dem Grammophon und setzte die Nadel auf eine Schallplatte. Aus dem Lautsprecher erklang, dünn, kratzig und quäkend, Billie Holiday’s Version von Love me or leave me. Die Blonde schwebte zur anderen Bühnenseite ab. Heinz, in einem roten Smoking, trat auf, ging an sein Mikrophon und begleitete Billie, spielte ein paar sanfte, heisere Fills um ihre Zeilen herum – Lester Young nach ein paar Brandys –, flocht immer mehr verspielte Läufe ein, intensivierte sein Spiel, wurde lauter, sein Ton fordernder, und als die Platte zu Ende war und nur noch die seltsam rhythmische Schleife der Nadel in der Auslaufrille zu hören war, nahm er diese Schleife als Taktgeber, verdoppelte aber das Tempo seiner Tonkaskaden, vervierfachte es, spielte sich in einem wahren Parforceritt durch die Changes von Love me, in einem Höllentempo …

Charlie Parker ließ grüßen, aber auch John Coltrane und Anthony Braxton waren schon da, und alle drei waren auf Speed. Und Heinz hörte nicht auf, gönnte weder sich noch seinem Publikum auch nur die geringste Atempause – er hatte seine Zirkularatmungs-Lektion bereits gut gelernt; als bräuchte er nie mehr Luft zu holen, ließ er die wahnwitzigen Skalen auf die Zuhörer herunter prasseln – liebt mich oder geht weg –, und erst nach einer ganzen Weile bemerkte man, dass sich derweil der Schlagzeuger an seinen Platz geschlichen hatte und sich ebenso schleichend sein Ride-Becken zu Heinzens Läufen gesellte; wie von einer nimmermüden, treibenden Elvin Jones-Rechten gespielt, peitschte es Heinz in immer neue Höhen, unterstützt von gelegentlichen Snare-Rolls der linken Hand, akzentuiert von dumpfen Basstrommel-Schüben. Die beiden swingten wie Hölle, unten wurden erste Begeisterungsrufe und -pfiffe laut – bis immer öfter, immer brutaler, explodierende Snarewirbel den Rhythmus zerhackten; aus einer zwar schweinisch schnellen, aber immer noch traditionellen Jazznummer wurde Freejazz. Heinz überblies mehr und mehr Töne, das Saxophon fiepte und kreischte, bellte, jaulte und fauchte, ließ die Harmonien des Songs hinter sich, unter sich, stürzte nur gelegentlich wieder herab wie ein Bussard, um sich ein paar Fetzen davon aufzuklauben und mitzunehmen, um seine hungrig krächzenden Jungen zu füttern …

Dann machte sich Unruhe breit – eine Weile wusste niemand, was es war, dieses Grollen und Beben, die das Gelände erfüllten, es erzittern ließen, bis man schnallte, dass es der zweite Perkussionist war, der mit riesigen Schlegeln die Tempelgongs bearbeitete, das finstere Bollern an- und abschwellen ließ, minutenlang, so schien es, bis es nach und nach verklang und der Perkussionist die Schlegel beiseite legte und mit allerlei Glöckchen, Ketten und Rasseln einen neuen Klangteppich unter den wilden Ritt legte – lieb mich, wenn du mir folgen kannst, oder bleib, wo du bist.

Das Tempo, die Intensität des Swings schienen ihren Höhepunkt erreicht zu haben, längst erreicht zu haben eigentlich, aber das Trio ließ nicht nach, hielt die Spannung, peitschte sie weiter wie ein durchgeknalltes Kind seinen Dilldopp, um zu erleben, wie es schon nicht mehr sehen konnte, dass das Ding sich drehte, sondern wie eine Windhose auf dem Asphalt tanzte, wie kurz vorm Abheben – mehr, mehr, schrie der kleine Häwelmann … Und die ersten Zuhörer sprangen auf, junge Männer meist, in engen schwarzen Röhrenhosen und schwarzen Rollkragenpullis, und stießen schrille Schreie aus, schnippten heftig mit den Fingern, zuckten im wilden Rhythmus mit allen Gliedern, als habe Heinz den Schlosspark von Donaueschingen in einen Kral verwandelt, in dem mit archaischen Tänzen die bösen Geister vertrieben wurden; sogar die etwas gesetzteren, älteren, intellektuelleren unter den Zuhörern wippten mit den Knien, applaudierten, erst anerkennend, dann begeisterter … – da trat Heinz mit einem Fuß auf eins der Effektpedale. Seine immer noch rasant auf- und absteigenden Läufe wurden verstärkt und in krank umher taumelnden Echos auf ihn zurück, über all die verblüfften Köpfe geworfen; Heinz war nicht mehr einer, sondern ein halbes Dutzend ausgeflippter Heinze.

 

Und dann, niemand hatte auch nur das geringste dirigierende Zeichen gesehen, mitten in einer weiteren Gischt von Klängen, stoppten alle drei, abrupt und gleichzeitig, auf der Zwei eines Taktes.

Manche der Zuschauer, vor allem die Tänzer, sahen aus, als hätte ihnen jemand im vollen Lauf eine Zaunlatte in den Magen gehauen. Und während die Saxophon-Echos dumpfer und leiser wurden, langsam verklangen, während manche der Kinnladen noch nicht ganz unten waren, während die ersten einander überrascht und ratlos anschauten – was war das denn jetzt? –, wurden sie gewahr, dass jetzt auch der Leierkastenmann auf der Bühne war. Er drehte den Schwengel seines Instruments, gemächlich, als stünde sein Kasten auf dem sommerheißen Kopfsteinpflaster eines Berliner Hinterhofs – und spielte Ich weiß nicht, was soll es bedeuten … Die Loreley.

Das Publikum raste.

Mittlerweile war die Bühne voll erleuchtet, und man konnte den fünften Musiker sehen. Der stand an dem Flaschengestell, in all dem Blau von einem engen gelben Spot angestrahlt, und begann, die Flaschen mit dünnen Metallstäben zu bearbeiten. Gelegentlich hielt er inne, nahm eine der Flaschen von ihrem Haken und trank einen Schluck daraus, um ihre Tonhöhe zu verändern. Angesichts deren Menge begannen die Ersten zu ahnen, wie das Werk zu seinem Titel gekommen war.

Ein sphärisches Klingeln breitete sich aus, die immer heftiger zitternden und schaukelnden Flaschen warfen Reflexionen des gelben Spots über die Bühne, über das Gelände, verwandelten den herbstlichen Park in die Weihnachtsabteilung eines Großstadt-Kaufhauses, der Perkussionist nahm sein Rasseln und Bimmeln wieder auf, und nicht nur der stoisch weiter orgelnde Leierkastenmann schien sich zu fragen, was soll das bedeuten?.

Und dank des sich zusehends über die ganzen Bühne ausbreitenden blauen Lichts sah man nun auch die beiden Männer, die sich am linken Rand der Blechwand eingefunden hatten und mehrere Farbeimer abstellten. Dann begann der erste, einen Pinsel in einen Eimer zu tauchen und das Blech von links oben an mit roter Farbe zu streichen, ganz ruhig, in den gleichmäßigen Bahnen eines erfahrenen Anstreichers. Anders als die Arbeit eines alten Handwerkers aber war dieser Anstrich mit einem Plomben ziehenden Geräusch verbunden – der Pinsel war aus dünnem Draht, und die Rückseite des Blechs war mit Gitarrentonabnehmern beklebt, und die Orange-Verstärker gaben Geräusche von sich wie Tausende auf Schiefertafeln kratzende Fingernägel, wie eine ganze Kolonne an Leitplanken entlang schleifender Autos, wie Knochensägen und Schädelbohrer, und mehr als nur ein paar Zuschauer bekamen heftige Zahnschmerzen und stöhnten auf, manch eine Frau stieß spitze Schreie aus. Heinz machte sich ein Vergnügen daraus, diese Schreie mit seinem Horn zu beantworten, und seine Antworten wiederum wurden von seinem Echogerät vielfach zurückgeworfen. Als der erste Anstreicher die Hälfte des Blechs in Rot getaucht hatte – im Zuschauerraum wurde es zunehmend unruhiger –, machte sich der zweite an die Arbeit. Sein Pinsel schien dickere Drahtborsten zu haben, das Kratzen und Kreischen, das er verursachte, klang tiefer, böser, aber beileibe nicht weniger unangenehm.

Und seine Farbe war weiß.

Und während der erste sein rotes Werk vollendete, die Blechwand von oben nach unten bis zum rechten Rand in leuchtendes Rot getaucht hatte, überpinselte der andere das Rot mit weißer Farbe, und während der Schlagzeuger den schnellen Swing-Rhythmus wieder aufnahm und Heinz sich langsam von spitzen Möwenschreien wieder in lallende Tonfolgen vorarbeitete, nahm der erste Anstreicher in aller Seelenruhe seinen Eimer, ging an dem zweiten vorbei zurück zum linken Rand der Wand und begann ungerührt, das Weiß wieder mit roter Farbe zu übertünchen – Sysiphos, während das Publikum Tantalusqualen erlitt. Die ersten ergriffen bereits die Flucht – mehr leave me als love me, dann doch –, als Heinz ein zweites Effektgerät in Betrieb nahm. Das war ein Verzerrer, ein Big Muff, wie Jimi Hendrix ihn benutzt hatte, und plötzlich klang das Saxophon wie ein ganzer Affenfelsen voller Brüllaffen, um den eine Horde ausgebüxter Rasenmäher herum karriolten, die wiederum von einem Polizeikordon per Megaphon aufgefordert wurden, schnellstens in den heimischen Schrebergarten zurückzukehren.

Die Anstreicher pinselten schneller und heftiger, der Perkussionist machte sich über ein Set aus voluminösen afrikanischen Trommeln her, als sei dies seine letzte Chance, nach einem langen wasserlosen Sommer die Regengötter herbeizurufen, der Schlagzeuger versuchte, Elvin Jones, Tony Williams und Han Bennink gleichzeitig zu sein und prügelte sämtliche Pegelmesser im Ü-Wagen des Südwestfunks jenseits ihrer dunkelroten Begrenzungen, dem zweiten Perkussionisten zerschellten die ersten Flaschen, weil er so heftig auf sie einschlug, und Heinz, der große, innovative German Heinz, hatte sich inzwischen entschieden, seine drei Töne gefunden zu haben – love me or leave me, love me or leave me, love me or leave me, spielte er, immer und immer wieder, in immer wieder neuen Klangfarben, gerotzt, geheult, gesäuselt, trompetet, gepfiffen, gebellt, gehustet, gekreischt, in immer neuen Phrasierungen hervorgestoßen, wie verzweifelt hinausgeschrieen – liebt mich oder verpisst euch, liebt mich oder verpisst euch! – und wenn er gelegentlich ein Auge einen Spalt öffnete, konnte er sehen, wie viele da unten ihn liebten und wie viele – sehr viel mehr – es vorzogen, das Weite zu suchen. Er konnte in vor Empörung aufgerissenen Augen und Mündern sehen, dass sie ihn nicht verstanden, dass sie ihn nicht liebten, dass sie ihn nicht lieben konnten, weil sie ihn nicht verstanden, ihn nicht verstehen konnten, weil er nicht von ihrer Welt war, nicht in ihrer Zeit, ihrer Zeit voraus, weit voraus, und er schaltete die Echos ab, schaltete den Verzerrer ab, beschränkte sich auf eine einzige Klangfarbe, ein giftiges, spöttisch-verächtliches love me or leave me, wobei er das leave me jedes Mal wiederholte, und er schnappte sich das Mikrophon aus seiner Halterung, ließ es in den Trichter seines Instruments fallen und begann, am Bühnenrand auf und ab zu marschieren, das Mikrophonkabel hinter sich her schleppend wie eine Sträflingskugel, seine Phrase den Zuschauern ins Gesicht spuckend, und die Blechwand wurde abwechselnd rot und weiß, und die Farben vermischten sich immer mehr, bis es aussah, als würden Ströme von Blut eine rosa-weiße Wand hinab laufen; aber das war nicht das einzige Blut an diesem Abend, denn den verschwitzten Händen des Flaschenmanns waren inzwischen seine Stahlklöppel entglitten, und er hielt eine der letzten heil gebliebenen Flaschen mit beiden Händen und schlug sie sich im Rhythmus gegen die Stirn, dass ihm das Blut in Strömen übers Gesicht lief, und dem Voodoo-Trommler platzte die Haut an den Händen auf und bei jedem Schlag auf seine blutverschmierten Trommelfelle spritzten kleine rote Fontänen hoch …

Und der Leierkasten orgelte sein Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, als habe er mit all dem nichts zu tun und dächte bloß an die sagenhaften zweihundert Mark Gage, die er heute bekommen sollte.

Und dann blutete auch Heinz, denn irgendjemand da unten, der ihn ganz besonders wenig liebte, hatte ihm eine Bierflasche an den Kopf geworfen. Blut sickerte aus einem üblen Schnitt in seiner Braue, wurde vom Druck seines Pulses, seines unverdrossen weiter hervorgestoßenen Mantras in Wellen aus seinem Schädel gepumpt, und als er einmal zwischen zwei Phrasen benommen den Kopf schüttelte, glänzte plötzlich sein ganzes Gesicht nass und rot, und als die Blondine zurück auf die Bühne gerannt kam und versuchte, Heinz davon herunter zu zerren, und, als der sich weigerte, anfing, ihr Gewand zu zerreißen und, halb nackt da stehend, Heinz mit den Fetzen das Blut aus dem Gesicht zu wischen, die Blutung zu stillen, da flog ein hölzerner Klappstuhl auf die Bühne, erst einer, dann noch ein paar, und Heinz und seine Athene gingen getroffen zu Boden.

Der Mann am Lichtpult fuhr das Bühnenlicht herunter und schaltete die Laternen rund um den Zuschauerraum ein, sein Kollege am Mischpult zog mit der raschesten aller Ausblendungen die Summenregler nach unten, und im Ü-Wagen warf einer der Tontechniker seinen Kopfhörer in eine Ecke und sagte: »I geh z’rück zum Schport!«

Eine Grenze war überschritten.

»Scheißer!«, zischte Heinz. »Wichser!«

Die linke Spiegelscherbe, ein Zacken wie der Schweif des Sterns, der die Heiligen Drei Könige nach Bethlehem geführt hatte, funkelte ihn an, als würde sie ihn auslachen, er konnte ihr mitleidig-spöttisches Kichern förmlich hören, und er schlug mit der Faust auf sie ein, bis auch jetzt wieder Blut spritzte, er riss das Klebeband ab und jagte sich die Spitze des Schweifs in den Unterarm, wischte mit der Hand das Blut ab, schmierte es sich ins Gesicht, beugte sich nach vorne über das Waschbecken und starrte die beiden restlichen Scherben an der Wand an, zu allem bereit. »Und? Und jetzt? Habt ihr auch noch was zu sagen?«

»Nein, nein!«, jammerten die beiden. »Nein! Wir wollten nur …«

»Was?!«

»Na ja … Dein Plan mit dem Strom …«

»Ist ein Scheißplan.«

»Eh …, ja. Irgendwie.«

»Als wenn mir das nicht schon selber klar geworden wäre«, sagte Heinz, drehte den Wasserhahn auf und begann sich das Blut vom Gesicht zu waschen. »Aber es gibt einen neuen Plan.«

»Oh! Ah!« und »Toll!«, machten die Scherben.

»Immerhin weiß ich, wo der Kifferkönig wohnt. Und weiß, dass er nächtliche Gesellschaft nicht ab kann. Schon gar nicht in seiner Jägerhütte. Hinfahren, abends, abwarten, bis seine Jünger und seine Mädels sich vom Acker gemacht haben. Anklopfen, ‚Hallo, Sallinger’ sagen, ihm das Ding hier in den Hals rammen«, er hielt den Sternschweif hoch, »ein bisschen ‚Hippies raus!’ und ‚Scheiß-Kiffer!’ und ‚Kinderschänder!‘ und ein paar Hakenkreuze an die Wände malen und weg.«

»Wow!«, machten die Scherben.

»Seht ihr«, sagte Heinz zufrieden. »Ein bisschen Grips, ein bisschen Fantasie, ein gutes Stöffchen – und schon kriegt man alles hübsch in den Griff.«

Er wollte gerade anfangen, sich im Beifall seiner Spiegelgeister zu suhlen, als es von draußen an die Badezimmertür bollerte.

»Mensch, Heinz, was machste’n so lang da drinnen?! Ich krieg’ den flotten Otto!«, rief einer seiner beduselten Wohngenossen.

»Ich krieg’ den Bayrischen Verdienstorden!«, schrie Heinz zurück und bekam einen Lachanfall.

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