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»In Sachen Solidarität sind diese Penner für mich aber ein Flop«, hatte er einen ihrer Begleiter beim Hinausgehen noch murmeln hören.

5 – Martina


Bonn, Sonntag, 20. Juli 1986

»Ein sieben Milliarden teurer Flop!«, ereiferte sich Sabine Illenberger und schlug zur Betonung jedes einzelnen ihrer Worte fünfmal mit der flachen Hand auf die Tischplatte, dass das Teegeschirr klirrte. »Und nicht einmal die Stromkonzerne sind noch an Kalkar interessiert, weil der Brüter, selbst wenn er ans Netz gegangen wäre, nie im Leben mehr wirtschaftlich Strom erzeugen könnte!«

»Na, kein Wunder, bei dem Preis«, sagte Martina Esser-Steinecke und versenkte einen weiteren Löffel Honig in ihrem Tee.

»Weshalb unser guter Johannes Rau ja auch schon den Verzicht auf Kalkar zusagen konnte, ohne sich Ärger mit denen einzuhandeln«, ergänzte Rainer Kolbe.

»Kanzlerkandidat – ha, ha!«, machte Sascha Zoller und schob einen Zahnstocher von einem Mundwinkel in den anderen.

Bei jedem anderen fände ich das affig, dachte Martina, machomäßig. Aber bei ihm …, ja, bei ihm macht es mich an.

»Als wenn die SPD in absehbarer Zeit gut genug dastehen würde, um einen nötig zu haben«, sagte sie. »Da sind ja eher wir dran«, fügte sie übermütig hinzu und genoss das schiefe Lächeln, das Zoller ihr gönnte. Wie im Reflex griff sie nach ihren Zöpfen und strich sie glatt. Einmal noch, dachte sie. Wir waren betrunken, und es ging alles so schnell … Einmal in Ruhe, vielleicht sogar eine ganze Nacht …

»Aber hier müssen wir ansetzen«, warf Sabine ein. »Ohne Kalkar ist die Wiederaufbereitungsanlage ein Schmarr’n! Und das müssen wir den Leuten klarmachen!« Aber dafür bist du ja inzwischen berüchtigt, dachte Martina. Saschas schnelle Nümmerchen. Schnell und unverbindlich. Ich war ja vielleicht eine der Ersten, aber längst nicht mehr die Einzige. »Wer da draußen weiß denn schon, dass die sich verrechnet haben und dass die deutschen Uranvorräte völlig ausreichen, um auf unabsehbare Zeit Leichtwasserreaktoren zu betreiben?« Sogar mit dir hat er’s getrieben, du Heuchlerin! Von wegen ‚Nie im Leben würd’ ich was mit ’nem verheirateten Mann anfangen’! Auf dem Damenklo vom Pallament! Zählt wohl nicht unter ‚was anfangen’, ha?! Und dann erst noch so tun, als sei nichts gewesen – als hätt’s dir nicht jede angesehen, als hätte nicht jede mitgekriegt, wie lange ihr da verschwunden wart! Aber sich dann noch verschwörerisch über Paula beugen und kichern wie ein Backfisch und ihr zuflüstern – natürlich so laut, dass selbst ich es drei Hocker weiter mitbekommen konnte: ‚Es stimmt’ …! Vier Jahre EMMA-Redaktion, und dann, ein paar Pastis im Kopf, auf einmal beeindruckt von seinem …, seinem …

Martina rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum. Spürte, wie sie rot wurde, weil Zoller ihr einen Blick zuwarf, als habe er ihre Gedanken hören können. Was bin ich doch für eine verklemmte alte Zicke, dachte sie. Mag nicht mal in Gedanken das Wort in den Mund nehmen. Dabei hab’ ich’s in den Mund genommen, fuhr es ihr durch den Kopf, und wider Willen rutschte ihr ein Gackern heraus. Die Köpfe der anderen am Tisch ruckten zu ihr herum.

»Was is’?«, fragte Sabine, sofort verärgert, weil sie sich unterbrochen fühlte.

»Ach, nichts«, beeilte Martina sich zu sagen. »Ich hab’ mir dich nur gerade als Kanzlerin vorgestellt«, schob sie schnell nach. Zum Glück lachten alle herzlich darüber, sogar Sabine. Aber sie kam gleich wieder zurück auf das, was sie für heute vorbereitet hatte.

»Schließlich soll die WAA Pöckensdorf den Plutonium-Brennstoff für den Schnellen Brüter liefern – und was macht das für einen Sinn, wenn der gar nicht erst in Betrieb geht? Da kann olle Strauß noch so sehr unken, dass von der Genehmigung für Pöckensdorf«, sie malte Gänsefüßchen in die Luft und versuchte sich an einem ulkigen bayrischen Akzent, »‚das Überleben der Bundesrepublik Deutschland als Industrienation abhängt’!«

»Sogar die DWK weiß das selbst am besten«, sagte Kolbe. »Zwei Wochen nach Tschernobyl haben sie den Bauantrag für eine Alternative gestellt – eine …«

»Genau«, unterbrach Sabine ihn und blitzte ihn kurz giftig an, weil er ihr ihren Text vermasselte. »Eine Anlage zur Konditionierung abgebrannter Brennelemente zur direkten Endlagerung – ohne Wiederaufbereitung!«

Und natürlich hast du in deinem geilen, betrunkenen Köpfchen überhaupt nicht mitgekriegt, wie Paula daraufhin ihren Wein runtergekippt hat und mit Tränen in den Augen aus dem Laden gestürmt ist, du Ego-Zicke! Als wüssten nicht alle, dass Paula unsterblich in Sascha verknallt ist – da kann sie noch so demonstrativ Händchen halten in der Öffentlichkeit mit ihrem Admiral. Und genau deswegen treibt der Sascha mit ihr am heftigsten seine Spielchen – wegen dem Admiral, wegen dem Risiko! Und natürlich auch, weil Paula nun mal mit Abstand die Attraktivste von uns ist. Obwohl man gar nicht glauben möchte, dass das für ihn eine große Rolle spielt, wenn man bedenkt, wen er alles schon beglückt hat. Wahrscheinlich hat er dir auch versichert, dass deine fetten Hängeeuter wenigstens was zum Anpacken wären für einen Mann, genau wie mein Pferdearsch. Und wahrscheinlich hast du’s für ein paar Sekunden sogar geglaubt – genau wie ich. Komisch – darüber hat noch keine von uns gesprochen, in der Frauengruppe

»Also, Sascha, was wirst du morgen Abend der Tagesschau erzählen?«, schloss Sabine und blickte Zoller zum ersten Mal seit Beginn ihres Vortrags offen an. »Ich hätte da noch ein bisschen was vorbereitet …« Der Blick unterschied sich erheblich von dem, den sie Kolbe eben zugeworfen hatte. Ein Unterschied, den Zoller, der natural womanizer, sehr wohl zu deuten wusste. Vergiss es, Liebchen, vergiss es! Was erwartest du – ein weiteres Fleißkärtchen auf dem Damenklo? Einen Heiratsantrag? Oder bloß Unterstützung bei deiner Parteikarriere? Tz! Vergiss es – der treibt mit uns allen seine Spielchen, seine eigenen Spielchen!

»Super, Sabine«, sagte Zoller, und sie bekam rosige Wangen, versuchte aber eine Miene aufzusetzen, als sei ihre Arbeit selbstverständlich lobenswert und ein Lob von einem Mann das Letzte, was sie brauchte »Astrein!« Er nahm seine Füße in den gewohnten schwarzen Boxerstiefeln vom Tisch, steckte den Zahnstocher in ein Knopfloch seiner Lederjacke und kramte in deren Taschen. »Aber was haltet ihr davon, wenn wir erst mal ein kleines Zigarettenpäuschen machen?«

Sabine sackten die Mundwinkel herab, aber Kolbe sprang natürlich sofort auf und schrie erleichtert »Na, endlich!« Martina hasste diese Rauchpausen – der Qualm von Zigaretten war für sie mit das Ekligste, was Menschen einander antun konnten; aber natürlich ging sie mit nach draußen – gerade wenn Zoller im Spiel war, wurde man anschließend viel zu oft mit Entscheidungen und Beschlüssen konfrontiert, überrumpelt eher, die in diesen zehn Minuten gefallen waren.

Schnell versuchte sie herauszufinden, von woher der Wind wehte, als sie in den Hof der Bornheimer Villa traten, in der sie vorübergehend ihre Parteizentrale eingerichtet hatten, und stellte sich so, dass der Rauch der anderen nicht auch noch in ihre Richtung wehte. Erst da fiel ihr auf, dass Sabine Illenberger neuerdings auch wieder rauchte. Sogar dieselbe Marke wie Zoller. Ja, dachte sie, der hat uns alle im Griff. Kriegt von Sabine die Kippen, von Rainer Feuer, von Paula das ganze Herz, ich strahle wahrscheinlich die reinsten Hitzewellen aus, wenn er in meine Nähe kommt – und dass er übernächsten Freitag von uns allen grüne Karten gezeigt kriegt, ist so gut wie sicher. Wie ich das alles satt habe … Vielleicht sollte ich doch wieder zurück an meine Schule gehen. ‚Und – warum tust du’s nicht einfach?’, fragte sie sich selbst. Weil ich verdammt noch mal keinen Bock habe, mich bis fünfundsechzig mit diesen verfluchten Blagen herumzuschlagen. Weil ich, wenn ich noch drei Jahre Bundestag schaffe, quasi ausgesorgt habe. Kreta. Sonne. Meer. Vielleicht zwei, drei zweiwöchige Bildhauerkurse im Jahr – ansonsten das Leben genießen und mich nur noch um meine Katzen kümmern, die lebendigen und die getöpferten …

Martina Esser-Steinecke lehnte sich an die hüfthohe Gartenmauer, und ihr war plötzlich nach Heulen zumute. Vor fünf, sechs Jahren erst waren da auch noch andere Gründe gewesen, aber sie schien sich an die schon nicht mehr so recht erinnern zu können. Du hast dich kaufen lassen, Steinecke. Du bist korrupt. Du bist genauso korrupt wie die, gegen die du mal angetreten bist, als dein Arsch noch neunzehn Kilo leichter war und quer durch eine Tür passte. Und der Esser ist dabei auch auf der Strecke geblieben …

»Und, hast du gestern mit Otto gesprochen?«, fragte Rainer Kolbe Sabine und ignorierte geflissentlich, dass ihr Blick ihn ungespitzt in den Boden rammte, weil sie offensichtlich viel lieber mit Zoller gesprochen und dem weiter ihr Konzept verkauft hätte. Aber freilich konnte sie nicht umhin, ihm zu antworten, und sah währenddessen nur missmutig hinter Zoller her, der zu Martina hinüber schlenderte und sich lässig neben sie auf das Mäuerchen schwang.

»He, Tina«, sagte er und stieß heftigen Rauch aus der Nase, als wüsste er genau, dass sie das gleich aus der Balance brachte – nicht einmal wegen des verhassten Zigarettenrauchs würde sie von ihm abrücken. Viel zu sehr war sie sich bewusst, dass sich sein muskulöser Oberschenkel an ihren Arm drückte. »Du hast mich so komisch angeguckt, eben, da drinnen. Was hast du denn wirklich gedacht?«

Das würd’ ich dir nicht mal erzählen, wenn du mir deine Scheiß-Kippe jetzt ins Ohr stecken würdest, dachte Martina.

 

»Wie meinste’n das?«, fragte sie laut und wandte sich ihm mit einer halben Drehung zu.

»Ach, weiß nicht«, sagte er leichthin. »Irgendwas schien in der Luft zu hängen.« Sie zuckte die Schultern und zog ihre Zöpfe gerade. »Aber was anderes«, sagte Zoller und schlug wie beiläufig ein Bein über das andere, sodass nun wie unabsichtlich sein Knie ihre Brust berührte. »Was machste’n heut’ Abend?« Martinas Atem setzte einen Moment aus. Sie spürte das Knie, die Kraft und die Wärme, und sie spürte, wie rote Flecken von dort ihren Hals hinauf kletterten. Und sie hoffte, dass die nicht zu sehen waren. Aber wieso dann wanderte sein Blick jetzt von ihren Augen dorthin? Und von da zu ihren Lippen, ihrem vollen, breiten Clownsmund, auf den sie – zu Recht – so stolz war?

Oh nein, Steinecke, du wirst jetzt nicht ohnmächtig werden.

»Wieso?«, fragte sie und versuchte zu ignorieren, dass ihre Brust anschwoll, ihr Nippel sich versteifte. Zoller antwortete nicht. Lächelte bloß sein verdammtes, herzerwärmendes, von sich selbst überzeugtes Lächeln und schlug in Zeitlupe die Wimpern hoch, bis er wieder in ihre Augen sah, mit seinen braun-grün gefleckten, permanent zwischen schläfrig und stechend changierenden, die immer auf sein Gegenüber los gingen wie der Kettenhund eines hessischen Bauernhofs. Wo Zoller ja auch herkam. Grüne Augen, Froschnatur, von der Liebe keine Spur, ging Martina ein alter Kinderreim durch den Kopf. Aber sie schluckte. Musste schlucken. Er will mich immer noch. Er will mich noch mal. Und dann sah sie Sabines waidwunden Blick zu ihnen herüber, sah Paulas Tränen, Christas scharfe Falten um den Mundwinkel, Annemaries Wut, Helgas abgekaute Fingernägel, sah sich selbst mit verquollenen Augen in ihrem Bonner Appartement sitzen und sich an einer Flasche Rotwein festhalten und Mon Chéri in sich hineinstopfen. Sie drehte sich ganz zu ihm herum, trat einen halben Schritt zurück und legte ihm beide Hände auf die Oberschenkel. Ziemlich weit oben. Holte einmal kurz und heftig Luft durch die Nase, blickte ihm in die Augen und sagte:

»Mit Verlaub, Herr designierter Parteivorsitzender, Sie sind ein Arschloch!« Und sie sah sich selbst an einer Hafenmole stehen, der Wind peitschte ihr die Zöpfe um die Wangen, und das Horn eines Dampfers tutete, und vor ihr rasselten Ketten und Taue von Pollern, rutschten platschend ins Wasser, und ein Schiff legte ab. Aber es war kein Schiff, es war die weiße Küste Kretas, und sie entfernte sich, langsam, aber unaufhaltsam, in Richtung eines strahlend Ägäis-blauen Horizonts, und lachende Matrosen in blau-weiß gestreiften Hemdchen warfen Ballast ab – tönerne Katzenfiguren in allen Stellungen; und aus dem Inneren des Schiffsbauchs erklang das klägliche Maunzen und Miauen zum Ertrinken verdammter, noch lebender Katzen, und Martina hatte beide Hände um das letzte, schenkeldicke Tau gekrallt, versuchte, die Insel festzuhalten, ihren Traum festzuhalten …

Und jemand neben ihr lachte aus vollem Hals.

Nein, vor ihr. Und dann legten Zollers Hände sich um die ihren und lösten die in seine Oberschenkel gekrallten Finger, und eine der Hände kam hoch, und ein nach Nikotin stinkender Zeigefinger hob ihr Kinn an.

»He«, sagte Zoller, immer noch lachend. »Ich weiß ja nicht, was du dir gedacht hast – aber ich wollte mit dir mal über den Umweltministerposten in Hessen reden. Unter vier Augen.«

Sie wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Aber dann konnte er es doch nicht lassen – sein Scheiß-Casanova-Syndrom eben, und seine Hand wanderte von ihrem Kinn über ihren Hals, legte sich schmeichelnd um ihren Nacken, sein Daumen glitt an ihrem Hals hoch und spielte mit ihrem Ohrläppchen …

»Fick dich«, sagte Martina, drehte sich um und ging ins Haus.

6 – Heinz


Stuttgart, Sonntag, 20. Juli 1986

»Fuck!«, sagte German Heinz zu seinem Spiegelbild. »Ich nehm’ Strom!« Das Spiegelbild grinste ihn an, ein verzerrtes, schiefes Wolfsgrinsen, nicht nur wegen der unzähligen weißen Flecken von Zahnpasta und verkalktem Wasser auf dem Glas und weil der Spiegelschrank in seinem Badezimmer arg schräg, nämlich nur noch an einem Nagel hing. »Ja, ja, ich auch, ha ha. Mächtig unter Strom, mein Lieber. Feines Stöffchen, das uns der liebe Steuerzahler da beschert hat!« Unbewusst rieb Heinz über die verschorften Einstichstellen in seiner Ellbogenbeuge. »Aber ich meine den Meisterkiffer. Wir könnten einen kleinen, unverdächtigen Unfall inszenieren, ein bisschen Strom auf seine Gitarre legen und ihn in die Fußstapfen von Leslie Harvey und John Rostill schicken. Einfach die Erde vom Netzstecker seines Scheiß-Amps abklemmen – und schwups! Ghost riders in the sky! Ha ha! Lacrimosa, dies illa statt Legalize it!« Der Spiegel blieb unbeeindruckt. »Lacrimosa, dies illa …«, sang Heinz übertrieben pathetisch die achtzehnte Strophe von Thomas von Celanos Hymnus vom Jüngsten Gericht. Dann kicherte er. »Kannst ja mal sehen, was die Richter da oben von deiner Kampagne halten, Alter!«

»Na, vielleicht kiffen die auch«, sagte das Spiegelbild, und Heinz setzte sich erschrocken auf die Kloschüssel. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass es damals um einen beschissenen Apfel ging, oder?«

»Baum der Erkenntnis«, murmelte Heinz und spürte, wie ihm kalte Schweißtropfen auf Stirn und Schläfen traten.

»Padah!«, bot ihm der Spiegel einen Tusch. »Erste Erkenntnis: Man muss wissen, welchen Verstärker das Opfer benutzt. Zweitens: Dann muss man dessen Netzkabel für ein paar Minuten unter Kontrolle bringen. Unbeobachtet. Denn drittens: Um den Verstärker herum wimmelt es von Bühnenhelfern, Ordnern, Musikern, Roadies … Viertens: Das Kabel muss wieder an seinen Platz. Fünftens: Das bisschen Strom auf Gitarrensaiten ist zwar unangenehm – aber möglicherweise tödlich nur dann, wenn das Opfer gleichzeitig mit nackter Haut die Saiten berührt und das Mikrophon. Oder barfuß auf einer nassen Bühne steht. Vielleicht kriegt es aber auch bloß kräftig eine gewischt, setzt sich auf seinen Hintern und ist für zwei, drei Minuten ein wenig blass um die Nase und hat ein Weilchen eine taube Lippe. Und wird dann noch gefeiert, weil es trotzdem weiterspielt. Baum der Erkenntnis …!«, giggelte der Spiegel. »Dass ich nicht lache. Die allererste Erkenntnis lautet ja wohl: Nachdenken, Heinzi! Erst denken, dann handeln!«

Dann schwieg der Spiegel. Eine ganze Weile. Aber schließlich entfuhr ihm noch einmal ein schrilles Kichern. »Ach, du Scheiße!«, quiekte er – und der letzte Nagel löste sich aus dem schimmeligen Putz, und der ganze Spiegelschrank rutschte mit Geschepper und Geklirre ins Waschbecken.

Heinz war ziemlich froh, dass er schon auf der Toilettenschüssel saß. Und dass er, obwohl er es sich seit vier Monaten fast täglich vornahm, immer noch nicht den abgebrochenen Klodeckel ersetzt hatte. Und dass er sich nach dem Duschen noch nichts angezogen hatte.

7 – Büb


München, Montag, 21. Juli 1986

»Aber wir dürfen natürlich auch die nackten Tatsachen nicht aus den Augen verlieren«, sagte Dörmann gerade, als wir in Pfundigs Hinterhofbüro ankamen, und war, als er mich erkannt hatte, nach einem nervösen Wimpernflattern bemüht, nicht mehr in meine Richtung zu sehen. Ich hatte nix dagegen. »Es ist euch doch klar, dass uns – wie immer die Chose bis Sonntagabend gelaufen ist, am Montag eine Abrechnung ins Haus steht.« Uns …?

»Hat der denn hier verloren?«, murmelte ich Pfundig ins Ohr, während ich ihn umarmte und ihm ein paar Männergruppenklapse auf den Rücken gab.

Dr. Dr. Dietmar Dörmann hatte mehr Gesichter als Graf Ferrarys berühmte Briefmarkensammlung, wenn auch eventuell nicht ganz so viel Kohle wie jener – allein die Versteigerung dieser Sammlung hatte dem französischen Staat in den Zwanziger Jahren sechs Millionen Goldmark eingebracht.

’Ne Weile her, dass wir miteinander zu tun hatten. Also Dörmann und ich, nicht Ferrary. Er war Brittas Bruder, und was er mit der in ihrer Jugend angestellt hatte, war alles andere als schön. Jedenfalls nicht für sie. Immerhin hatte er mir vor zehn Jahren geholfen, sie aus den Händen ein paar mieser Kidnapper zu befreien.

»Wirst’s net glau’m«, sagte Pfundig und verpasste mir seinerseits gleichzeitig einen Schmatz auf die Wange und einen Leberhaken. Na ja, er war in einer bayrischen Männergruppe gewesen. Mittlerweile war er hauptberuflich Präsident seines eigenen kleinen, aber feinen Musikimperiums – nachdem er in den Siebzigern mit dem Buchen von Auftritten für Sallinger, den ewigen bayrischen Lokalmatador, ein Händchenvoll Geld gemacht hatte, war es ihm gelungen, noch mehr Händchen zu beweisen, indem er eine Truppe von Rock-Komikern aus Österreich für den deutschen Markt entdeckt und so geschickt aufgebaut hatte, dass sie Stammgast in der ZDF-Hitparade waren und er sich seit fünf Jahren den Spaß leisten konnte, nebenher das Booking für Penner’s Radio zu machen; er hatte uns sogar aus unserem beschissenen Bierdeckelvertrag mit der Münchener Konkurrenz rausverhandelt, und dank seiner Rührigkeit, seiner Kontakte vom Feinsten und seiner Loyalität seinen Künstlern gegenüber schien unsere letzte Platte sogar ein bisschen was für uns abzuwerfen – im Land der Neuen Deutschen Welle beileibe keine Selbstverständlichkeit.

»Wieso?«, fragte ich.

»Glei’«, sagte Pfundig, stand auf und klopfte mit einem Kaffeelöffel an seine Tasse. »So, Leit’«, sprach er die ganze Runde an, »jetzt sind wir wohl alle vollzählig, erst mal zumindest. Wie ich eben erfahren hab’, wird der Rothenberger es heut’ wohl nimmer her schaffen. Und ’s Management vom Broth hat a Fax g’schickt, in dem alles drin steht, was sie wie geregelt haben woll’n. Schätze, da wer’ma später noch drauf kommen – des sind neun Seiten.« Geringschätziges Gelächter um den Tisch herum. »Für den Fall, dass ihr euch eh net alle scho’ kennt, werd’ ich mal kurz die Vorstellung übernehmen. Also …«

»Nette Runde«, sprach Veedelnoh aus, was ich gerade dachte, und verzog das Gesicht, als hätte er gerade ein warmes belgisches Kirschbier auf Ex getrunken.

»Wolltest ja unbedingt mit«, erwiderte ich.

»Mh, weil du ja immer gleich alles wieder vergisst, was bei solchen Konferenzen Wichtiges verhandelt wurde, Büb.«

»Pah.«

»Büb!«, ermahnte mich Pfundig. Womit ich dann auch schon, nein, nicht vergessen, aber verpasst hatte, wer die beiden Gestalten am anderen Ende des Tischs waren, die aussahen, als seien sie von einer altbayrischen Trachtengruppe ausgeschickt worden, um mal Bericht zu erstatten, wie es in der Kulturszene Preußens so zuging. Wie sich herausstellte, saßen sie beide im Stadtrat von Scherdorf, der zuständigen Kreisstadt für Pöckensdorf und alles, was dort genehmigungspflichtig war. Falls es dort irgendetwas gab, das nicht genehmigungspflichtig war.

Pfundigs Konferenztisch war ungefähr so groß wie die meisten Bühnen, auf denen wir spielten. Er stand im Innenhof eines Hinterhauses in Haidhausen, umgeben von Hydrokulturbäumchen und überspannt von einem grünlichen Glasdach. Wir alle sahen aus, als säßen wir in einem Riesenaquarium. Auf dem Tisch gab’s ein paar schwere Aschenbecher, Unmengen von niedlichen grünen Wasserfläschchen, ein paar verchromte Thermoskannen und Kaffeegeschirr, Schälchen mit Obst und Keksen, eine Karte vom Kreis Scherdorf und eine Menge Papierkram. Eine Menge Papierkram.

Kein Bier.

Noh und ich guckten uns an und nickten. Siehste, sagten unsere Blicke. Er klappte seinen Rucksack auf und holte ein paar Büchsen heraus. Der kluge Mann baut vor. Zisch.

»Büb«, sagte Pfundig noch einmal.

»Ja, ja, ich hab’s mitbekommen – Herr Janssen vom bayrischen Innenministerium. Prost, Herr Janssen.« Herr Janssen nickte gnädig. Die junge graue Maus neben ihm, die uns die ganze Zeit mit halb offenem Mund angestarrt hatte, sah daraufhin ihn an und begann dann hektisch, Notizen in einen Spiralblock zu kritzeln – exotisch, wenn nicht gar verdächtig aussehende Musiker trinken Bier; Janssen nickt …? Sicher würde sie spätestens morgen Mittag unsere Lebensläufe vor sich liegen haben.

 

»Möchten Sie auch eins, Frollein?«, fragte Veedelnoh, als sie zwischendurch zu ihm hoch schielte. Sie schüttelte so heftig den rot gewordenen Kopf, als hätte er ihr angeboten, gemeinsam Herrn Janssens trotz offensichtlichen Festbügelns leicht verrutschtes Toupet zu bepinkeln, und konzentrierte sich fortan auf ihren Block.

»Xaver ist für’s Catering zuständig«, sagte Pfundig gerade. Ich prostete auch Xaver zu; den kannten wir schon seit Jahren, von unzähligen Festivals. Er grinste mich breit an, breit wahrscheinlich in mehrerer Hinsicht, und grinste noch breiter Veedelnoh an, der ihm ein Bier rüber warf.

Alle sind käuflich im Showgeschäft.

Weiter ging’s im Uhrzeigersinn. Anwesend waren noch die Vertreter dreier großer Plattenfirmen, zweier mächtiger Musikverlage und des Bayrischen Rundfunks, ein Herr von der ARD und je eine Dame von WDR und ZDF, die Vertreter von drei Bands, die man wohl ohne weiteres auf der Top Act-Liste finden würde, der Konzertveranstalter Franjo Homburg und zwei Vertreterinnen der Bundes-Grünen. Ebenfalls aus Scherdorf kam ein Pärchen von der Scherdorfer Anti-Atomkraft-Gruppe – zwei Freaks, die schon seit fünf Jahren in Pöckensdorf ein Anti-Atom-Festival organisierten –, während drei weitere Freaks in Sachen Licht und Ton aus Hamburg, Frankfurt und Köln angereist waren. Wo Dörmann inzwischen wohnte, wusste ich nicht; vielleicht immer noch in seinem Wasserschloss bei Wiesbaden. Aber mehr interessierte mich eigentlich auch, wieso er hier war.

Die Intelligenz ist ja nur das Vorzimmer unserer wahren Persönlichkeit, hatte Manuel Réja schon 1907 in »Die Kunst der Verrückten« geschrieben, seinem Standardwerk der Psychopathologie. Ich wusste nicht, ob Señor Réja noch lebte, aber weiter als in Dörmanns Vorzimmer schien er es bei seinen Recherchen nicht geschafft zu haben – dahinter sah es eher aus wie in Opa Klütschs ehemaligem Werkzeugschuppen: voller Staub und Dreck und Schmiere und Taubenkacke und Spinnweben und toten Fliegen, Asseln und Mäusen, und es stank nach Verwesung, nach Farbresten, Terpentin, Öl, Benzin und alten Gummischläuchen und Fahrradreifen, nach abgestandenem Rauch, feuchtem Mörtel, Schimmel und Schwamm. Nach Schwarzem Mann und nicht nachvollziehbaren Strafmaßnahmen, nach Gemeinheiten, Schrecken, Schmerzen und Tränen.

Klar war Dörmann intelligent, in hohem Maße, aber wahrscheinlich hatte er es auch schon seit dem ersten Kindergartenwettbewerb »Wer malt das schönste Christkind?« auf den Tod nicht ausstehen können, bei irgendetwas Zweiter zu sein, egal was es war. Es ist ja die Sorte Mensch schon schlimm genug, die meint, ständig überall dabei sein und überall und zu jedem Thema mitreden zu müssen – aber wenn jemand dann auch noch an Logorrhoe leidet, der Laberkrankheit, und darüber hinaus von keinem Zweifel beschattet ist, er könne nicht von allen am besten Bescheid wissen, er sei es, der auf jeden Fall und immer recht habe … Ich konnte ihn jedenfalls nicht leiden; von den unappetitlichen Einzelheiten seiner familiären Vergangenheit mal ganz abgesehen.

Aber er war hier und heute so ganz in seinem Element. Irgendeine Arschgeige aus den oberen Stockwerken der Polit-Hierarchie hatte anscheinend auf den letzten Drücker die gloriose Idee gehabt, der Dörmann, der habe doch schon vor ein paar Jahren so hervorragende Arbeit als Organisator der Kasseler Rock gegen Rechts-Festivals geleistet. Und dann noch die zwei Doktortitel – also war er quasi der Mann für ein so heikles Unternehmen wie das Paaf!.

Und wir hatten ihn am Hals.

Einem bereits nach einer halben Stunde ziemlich dicken Hals, und das galt nicht mal nur für mich.

Die Leutchen von der Scherdorfer Festivalgruppe waren sauer, weil ihnen hier offensichtlich etwas aus der Hand genommen wurde, das sie schon fünf Jahre erfolgreich aus eigener Kraft gestemmt hatten.

Die Jungs aus ihrem Stadtrat sahen hier natürlich eine schöne Gelegenheit, ihnen auch künftig ein paar kräftige Knüppel zwischen die Beine werfen zu können. Außerdem war es deren Chance, der bayrischen Landesregierung Parteilinie und Vollzugsfähigkeit zu demonstrieren.

Deren Vertreter Janssen war vor allem bemüht, mit Zähnen und Klauen Landeskompetenzen zu verteidigen und eine ganze Handvoll Schwarzer Peter Richtung Bonn zu schieben. Er ließ sich freilich die Gelegenheit nicht entgehen, die buckelnden Scherdorfer noch eine Nummer kleiner zu stutzen, nach dem Motto »Hättet Ihr diesen Festival-Unsinn schon vor fünf Jahren unterbunden, hätten wir heute nicht solche Probleme …«

Was wiederum die Grünen auf die Palme brachte, denn schließlich sei die ganze WAA doch erst einmal, wenn schon nicht vor allem auf Landesmist, dann doch in jedem Fall auf dem des konservativen Lagers gewachsen, industriefreundlich, wie dieses doch seit jeher sei; und außerdem lebe man schließlich in einer Demokratie, aber wahrscheinlich sei ja gerade das die größte Befürchtung Janssens und seiner Konsorten und Vorgesetzten: Dass das Volk sich langsam und zunehmend seiner Macht bewusst werde, und dass die selbstherrlichen konservativen Parteien bei der nächsten Wahl die Quittung für ihre Ignoranz und Arroganz und so weiter, und so weiter …

Die Jungs von den Musikfirmen interessierte das überwiegend einen feuchten Dreck – wann tritt unser Star auf, wollten sie wissen, und mit wem können wir über eine bessere Position verhandeln? Sie hatten bereits verhackstückt, auf welchem Label die Platte rauskommen würde, und konnten uns sogar schon einen Text vorlesen, der hinten auf dem Cover der Platte – ein Doppelalbum sogar – stehen sollte:

Paaf! Das 5. Anti-WAA-Festival – das größte der deutschen Rockgeschichte. 100.000 Besucher, 1.300 freiwillige Helfer, 600 Journalisten aus 10 Ländern und zirka 600 Musiker, Techniker und andere Aktive hinter der Bühne … Alle arbeiteten ohne irgendeine Gage. Die Erlöse aus dem Verkauf dieses Albums werden dem Widerstand gegen die Wiederaufbereitungsanlage unmittelbar zufließen … Neben Zuteilungen für die Bürgerinitiativen, Prozesskosten und ein Ökohaus in der Oberpfalz werden 10% der Einnahmen für das 6. Paaf!-Festival zurückgestellt. Hoffen wir, dass dies nicht mehr stattfinden muss.

»Und wer kontrolliert das?«, fragte kritisch der Pastor und schaute sich unauffällig um, ob auch alle seinen Mut bewunderten. ‚Dä Pastur‘ wurde der Sänger von Ming Tant aus Köln in Köln genannt – der Kölner ist ziemlich gut im Erfinden von passenden Spitznamen. Dieser war einer von den sehr passenden, weshalb er dem Chef von Ming Tant gewöhnlich ein eher säuerliches Lächeln entlockte.

»Wir«, lächelte der Vertreter der Universum – seiner Plattenfirma – ebenfalls säuerlich, und ich sah schon vor mir, wie aus den zugesagten fünfzehnhundert Ming Tant-T-Shirts nächste Woche auf einmal hundertfünfzig wurden. »Aber ihr habt selbstverständlich jederzeit Einblick in die Abrechnungsunterlagen.«

Dass es über ein paar tausend oder -zigtausend unter der Hand in Frankreich gepresste Alben gar keine Unterlagen geben würde, ließ er unerwähnt. Aber warum soll man auch Musiker mit solchen buchhalterischen Kinkerlitzchen belasten. Weshalb sich der Pastor auch zufrieden zurücklehnte und unter seinem sorgfältig ondulierten Pony wahrscheinlich schon an seiner Berichterstattung im Bandbüro feilte (»Gut, dass ich da war, Jungs – denen hab’ ich ganz schön Feuer unterm Arsch gemacht mit meinen kritischen Fragen!«).

»Apropos Abrechnungsunterlagen«, meldete Xaver sich. »Sind meine Informationen richtig, dass der Reisekostenzuschuss für zwölf Lichtleute viermal so hoch ausfällt wie der für ein zweiundzwanzigköpfiges Cateringpersonal?«

»Wenn, dann zu Recht!«, bellte der Frankfurter Lichtmann. »Meine Leute malochen schließlich rund um die Uhr!«

»Ach ja?«, grinste Xaver. »Fällt unter Maloche auch, dass morgens um vier unser Küchenzelt um zwei Flaschen Osborne erleichtert wird?«

»Wenn, dann allenfalls, um der arbeitenden Bevölkerung die Verdauung deines so genannten Curry-HuhnPnomh Peng zu erleichtern«, kam der Hamburger PA-Verleiher seinem Lichtkollegen zu Hilfe.

»Meinst du das Gericht, von dem jeder Bühnenheini am Nürburgring mindestens vier Portionen haben wollte, weil’s so lecker war?«

»Na ja, lecker schon – aber du hättest vorher erklären können, warum das Peng heißt. Wir mussten uns für backstage nachts noch zwei Klohäuschen aus dem Publikumsbereich organisieren!« Allgemeines Gelächter.