Paaf!

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»Gute Idee«, befand unser Organist nun jedenfalls, und Noh guckte mich verdutzt an – hatte ich das nicht als Witz gemeint? Klar, sagten meine kurz gehobenen Augenbrauen.



»Find’ ich auch«, pflichtete Bruni von hinten bei.

Oh.

Womit die Nummer quasi so gut wie im Programm war – auf Brunis Urteil zu hören hatte sich schon des Öfteren gelohnt, beziehungsweise hatte es sich auch schon mehrmals als Fehler erwiesen, etwas zu spielen, bei dem ihr Daumen nach unten gekippt war.



»Okay. Aber lasst uns zum Programmablauf später kommen«, nahm Emerson seinen Faden wieder auf. »Schätze, das wird unser geringstes Problem sein.«



»Schon gar nicht, wenn ich mein Solo bei

Sonnenschein

 ein bisschen ausbaue«, meinte Noh. »Soviel ich weiß, haben wir nur ’ne halbe Stunde.«



»Fünfundvierzig Minuten«, korrigierte Emerson. »Und wenn du dein Solo ausbaust, spiel’ ich nur schwarze Tasten.«



»Au, super!«, schrie Little Joe. »Kann ich zwei, drei von den weißen haben?« Und strahlte uns im Innenspiegel mit seiner Doppelzahnlücke an.



Zeit, ein neues Bier aufzumachen.





»Fangen wir bei den Fakten an«, machte Emerson weiter den Wortführer. »Was wissen wir über das Festival? Was wissen wir über die WAA? Was wissen wir über Tschernobyl? Was wissen wir über die deutsche Atompolitik? Was …«



»Was müssen wir darüber wissen?«, maulte Noh und spähte angestrengt aus dem Fenster, ob nicht bald das Schild

Ausfahrt Erbelheim – 5 km

 auftauchte.



»Frage eins«, meldete sich Bruni. »Warum spielt ihr auf diesem Festival?«



»Gegenfrage«, sagte Noh. »Warum sollten ausgerechnet wir ausgerechnet dieses auslassen?«



»Nu’ komm, jetzt hör mal auf, so destruktiv zu sein«, sagte ich, und er warf mir einen langen Blick zu, der mich schwer an die Art erinnerte, wie ich früher unseren Klassenprimus betrachtet hatte, einen ziemlichen Streber.



»Genau«, sagte Bruni und kam nach vorne. Sie setzte sich auf den Sitz neben Noh, legte ihren Kopf an seine Brust, streckte ihre makellosen Beine über den Gang hinweg und legte ihre nackten Füße in meinen Schoß. »Werdet mal was konstruktiver. Du kraulst mir ein bisschen den Nacken, und der Büb massiert mir die Füße. Ich bin ein Kind der Savanne, ich komm’ mit den engen Schuhen von euch zivilisierten Weißen noch immer nicht so richtig zurecht.«



»Wie soll der Büb sich auf hochwichtige ernste Themen konzentrieren, wenn er deine Füße massieren muss?«, fragte Noh.



»Er ist Schlagzeuger«, antwortete sie. »Er kann mehrere Dinge gleichzeitig.« Also massierte ich ihr die niedlichen Zehen mit den noch niedlicheren dunkelrot lackierten Zehennägeln, die so winzig waren, dass man sich fragte, wie sie den Nagellack darauf gekriegt hatte, und Noh kraulte ihr den Nacken. Und natürlich schaffte unsere schwarze Prinzessin es wieder mal, der Atmosphäre zwischen uns eine friedlichere Note zu verleihen.



»Wir sind Penner’s Radio«, sagte Noh nach einer Weile besänftigt. »Wir sind Freaks. Wir Freaks haben’s nicht leicht

in diesem unseren Lande

. Wir müssen zusammenhalten.«



»Schon besser«, schnurrte seine Angetraute.



»Wir tingeln seit fuffzehn Jahren durch die Gegend und erzählen den Kids, dass man auch anders leben kann als ihre Alten. Wir machen ihnen Mut, das zu versuchen …«



»Und leben’s ihnen vor«, ergänzte Oblong.



»Und leben’s ihnen vor. Wir wollen echte Demokratie und Toleranz und Frieden auf der Welt und in unserem Land und in unseren Stammkneipen.«



»In jeder Kneipe«, ergänzte ich.



»In jeder Kneipe, jawoll. Wir sind gegen Aufrüstung und Nachrüstung und überhaupt gegen Rüstung, gegen Volkszählung und Kontaktbereichsbeamtenschnüffelei, gegen SDI und CIA und CSU, gegen Diskriminierung von Schwulen und Langhaarigen und Ausländern …«



»Und Frauen«, ergänzte Bruni.



»Und Weibern. Von mir aus. Wir sind gegen den militärisch-industriellen Komplex …«



»Wow!«, machten wir alle.



»… und da der für Atomenergie ist, sind wir auch gegen Atomenergie.«



»Außerdem haben wir

Hiroshima, mon amour

 gesehen«, ergänzte ich.



»Außerdem haben wir

Hiroshima

gesehen. Aber wir haben auch

Das Kettensägenmassaker

 gesehen und sind trotzdem nicht gegen Kettensägen, Herr Klütsch – wie stehen Sie nun dazu?«



»Wenn einer mit ’ner Kettensäge nicht auf seinen Birnbaum, sondern auf mich losgeht, kann ich’s hören. Wenn mir vierhunderttausend Sievert oder Becquerel oder Millirems oder wie die Dinger heißen, von Russland oder Kalkar oder Biblis oder Brokdorf in den Salat fliegen, hör’ ich nix. Ich kann die nicht mal riechen.«



»Gut gegeben, Herr Klütsch. Aber woher gedenken Sie denn in Zukunft den Strom für die Instrumente Ihrer Mitspieler zu nehmen – die Ressourcen fossiler Energie auf diesem Planeten neigen sich dem Ende zu. Oder wollen Sie demnächst ein reines, unverstärktes Perkussionsorchester aufmachen?«



»

Penner’s Omo-Trommel

«, schlug Oblong vor.



»Nix da«, entschied ich. »Wenn ich je eine Percussion-Truppe gründe, wird sie

Kladderadatsch

 heißen.«



»Strom kommt aus der Steckdose«, rief Little Joe nach hinten.



»Wir wissen alle, dass es alternative Energiegewinnungsmöglichkeiten gibt, meine Herren«, ließ ich mich nicht lumpen. »Aber natürlich liegt das Problem hierbei vor allem darin, dass es gesellschaftliche Gruppen gibt …«, hier hob ich meine geballte rechte Faust, »… die industriellen Bonzenschweine zum Beispiel, deren vordringliches Interesse es ist, den exklusiven Zugriff auf Energie und ihre Verteilung zu haben und damit die Kontrolle über Energiepreise.« Jetzt hatte

ich

 mir ein allgemeines »Wow« verdient. »Weshalb die weitere Erforschung schwer kontrollierbarer und vermarktbarer natürlicher Energiequellen wie Sonne, Wind und Wasser von diesen Dumpfbacken auch massiv blockiert wird. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen, Herr 400-Watt-

Marshall

 – über kurz oder lang wird man herausfinden, wie viel Energie ein Meister von einem Schlagwerker, wie ich es bin, bei einem Konzert produziert, die völlig ungenutzt verpufft. Energie, mit der man aber vielleicht drei von Ihren gehörschädigenden Kleiderschränken mit ausreichend Strom versorgen könnte, um auch dem letzten Waldschrat in der letzten Reihe der Mehrzweckhalle Habbelrath die frohe Botschaft vom Zeitalter des Wassermanns, der freien Liebe, des jedermann zugänglichen Haschgifts und des Freibiers für alle zu verkünden und sechsstimmig in die weich gekiffte Birne zu prügeln. Falls Sie ihr Instrument zufällig mal wieder ordentlich gestimmt haben sollten.«



»Apropos freie Liebe«, sagte Bruni. »Das sind nicht mehr meine Füße, die du da massierst.«



»Oh«, sagte ich.



»He«, sagte Noh.



»Ach«, sagte Oblong.



»Ich glaub’, ich bau’ mal einen«, sagte Emerson.





»He, Emmer – wolltest du nicht was besprechen?«, fragte Noh nach ein paar Kilometern in allgemeinem Schweigen. Bruni hatte mir ihre Füße entzogen, sich auf dem Sitz neben ihm zusammengerollt, den Kopf in seinem Schoß, und schlief. Ihr kurzes geblümtes Kleidchen hatte sich bis über ihr Hinterteil geschoben, und sie lag da wie der fleischgewordene Traum jedes

Playboy-

Lesers. Wie einer

meiner

 fleischgewordenen Träume, um ehrlich zu sein. Noh bemerkte meinen versonnenen Blick, schüttelte missbilligend den Kopf und zog das Stöffchen zurecht.



»Spielverderber«, sagte ich.



»Selber«, sagte er.



»Ich?!«



»Ich kann mich grad’ nicht bewegen«, sagte er mit einem Kopfnicken auf die schlafende Prinzessin hin. »Aber mein Bier is’ alle.« Ich stand auf, holte zwei frische aus der Kühlbox und spendierte ihm eins davon. Als hätte ich etwas wieder gut zu machen.



»Was war denn jetzt, Em’?«



»Ihr könnt mich mal«, brummte Emerson.



»He, he«, sagte Oblong und wackelte lüstern grinsend mit den Augenbrauen wie Groucho Marx.



»Fühl dich diskriminiert«, sagte Emerson und produzierte eine Rauchwolke, mit der man eine ganze Schulklasse hätte antörnen können.



»Kann ich jetzt das Radio wieder anmachen?«, fragte Little Joe.






3 – Heinz














Stuttgart, Samstag, 19. Juli 1986







»Herein, wenn’s kein Schneider ist!«, schrie Heinz Gehrmann und kicherte in sich hinein, weil er wusste, wer geklopft beziehungsweise leise wie immer viermal kurz, zweimal lang an die Tür gepocht hatte. Aber Willy Schneidereit hatte sie schon aufgedrückt, langsam, fast schüchtern, wie es seine Art war, gerade so weit wie nötig, und schob sich durch den Spalt ins Zimmer. Dann wurde die Tür grob sperrangelweit aufgestoßen und der dicke Klemens stampfte hinterher.

Dick und Doof

, dachte Heinz, und sein Kichern artete in unkontrollierbares Gegacker aus.



»Schön, dass Sie ihren Spaß haben, Herr Gehrmann«, versuchte Schneidereit die Musik zu übertönen. »Ah – Charlie Parker, oder?

Ornithology?

«



»Nicht schlecht!«, giggelte Heinz. »Aber nur fast – es ist

Night in Tunisia

.« Er saß im Schneidersitz auf seinem ungemachten Bett, den aufgeklappten grauen Saxophonkoffer links neben sich, und polierte das halb auseinander gebaute Instrument in seinem Schoß. Rechts von ihm qualmte ein Joint im Deckel eines Marmeladenglases. Heinz trug eine grüne Turnhose und ein schwarzes T-Shirt, auf dem Frank Zappa mit heruntergelassenen Hosen auf einem Klosett saß. Das Zimmer um das Bett herum sah aus, als hätte sein Bewohner ein paar Flohmarktstände ausgeraubt und die Säcke mit der Beute zur Begutachtung einfach ausgekippt – Kleidungsstücke aller Art, Stoffpuppen, Tonbänder, Platten und Plattencover, ein halbes Fahrrad, Kerzenständer aus Messing und Holz, ein gelbes Umleitungsschild, zwei verschrammte Lederkoffer, aus denen weitere Klamotten quollen, randvolle Aschenbecher, Geschirr mit längst versteinerten oder womöglich schon wieder lebenden Essensresten, eine Wasserpfeife, Zeitschriften, Taschenbücher und Berge von Notenblättern in wildem Durcheinander.

 



Der dicke Klemens stiefelte durch das Chaos wie durch Herbstlaub, quer durch das Zimmer, zu dem Plattenspieler, der auf einer dreibeinigen weißen Kommode voller Brandlöcher stand, das fehlende vierte Bein war durch ein paar Karl-May-Bände ersetzt. Er packte mit einer lässigen Bewegung den Tonarm, ließ die Nadel mit einem hässlichen Kreischen über die Rillen schrammen, brach ihn einfach ab und warf ihn in eine Zimmerecke. Heinzens Gekicher verstummte, sein Kinn klappte herab, aus einem Mundwinkel hing ein Speichelfaden. Für ein paar Sekunden war es mucksmäuschenstill im Raum.



»He!«, schrie er dann. »Seid ihr bekloppt?!« Schneidereit machte eine entschuldigende Geste. Klemens nahm Charlie Parker vom Plattenteller, und schleuderte die Platte wie eine Frisbeescheibe quer durch das Zimmer. Heinz war zu bedröhnt, um schnell genug zu reagieren, die Platte traf ihn an der Stirn und verursachte einen Schnitt, aus dem sofort das Blut hervortrat und ihm die Wange entlang rann. Er wischte sich mit einer Hand darüber, betrachtete ungläubig das Blut daran, schüttelte den Kopf, während sich mit einem Schluchzer sein Mund schloss.



»Mann, ey …«, flüsterte er. Dann trat Angst in seine Augen.



Schneidereit fegte eine fleckige Jeans vom Bett und setzte sich auf das Fußende, wiederholte die entschuldigende Geste.



»Ich glaube, Klemens hat schlecht geschlafen«, sagte er mit seinem üblichen scheuen Lächeln. »Und dann noch diese Ungeduld …«



»Was wollt ihr denn?«, greinte Heinz. »Ich hab’ doch …« Klemens grunzte, zog eine Coltrane-Platte aus ihrem Cover, wog sie abschätzend in der Hand und fixierte den Schnitt auf Heinzens Stirn, stand da und beherrschte bedrohlich den Raum wie ein eben ausgebrochener Gorilla.



»Sie haben arg wenig, Herr Gehrmann«, sagte Schneidereit. »

Wir

 haben arg wenig. Weil Sie anscheinend einiges nicht begriffen haben und bedauerlich wenig kooperativ sind. Das war so nicht abgemacht.«



»Aber …«



»Ich finde es daher nicht verwunderlich, dass Klemens schlechte Laune hat. Und ungeduldig wird.« Zehn Zentimeter über Heinzens Kopf zerschellte Coltrane an einem Schwarz-weiß-Poster, auf dem Heinz in verrauchter Atmosphäre sein Saxophon blies.

The German Heinz

stand in Orange darüber,

Finest Jazz in Rock

darunter. Am unteren Rand war ein weißer Streifen freigelassen worden, auf den mit verschmiertem roten Filzstift

live im Schloßkeller

 gekrakelt war,

Ostermontag 21.00 Uhr, Eintritt frei

. Keine Jahreszahl, aber Heinzens Haare waren auf dem Foto viel dichter und länger als auf seinem blutenden Kopf darunter, und sein Gesicht um einiges runder.



»Schönes Poster. Aber Eintritt frei gibt’s bei uns nicht, mein Junge«, sagte Schneidereit, in einem Ton, als würde er das bedauern. »Wenn wir dich weiter so gut versorgen sollen, musst

du uns

 versorgen. Und das nicht mit monatelangen Ankündigungen und leeren Versprechungen.«



»Aber ich hab’ doch …«, stammelte Heinz und umklammerte das Saxophon in seinem Arm wie einen tröstenden Teddy.



»Ja, du hast. Dass

irgendwas

 im Busch ist.

Irgendwas

 kann ich dir heute auch geben – aber ich möchte bezweifeln, dass du dir das in deine kaputten Venen spritzen möchtest.« Mit überraschend hartem Griff packte er Heinzens linken Fuß und verdrehte ihn. Unter dem Innenknöchel war alles verschorft und zerstochen. Als Schneidereit seinen Daumen auf die geschwollene Stelle drückte, schrie Heinz auf; Tränen schossen ihm in die Augen.



»Nicht! Bitte nicht!«, heulte er.



»Wollen die ihn auftreten lassen?«, fragte Schneidereit, seine Stimme so sanft, dass Heinz sie mit dem quälenden Daumen nicht in Verbindung bringen konnte. »Will er auftreten? Wird er? Und wenn ja, wann?« Heinz wand sich vor Schmerzen und verschluckte den Rotz, der aus seiner Nase troff.



»Ja!«, stöhnte er. »Ja! Am Samstag! Als Top Act!« Der Druck ließ nach, der Daumen verschwand. Schneidereit fischte ein säuberlich gefaltetes weißes Taschentuch aus der Tasche seines billigen blauen Regenmantels, das gleiche Modell wie der von Klemens, allerdings fünf bis sechs Nummern kleiner, wischte sich die Finger ab und ließ das Tuch angeekelt auf den Fuß fallen. Dann griff er in eine Innentasche und zauberte ein Plastiktütchen mit weißem Pulver hervor. Wäre es Zucker gewesen, hätte es für eine ganze Kanne Kaffee gereicht.



Es war kein Zucker.



Heinz richtete sich auf, seine Augen begannen zu glänzen, in seinem Gesicht bildeten sich rote Flecken. Bittend streckte er die Hand nach dem Pulver aus. Schneidereit entzog es ihm, wedelte damit herum und lächelte sein bekümmertes Lächeln.



»Wird er nicht«, sagte er. »Nicht, wenn du das hier haben willst. Und mehr.

Viel

 mehr.« Er bückte sich, hob eine klebrige Ravioli-Dose auf, die neben dem Bett lag, riss mit einem sorgfältig manikürten Fingernagel ein Loch in das Beutelchen und ließ das Pulver langsam in die Soßenreste in der Dose rieseln.



»Nein …!«, jammerte Heinz. »Aber ich kann den doch nicht hindern …«



»Doch«, sagte Schneidereit. »Kannst du. Wirst du. Wird Zeit, dass du dir dein Stöffchen mal ernsthaft verdienst.«



»Ja, wie denn?«



»Das werden wir dir noch rechtzeitig mitteilen, Junge.« Schneidereit drehte das Beutelchen um, faltete es einmal zusammen. Das Rieseln hörte auf, er machte Anstalten, das Päckchen wieder in seine Tasche zu stecken.



»Nein!«, machte Heinz. »Was soll ich tun?« Schneidereit stand auf und wischte seinen Mantel ab, als habe er auf einer nassen Bank gesessen.



»Er wird nicht auftreten«, sagte er. »Dort nicht. Und nirgendwo mehr.« Heinz stöhnte. »Und du wirst unser verlängerter Arm sein. Und deinem Land ausnahmsweise mal nicht auf der Tasche liegen, sondern ihm einen großen, patriotischen Dienst erweisen.« Schneidereit ließ das Beutelchen auf das Bett fallen. »Und du wirst keine weitere Chance bekommen, merk dir das.« Er ging zur Tür und öffnete sie. Erst da fragte sich Heinz, wie sie denn überhaupt in die Wohnung gekommen waren – seine beiden Wohngenossen waren gar nicht da, und ein Klingeln hatte er auch nicht gehört.



Der dicke Klemens machte drei Schritte, bis seine Knie an das Fußende des Betts stießen, holte eine Dose Cola aus seiner Manteltasche, öffnete sie und trank einen langen Schluck.



»Aaah!«, machte er und rülpste. »Merk dir das gut!« Dann trank er noch einen Schluck. »Schönes Instrument«, sagte er noch und kippte grinsend den Rest der Cola über das Saxophon.



»Oh, nein!«, jaulte Heinz auf. »Meine Klappen! Du Scheißer!«



»Dz, dz!«, machte Klemens, warf die leere Dose in eine Ecke und ging an Schneidereit vorbei hinaus.



»Mann! Wisst ihr, was das für eine Scheiß-Arbeit ist, die Klappen jetzt wieder sauber zu kriegen?! Ich muss …« Jedes einzelne Klappenpolster vorsichtig mit warmer Seifenlauge reinigen, dachte er weinerlich. Und selbst das garantierte nicht, dass anschließend jeder Ton so aus dem Instrument heraus kam, wie er ihn beim Hineinblasen gemeint hatte. Besser und sicherer wäre, alle Polster gegen neue auszutauschen – aber das war ein teurer Spaß und würde beim einzigen Spezialisten der Stadt wahrscheinlich wieder Wochen dauern. »Das darf nich’ wahr sein!«, jammerte er. »Scheiße, verdammte!«



Schneidereit kam noch einmal zurück und warf Heinz ein weiteres Plastikbeutelchen in den nassen Schoß.



»Hier«, sagte er väterlich, »verscherbel das und kauf dir einen neuen Plattenspieler.« Dann ging auch er. Die Tür blieb offen.



Als draußen die Wohnungstür zuknallte, sprang Heinz auf, warf seine Zimmertür zu und schnappte sich die beiden Beutel.



»Wow!«, sagte er. »Das sind ja mindestens …« Er feuchtete seinen Zeigefinger an, tupfte in das offene Päckchen hinein, leckte das weiße Pulver vom Finger und verdrehte die Augen. »Hey! Vom Allerfeinsten! Richtig gutes Stöffchen!« Er warf sich wieder auf das Bett und kramte eine verschrammte Alt-Blockflöte aus dem Saxophonkoffer. Schraubte sie auf und entnahm ihr eine Einwegspritze. »‚Dienst am Vaterland’!«, brummte er. »Arschlöcher!« Unter dem Kopfkissen fand er einen schwarz angelaufenen Esslöffel. Er zündete eine Kerze neben dem Bett an, spuckte in den Löffel und träufelte ein wenig von dem Heroin in die Spucke. Dann hielt er das Ganze über die Kerzenflamme, bis Dampf aufstieg und das Pulver sich zischend verflüssigte. Mit einem verträumten Lächeln zog er die Flüssigkeit auf die Spritze auf, ließ sie eine Minute abkühlen und suchte dann, das Thema von

Night In Tunisia

 pfeifend, an seinem Fußknöchel eine heile Stelle. »Dienst am Vaterland!«, kicherte er. »Auf den verfickten Verfassungsschutz!«, rief er, als er die Nadel in eine Vene jagte. »Auf dieses unser Land!«



Er lehnte sich zurück, schloss die Augen, lauschte mit weit offenem Mund der Musik in seinem Kopf und dem rauschenden Weg der Wunderdroge durch seine Blutbahn.



»Aaah«, seufzte er. »Was ’n Stöffchen! Dafür räum’ ich euch die ganze verkackte Rasta-Bande aus dem Weg …! Verfasster Verfickungsschutz!«



Kichernd schlief er ein, die Nadel noch im Fuß. Ein schmaler Blutfaden rann aus der Einstichstelle und gerann an seiner Ferse.






4 – Büb














Erbelheim, Samstag, 19. Juli 1986







Das Erbelheimer

JuKuZ

 entpuppte sich als ein Jugend- und Kulturzentrum, in dem wir schon zum vierten oder fünften Mal waren in unserer tollen Karriere. Beim ersten Mal hatten wir uns für siebzehn Zahlende den Arsch abgespielt, beim zweiten Mal waren’s deswegen neunzig gewesen, und seitdem platzte der Laden jedes Mal aus allen Nähten. Mag sich gut anhören, aber mehr als hundertfünfzig passten gar nicht rein.



Ja, warum spielt ihr denn nicht in ’ner größeren Halle?

 werden wir deswegen öfters gefragt. Hat einerseits was für sich, tun ja alle, aber andererseits macht’s nicht wirklich Spaß, in der genuin deutschen Mehrzweckhalle zu spielen, wo es noch nach der letzten Viehauktion oder Dackelausstellung riecht und nach dem Schweiß von Freizeitringern, Fingerhaklern und Skatmeistern, wo die Bühnendeko noch vom letzten Krippenspiel oder Feuerwehrball oder einer Aufführung von

Grüß Gott, Frau Wirtin!

 stammt. Und wo die heimischen Amateurkonzertveranstalter den Hausmeister mit einer Flasche Asbach bestechen müssen, damit er gnädig die Turnmatten in den Geräteraum schaffen lässt und erlaubt, dass für die Bühnenbeleuchtung der zweite Sicherungskasten geöffnet wird. Abgesehen von den wichtig tuenden Jungs von der Freiwilligen Feuerwehr, deren Anwesenheit dort Pflicht ist, und die einem am liebsten für jede Zigarette, die sie hinter der Bühne genehmigen, fünf Mark Schutzgebühr abknöpfen würden. Und abgesehen von der gewöhnungsbedürftigen Akustik. Und von Vertragsgastronomen, die nicht verstehen können oder wollen, dass nicht jeder Musiker es generös findet, auf die Frage »Wie viele seid’s ihr denn?« und die Antwort »Sieben« gnädig sieben Bierbons in die Hand gedrückt zu bekommen.



Und schließlich – ist es nicht genau das, was die Wirtschaft dieses Landes, der ganzen Welt, über kurz oder lang zugrunde richten wird, dieses Immer mehr, immer größer, immer noch mehr? Dieses ewige Füttern der unersättlichen Götter Umsatz, Profit und Wachstum, Wachstum, Wachstum?



»Ich hab’ zehn bis fuffzig Gäste am Abend«, pflegte Ferdi, unser Kölner Stammwirt, auf entsprechende Angebote zu sagen, »da kann ich prima von leben. Einmal alle drei Jahre fahr’ ich sogar in Urlaub. Warum soll ich mir da eine zweite Kneipe ans Bein binden? ’nen Haufen Angestellte kontrollieren müssen? Nur noch die Hälfte meiner Gäste mit Namen kennen? Womit ich dann schon weit vorne wäre, denn von denen kennt mich auch nur höchstens die Hälfte. Vergesst es, Kollegen!«



Recht hat er. Und wir sind Penner’s Radio, wir scheißen auf Umsatz- und Profitmaximierung. Spielen wir eben alle zwei Jahre in den

JuKuZ

 dieser Welt, und ein treues Publikum dankt es uns, die Hütte ist immer voll und die Stimmung, wie sie sein soll. Und unser Spritgeld und unser Bier können wir auch bezahlen. Das können wir auch die nächsten zwanzig Jahre noch machen, wenn’s von manchen gerade in die Stadthallendimension aufgestiegenen Kollegen längst heißt »Trio, Trio … Wer war das noch mal?«

 



Weswegen wir auch heute einen netten Abend hatten. Es mussten zwar dreimal die Bullen kommen und die Fenster und Türen schließen, die irgendjemand immer wieder aufgerissen hatte, um von den angenehmen einunddreißig Grad draußen eine kühlende Brise in den auf fünfundvierzig Grad dampfenden Saal zu locken, und einmal musste Little Joe seinen Platz am Mischpult für drei Minuten einer sommersprossigen Vierzehnjährigen überlassen, um eine Schlägerei zwischen den Obererbelheimer Hippies und den Niedererbelheimer Mopedrockern in geordnete Bahnen zu lenken – aber ansonsten: Alles paletti. Drei Zugaben und zwölf verkaufte und signierte Platten, schon wieder drei Penner’s-T-Shirts, und in der Garderobe bei der Abrechnung gestand uns der Freak vom Kulturverein sogar, dass es ihnen gelungen sei, den örtlichen Nähmaschinenfabrikanten als Sponsor zu gewinnen – er könne uns, »is’ das nich’ irre?«, einen Hunni drauflegen.

Rock’n’Roll …



Verdächtig gut gelaufen, war Bandkonsens, und prompt wurden wir von einer Abordnung der AKW-Gruppe Hinterniedererbelheim umzingelt, die der Meinung war, wir seien aber absolut die absolut richtige Kapelle für ihr eigenes kleines Anti-Atom-Open-Air, aber absolut, und ob wir nicht, wo wir doch sowieso in der Gegend seien, am Samstag nach dem

Paaf!

 …? Ein Soli-Benefiz? Und ich möchte gar nicht wissen, welche Rolle es spielte, dass einer ihrer Sprecher eine Sprecherin war, mit rabenschwarzen Haaren bis zu den ansehnlichen Hüftknochen, Augen wie Waldmeister-Bowle, einem Lächeln zum Niederknien und der Information, wir könnten dann anschließend alle bequem auf dem Bauernhof ihrer Frauen-WG

Pocahontas

 übernachten – auf jeden Fall hatte irgendeiner von uns schon zugesagt, bevor irgendein anderer zu bedenken geben konnte, dass wir am Freitag vor diesem Samstag einen Gig in der Nähe von Emden hatten; natürlich auch ein Benefiz-Konzert, in diesem Fall für den Erhalt des dortigen Autonomen Jugendzentrums. Oder vielleicht war das auch die Veranstaltung für die Anschaffung eines neuen Backofens für das anarchistische Bäckerkollektiv

Brot Front!

 – mir kommen da gelegentlich schon mal Sachen durcheinander.



Jedenfalls reichte weder das, die spontane Zusage wieder rückgängig zu machen, noch die Aussicht auf eine Fahrt von über sechshundert Kilometern von einem unbezahlten Gig zum nächsten, sondern im Gegenteil musste diese Zusage ein wenig begossen werden, und dann wurde schnell noch ein Sonderkasten Bier herbeigeschafft, damit wir mit den Hinterniedererbelheimern, insbesondere ihrer Sprecherin, noch ein paar Details zum Anliegen ihrer Gruppe, ihrer Veranstaltung, unserer Rolle dabei und nicht zuletzt bezüglich ihrer ziemlich interessant klingenden

Pocahontas

-WG bekakeln konnten.



Don’t judge a book by its cover!

* Hatte uns Frank’n’Furter diese Warnung nicht schon vor über zehn Jahren mit auf den Weg gegeben? Miss Pocahontas entpuppte sich als wandelndes Anti-Atom-Lexikon. Ein überaus engagiertes Lexikon. Ein halbes Jahr Knast mit nichts als zehn Jahrgängen

Öko-Test

 im Bücherregal würde das Wissen, mit dem sie uns bombardierte, nicht einholen können.



»Überall sind Jodtabletten knapp geworden! Dabei helfen die gegen die langfristigen Folgen eines Reaktorunfalls ebenso wenig wie der Verzicht auf frische Milch oder besonders gründliches Gemüse-Waschen! Wir werden es nicht erleben, dass es keine Spuren mehr von dieser radioaktiven Verseuchung unserer Erde gibt! In hundert Jahren nicht! Da kann die Bild-Zeitung noch so fettgedruckt Entwarnung geben! Da kann der Schäuble uns noch so vollmundig ‚völlig unbegründete Hysterie’ vorwerfen! Die verarschen uns doch nur!«



»Echt?«, fragte Veedelnoh.



»Blödmann«, sagte Bruni.



»Ja, Mensch, schau doch mal!«, sagte Pocahontas. »Die geben Besänftigungsentwarnungen raus, obwohl sie noch nicht mal zuverlässige Daten zur Beurteilung der ganzen Situation haben! In den ersten Tagen nach dem GAU war doch die Belastung durch die gefährlichen Substanzen, die aus der Ukraine zu uns rüber kamen – die deshalb so gefährlich sind, weil sie so langlebig sind – überhaupt noch nicht gemessen! Cäsium 137 zum Beispiel! Cäsium 134! Strontium! Plutonium!«



»Dynamo Hum«, brummte Noh.



»Blödmann«, sagte Bruni. Aber unser Lexikon ließ sich nicht beirren.



»In den ersten Tagen im Mai wurde in Hessen eine Belastung allein durch Jod 131 von fast dreitausend Becquerel pro Kubikmeter Luft registriert! Schon bei erwachsenen Menschen eine Belastung der Schilddrüse von zweiundsechzig Millirem! Und erst bei Kindern! Da ist es mehr als das Doppelte! Und normalerweise sind, nach gesetzlichen Grenzwerten, in einem gesamten Jahr nicht mehr als neunzig Millirem erlaubt!« Ich beugte mich zu Bruni rüber.



»Ob sie auch Sätze ohne Ausrufezeichen kann?«



»Du auch«, sagte sie.



»Weißt du überhaupt, was für eine Halbwertzeit Cäsium hat?«, fragte Pocahontas Veedelnoh.



»Ja«, raunte Bruni und grinste mich von der Seite an. Ich musste lachen, als mir dämmerte, dass sie nicht Halbwertzeiten, sondern Ausrufezeichen meinte, legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter und drückte sie. Für einen winzig kleinen Moment neigte sie ihr Köpfchen zur Seite und drückte ihre Wange an meinen Handrücken, und ich wunderte mich, wie Leid es mir tat, dass der Moment so schnell vorbei war.



»Ich hab’ nie begriffen, was ’ne Halbwertzeit überhaupt ist«, sagte Little Joe, reichte Pocahontas seine Bierflasche und beobachtete entzückt, wie sie, ohne mit einer der schönen schwarzen Wimpern zu zucken, ihre Bilderbuchlippen darüber stülpte und einen Schluck nahm.



»Danke«, sagte sie und gab ihm die Flasche zurück. »Das ist ganz einfach«, hub sie an, anscheinend ohne zu bemerken, dass er mit halb offenem Mund versonnen auf den Flaschenhals vor sich starrte, als wolle er den nächsten Schluck noch hinauszögern wie ein besonders leckeres Dessert. »Halbwertzeit heißt …«



»Das heißt nicht Halbwertzeit, sondern Sperrstund’«, sagte der Obersozialarbeiter des

JuKuZ

 und rasselte ostentativ mit einem schweren Schlüsselbund. »Müsst ihr nicht eure Anlage noch einladen?«





»Mann, ich weiß auch nich’!«, stöhnte Little Joe, als wir nach der Schlepperei nebeneinander auf dem Männerklo standen, und tippte ein paar Mal seinen Schädel gegen die Wand. »Mein Kopp sagt: Wat ’ne Krampfhenne! Und mein Köpfchen sagt: Wat ’n Geschoss! Auf wen soll ich hören, Büb?« Ich starrte auf die kniehohe, gelb-braun geflieste Pinkelrinne vor mir, versuchte mich zu erinnern, warum ich hergekommen war – die vielen Autobahnkilometer machen müde –, und dachte darüber nach.



»Büb?«



»Ja?«



»Kommt da noch wat?«



»Hä?«



»Auf wen ich hören soll?!«



»Pocahontas«, sagte ich. Jetzt war er dran:



»Hä?«



»Liegt doch nahe: Auf den alten Indianer hören.«



»Auf welchen?«



»Weiß nicht, wie er heißt.« Ich pinkelte ein bisschen, zog meinen Reißverschluss wieder hoch und wollte gehen.



»He!«, schrie Little Joe. »Und? Wat sagt der?«



»›Meine Augen tun weh, wenn ich sie aufmache‹, sagt der. ›Und sie tun weh, wenn ich sie zumache. Die ganze Nacht weiß ich nicht, was ich tun soll. Deshalb mache ich sie ständig auf und zu.‹, sagt der.« Unser Roadie, Mixer, Fahrer, Bodyguard und Buchhalter starrte mich mit offenem Mund an, in die Lücke zwischen seinen oberen Zähnen hätten gut drei Fragezeichen gepasst. Dann grinste er sein Hoss-Cartwright-Grinsen, holte mächtig aus – und legte mir sanft eine Pranke auf die Schulter.



»Bist ’n echter Freund, Büb«, sagte er.



Schade für ihn, dass das Geschoss und ihre Mitstreiter inzwischen beschlossen hatten, gleich nach Hause zu fahren.



Vielleicht.



Schade, meine ich mit ‚vielleicht’.



Es stellte sich heraus, dass sie sich ziemlich enttäuscht und spürbar weniger herzlich so schnell verabschiedet hatten – Bruni hatte Veedelnoh und den anderen Penner’s kurz klargemacht, was für eine Schnapsidee es sei, diesen Benefiz-Gi