Buch lesen: «Stalingrad - Die stillen Helden», Seite 5

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TEIL 2
Aufmarsch der 6. Armee in der Steppe im großen Donbogen

Der Vormarsch auf Stalingrad erfolgte aus zwei Richtungen: der größte Teil der 6. Armee aus der Steppe im großen Donbogen und von von Süden her im Verbund mit Teilen der 4. Panzer-Armee die 14. Panzer-Division, die 24. Panzer-Division, die 29. Infanterie-Division, die 94. Infanterie-Division und die 371. Infanterie-Division, nachdem sie nach einem Marsch in den Süden dort den Don überquerten und dann nach einem Schwenk Richtung Osten aus der Kalmückensteppe in Richtung Norden dem Südteil von Stalingrad zustrebten.

Schneller Angriff auf Stalingrad

Der schnelle Vormarsch vom Donbogen aus auf die Stadt Stalingrad zu erfolgte am Morgen des 24. August 1942 durch das XIV. Panzer-Korps unter General Hube mit der 3. Infanterie-Division, der 60. Infanterie-Division (mot.) und der 16. Panzer-Division. Die Sanitäts-Kompanien der 16. P.D. waren in Münster aufgestellt worden. Erster Chef der 1 San. Kp. war Oberstabsarzt Dr. Paul Suchfort47.

Dr. Erwin Paal: „Am 25. August 1939 erhielt ich gegen 23 Uhr meinen Einberufungsbefehl zum 26.8.1939 auf dem Gelände des Missionsklosters Münster-Hiltrup. Nach drei Tagen rückten die Einheiten der 16. Infanteriedivision und damit auch die 1. SanKp 1/16 aus den westfälischen Garnisonen und Aufstellungs-Orten. Nachdem die Truppe an der deutsch-luxemburgischen Grenze die Einsatzorte erkundet hatte, begann auch bei der 1. San.-Kompanie ein harter Ausbildungsdienst. Jeder Mann, ob Soldat oder Sanitäter, wurde in allen Aufgaben des Sanitätsdienstes unterrichtet und immer wieder geschult. Jeder Handgriff mußte im Schlaf gekonnt sein, gleichgültig an welcher Stelle der Einsatz des Einzelnen erfolgte. Ein großer Vorteil war der Umstand, daß fast alle Handwerksberufe planmäßig vorgemerkt waren. Maurer, Ofensetzer, Schreiner, Wagenbauer, Friseur, Laborant, Metzger, Koch – auch Diät –, Schuster und Schneider waren unermüdlich im Einsatz.“ Im August 1942 waren die Sanitäts-Kompanien für den schnellen Angriff auf Stalingrad bereit. Anfang August lag der Hauptverbandplatz der 1. San.Kp. im großen Donbogen bei Arshanowskij Ossipowskij, danach in Jerossejewo und anschließend in Jewessejew, an der Straße nach Kalatsch; der HVP der 2. San.Kp. lag in Ssuchanowslij an der Liska.

Dr. Gerlach: „So brauste die 16. Panzerdivision am 23. August 1942 vom Don über die Steppe in breiter Keilform in Richtung Stalingrad, rechts und links von der 3. und der 60. Infanteriedivision geschützt, […] durch die Sicherungsketten der Russen brach, nach hartem Gefecht den Tatarengraben überwand und als erste Stalingrad im Norden und die Wolga erreichte. Zu diesem Unternehmen war vom Divisionsarzt eine Op-Gruppe der 2. Sanitätskompanie unter Führung von Stabsarzt Dr. Weber eingesetzt worden, die sich als völlig ausreichend für diesen Vorstoß erwies.“48

Chef der 2. Sanitäts-Kompanie war Dr. Schattenberg; weitere Ärzte waren als Internist Oberarzt Dr. Franz Sprafke49 und kurzzeitig von Mitte September bis Anfang November 1942 Unterarzt Dr. Hubert Boeckeler50 als Chirurg. Abteilungsarzt seit August 1942 war Unterarzt Dr. Kimmel51; Zahnärzte waren Dr. Jan Dehling52 und Gerhard Becker53.

Die Op-Gruppe Weber richtete sich nach den ersten Kampftagen – und nachdem sich die Division nördlich von Stalingrad in der Steppe eingeigelt hatte und in heftige Abwehrkämpfe mit den Russen verwikkelt war – etwa 300 Meter vom Divisionsgefechtsstand als vorgeschobener Hauptverbandplatz ein.

Jedenfalls wurde unsere Op-Gruppe allen Anforderungen gerecht; wir konnten außerdem durch mehrmalige Räumung mit KrKw54 unter Panzerbegleitschutz Verwundete in die Feldlazarette am Don verlegen, um Platz zu schaffen. Ergänzungen an Sanitätspersonal und Material, gestellt durch die zwei motorisierten Sanitätskompanien, die ihren Standort in Orten am Don hatten, wurden auf diese Weise wieder in die Igelstellung hineingebracht. Später, als die 6. Armee heran war und der Don-Wolga-Korridor genügend verbreitert war, verlief der Rücktransport der Verwundeten reibungslos. Man konnte dann dem bewährten Prinzip wieder folgen: erst transportieren und dort operieren, wo der Verwundete Aussicht hatte, länger bleiben zu können.“

Dr. Weber: „So nahmen wir auch am Vormarsch vom Don zur Wolga teil. Als ich von der Division den Befehl bekam, mich am 23. August 1942 mit meiner Operationsgruppe im Dongebiet einzufinden, wussten wir, dass am nächsten Morgen ein großer Tag für unsere Division hereinbrach. Sie hatte den Auftrag, als Panzerspitze den Vormarsch zwischen Don und Wolga auf Stalingrad durchzuführen. Auf dem westlichen Ufer des Don wartete ich mit meiner Gruppe auf den Einsatz und den Marsch über die Donbrücke55. Schließlich war es soweit: Hier und da gab es Granateinschläge, oder es fielen Bomben, die die Russen auf unsere Marschgruppe abwarfen. Es war noch tiefe Nacht; die Brücke wurde ohne Zwischenfall überquert, und wir setzten uns auf dem anderen Ufer sogleich weiter in Marsch. Die Sonne kam heraus; es war ein herrlicher Sonnentag, an dem sich die Kolonne über die Steppe in Richtung zur Wolga hin bewegte. Die 16. Panzerdivision fuhr als Spitze, flankiert links und rechts von der motorisierten 3. und der 60. Infanteriedivision.

Der Vormarsch gestaltete sich wie auf einem Paradeplatz. Nach Überwindung und Ausbruch aus dem Brückenkopf am Don gab es keine Feindeinwirkungen. Die Steppe brannte hier und da, hervorgerufen durch unsere Schlachtflieger, die 20 Meter über uns auf jeden verdächtigen Heuschober oder andere Objekte ihre Munitionsgarben mit Brandmunition abfeuerten. Verwundete fielen nicht an. Erst gegen Mittag, als wir uns schon der Stadt Stalingrad näherten, wurde der Widerstand der Russen härter. Ein stärkeres Artilleriefeuer wurde auf uns gerichtet, so daß auch einige Verwundete anfielen, die rasch versorgt und in die Krankenwagen verladen wurden, damit sie später operiert werden konnten.

Am frühen Nachmittag erreichten wir im Norden von Stalingrad die Höhe und sahen zum ersten Mal die Häuser der Stadt und die Wolga vor uns liegen. Es war ein imponierender Anblick, da die Sonne den Fluß und die Stadt erleuchtete, so daß sich die Wolga als glitzerndes Band durch die Landschaft zog. Wir bezogen eine Balka56 an einer Höhe im Norden von Stalingrad, fuhren unsere Operationswagen und ebenfalls die anderen Fahrzeuge in die Schlucht hinein, die eine Länge von etwa 150 Meter hatte. Der Operationswagen wurde sofort fertiggemacht, so daß wir uns bereits nach kurzer Pause wieder der Versorgung und Operation der Verwundeten widmen konnten.

Wir ahnten an diesem Tage nicht, daß wir hier in dieser Schlucht einige Monate verbringen sollten! Der Vormarsch der 16. Panzerdivision war so schnell erfolgt, daß die anderen beiden Infanteriedivisionen, die 3. und die 60., nicht mitgekommen waren, so daß wir uns in der Nacht am Nordrand von Stalingrad einigeln mußten. Ich wußte aus Erfahrung, daß wir bei unseren Panzern bestens aufgehoben waren, wenn wir im Kern des Igels lagen. So begaben wir uns zur Ruhe, nachdem alle Verwundeten versorgt und in Zelten untergebracht worden waren.

In aller Frühe weckten uns heftiges Artilleriefeuer und hoher Gefechtslärm aus dem Norden. Der Russe hatte jetzt unseren Durchbruch und unsere Situation richtig wahrgenommen und versuchte, unsere Panzerdivision in ihrer Igelstellung anzugreifen und zu vertreiben. Die Lage für die Division war sehr ernst, da wir keinen Rücktransport durch den geplanten Korridor durchführen konnten. Die 3. und die 60. Infanteriedivision waren noch nicht in den Stellungen eingetroffen, die sie beziehen sollten. Das waren kritische Tage für unsere Einheiten, die sie bei Beginn der Schlacht nicht vorausgesehen hatten.


Generaloberst Hans Hube

General Hube, unser Divisionskommandeur, kam am zweiten Tag zu mir auf den Verbandplatz und fragte mich: ‚Doktor, wie viele Verwundete hatten Sie?‘ Bis zu diesem Zeitpunkt betrugen die Verluste an Verwundeten schätzungsweise 60 bis 70 Mann. Die Unterbringung war nur in Zelten möglich, aber bei den Kämpfen, die in den nächsten Tagen auf uns zukommen sollten, vermehrte sich die Zahl der Verwundeten auf 150, und noch immer gab es keine Möglichkeit, sie zu rückwärtigen Diensten abzutransportieren.

Endlich, am fünften Tag nach unserem Vorstoß und dem Aufbrechen unseres Igels im Norden von Stalingrad, war es schließlich soweit, daß wir unsere Verletzten abtransportieren konnten. Dazu wurden alle Krankenkraftwagen benutzt, die zur Verfügung standen, und gleichzeitig auch alle LKW, alle Transportwagen und alle Munitionswagen, die unsere Verwundeten zu den Auffangstellungen unserer Division bei meiner Sanitätskompanie am Don mitnahmen. Die Kolonne wurde von Panzern begleitet, so daß eventuelle Zwischenfälle von diesen bereinigt werden konnten. Inzwischen hatten die 3. und die 60. I.D. (mot.) ebenfalls ihre neuen Stellungen im Norden des Korridors bezogen, so daß der Transport zwischen Don und Wolga jetzt gewährleistet war, abgesehen von einigen Einbrüchen, die von den Russen versucht wurden.“

Der Hauptverbandplatz der 2. San.Kp. lag am 28. August genau an Punkt 134, sechs Kilometer südwestlich von Jesowka, einen Tag später bei Rynok, drei Kilometer nördlich von Orlowka, am 2. September in Werchnaja.

Dr. Gerlach: „Obwohl die Division reichlich durch die vorangegangenen Kämpfe mitgenommen und erschöpft war, war es infolge des immer noch heftig tobenden Kampfes um Stalingrad durchaus nicht sicher, ob und wann wir einmal für eine Ruhepause herausgezogen würden. Es war durchaus möglich, daß wir auch über Winter in der Stellung bleiben mußten. Nachdem wir im September noch in einfachen Erdlöchern gehaust hatten, immer in der Hoffnung, bald wieder vorwärts marschieren zu können, waren wir nun doch immer tiefer in die Erde gegangen. Nicht nur, daß uns in unseren Erdlöchern nachts die Feldmäuse übers Gesicht liefen, kamen nachts immer mehr sogenannte ‚Nähmaschinen‘, die, wie wir sagten, ihre kleinen, aber unangenehmen Bomben mit der ‚Kohlenschaufel‘ auf unseren Gefechtsstand und die Umgebung warfen. So wurden immer wieder Leute verwundet, die nachts für kurze Zeit den Bunker zum Austreten verlassen hatten, und auch mancher Bunker wurde getroffen. Diese Flugzeuge erschienen mit der Dunkelheit und verschwanden erst wieder in der Morgendämmerung, wenn unsere Jäger sie vertrieben. Ich atmete jedes Mal am Morgen auf, wenn ich bei meiner Op-Gruppe feststellen konnte, daß in der Nacht nichts passiert war.

Außerdem waren eines Morgens plötzlich fünf russische Panzer vor unserem Gefechtsstand erschienen, die zwar nicht lange zu leben hatten, aber immerhin auch unseren Verbandplatz beschossen hatten, so daß Stabsarzt Dr. Weber mit seinen Männern zum Schutze der Verwundeten in Rundumverteidigung gegangen war. Aus all diesen Gründen wurden ein tieferer und größerer Erdbunker für die Verwundeten gebaut, Öfen hergerichtet und Holz aus den eroberten russischen Stellungen geholt. Der wertvolle Op-Wagen wurde ebenfalls in die Erde eingebaut – er hatte schon einige Bombensplitter abbekommen.

Ich überlegte mir, die Op-Gruppe, die wirklich Ruhe verdient hätte, mit einer anderen auszutauschen, aber Stabsarzt Dr. Weber bat im Einverständnis mit seiner Gruppe darum, nicht abgelöst zu werden. Mir war es sehr recht, da diese Gruppe vorzüglich arbeitete und Dr. Weber, im Frieden Oberarzt an der chirurgischen Universitätsklinik Köln, ein ausgezeichneter Chirurg war und das Vertrauen der ganzen Division genoß. So hätten wir, wenn es notwendig geworden wäre, in den gut ausgebauten Stellungen den Winter durchstehen können.“

Der vorgeschobene Hauptverbandplatz der 2. Kompanie lag Anfang Oktober bis November zwei Kilometer nördlich von Orlowka. Ihr HVP war in Lataschinka bei Rynok bzw. in Jessowka bei Orlowka.

Dr. Gerlach: „Mitte November wurde bekannt, daß die Division nach Ablösung durch die 94. Infanteriedivision in die Winterquartiere abrükken sollte. Der Divisionsarzt der 94. I.D. war bereits bei mir gewesen und hatte sich sehr befriedigt die geschaffenen Unterkünfte angesehen. Bevor es soweit war, kam der Befehl, am 17. November konzentrisch Rynok im Norden der Stadt anzugreifen und zu nehmen. Trotz größter Anstrengung scheiterte dieser letzte Kampf. Wieder herrschte auf allen eingesetzten Truppenverbandplätzen und vor allem bei unserer Op-Gruppe Hochbetrieb. Ich beorderte die doppelte Anzahl von Krankenkraftwagen heran, um alle Verbandplätze rasch zu entleeren und die Verwundeten in die Armeefeldlazarette zu bringen; nur das Notwendigste wurde operiert, und am Abend des 19.11 war alles aufgearbeitet. Alle Verwundeten waren abtransportiert; Hauptmann Mues, einen unserer tapfersten Offiziere, der einen schweren Kopfschuß erhalten hatte, ließ ich mit dem Fieseler Storch ins nächste Feldlazarett bringen. Das Sanitätspersonal der 94. I.D. war zur Übernahme eingetroffen. Mit gutem Gewissen konnte ich Stabsarzt Dr. Weber den Befehl zum sofortigen Abrücken in die Winterquartiere geben; er rollte noch in der Nacht mit seiner OP-Gruppe ab. Nach all den schweren Wochen und Monaten, die uns in den harten Kämpfen den Verlust so vieler guter Kameraden gebracht hatte, waren wir aber doch in ruhiger Vorfreude auf unsere Ruhequartiere, aber am Morgen des 20. November war schlagartig alles anders!“

Dr. Weber: „Je länger wir in dieser Schlucht bleiben mussten, desto mehr wurde getan, um unsere Fahrzeuge und den Operationswagen in die Erde einzubauen. Wir gruben für den Op-Wagen einen Riesenschacht, bedeckten ihn mit Eisenbahn- und Schienenschwellen und packten darauf wieder eine Erdschicht, so daß eine provisorische Unterkunft und ein Bunker für den Op-Wagen vorhanden waren. Auch die Mannschaft hatte ihre Unterkunftsräume in der Balka verbessert. Für die Verwundeten war reichlich Platz geschaffen worden. Man hatte die Bunker mit Brettern etwas komfortabel hergerichtet, so daß sie wie kleine Stuben innerhalb der Balka wirkten. In dieser Stellung hätten wir den Winter gut überstehen können, mit Heizung, Öfen usw.

Da kam der Befehl, daß die 16. Panzerdivision abgelöst und die 94. Infanteriedivision diese Stellung übernehmen sollte; wir sollten hinter den Don verlegt werden, um hier als Auffangstation, und unsere Panzer als Feuerwehr für eventuelle Durchbrüche oder Angriffe der Russen in Aktion zu treten. Ich bekam am 20. November den Befehl, mich zum Don hin abzusetzen und mich bei meiner Kompanie zu melden.“

Auch Dr. Paal rückte ab: „Ich bekam den Auftrag, eine Winterstellung westlich des Don vorzubereiten und einen Hauptverbandplatz dort zu errichten, außerhalb des späteren Kessels, denn unsere Division sollte herausgezogen werden. So zog ich zwischen Don und Wolga hin und her; im letzten Moment blieb ich daher außerhalb des Kessels, und Dr. Weber blieb drin.“

Zusammen mit der 16. Panzer-Division: Dr. Hans Hofmann 57

„Eines Tages wurde ich über Funk in eine solche Geschützstellung gerufen, um Verwundete zu behandeln und zu holen. Trotz der angreifenden russischen Panzer mußten wir über einen Hügel mit dem Sanitätskraftwagen in eine Schlucht fahren. Die Russen beschossen uns trotz des Roten Kreuzes heftig, und unmittelbar hinter dem Fahrersitz ging eine MG-Garbe durch. Wir versorgten einige Verwundete und nahmen noch zwei Leute für den Heimtransport mit.

Meinen eigenen Verbandplatz hatte ich auch in einer Schlucht in einem großen Zelt für etwa 30 Leute aufgeschlagen. In der Mitte des Zeltes befand sich der Operationstisch. Eines Tages schlugen mehrere Granaten neben dem Zelt ein und durchsiebten es mit tausend Löchern. Dadurch gab es auch frische Verletzungen bei den Verwundeten, aber auch bei der Operationsmannschaft; fast alle wurden noch zusätzlich durch Splitter getroffen. Trotz der Verwundung – ich selbst hatte drei Splitter in meiner Rückseite – mußte ich natürlich weiter operieren. Die Verletzungen waren nicht so schwer, daß wir nicht hätten zu Ende operieren können, und dann ließen wir uns die Splitter entfernen.

Die Angriffe in der Nordriegelstellung zogen sich über Wochen hin, und wir erlitten starke Verluste an Menschen und Material, bis wir von dieser Stellung abgezogen wurden und Ersatz kam. Aber, wie schon das Sprichwort sagt, wir gerieten vom Regen in die Traufe. Wir kamen direkt nach Stalingrad. Das Stabsquartier befand sich in Jeschowka, und die Batterien waren rundherum in verschiedenen Einsätzen, vor allem auch im Straßenkampf. Die Einnahme einiger wichtiger Punkte war nur mit Hilfe der Flakabteilungen möglich, so zum Beispiel die Einnahme der Höhe 10258, die von der 100. Jägerdivision gestürmt wurde; dort lag auch ein kroatisches Bataillon, und unsere 2 cm-Geschütze halfen wieder sehr wirksam mit, ebenso auf der Höhe 107. Auch bei der Einnahme verschiedener Industrieanlagen rund um diese Hügel waren wir erfolgreich eingesetzt. Mein Kommandeur, Major Trötsch, war in die Heimat abgegangen und durch Major Jansen, einen ehemaligen Adjutanten von Marschall Göring ersetzt worden. Bei einer Fahrt zu diesen Stellungen begleitete ich unseren Kommandeur – da wurde ihm von einer russischen Panzerabwehrgranate der komplette Unterkiefer weggeschossen, eine schreckliche Verletzung! Ich konnte nur mit den Händen eine sofortige Blutstillung vornehmen und befahl dem Fahrer, zum nächsten Hauptverbandplatz zu fahren. Dort wurde eine erste Notversorgung vorgenommen. Um einen Fieseler Storch für den Transport zum Flugplatz Pitomnik zu bekommen, telefonierte ich mit dem Kommandeur der 9. Flakdivision, General Pickert59.

Der lehnte es ab, den Storch zu schicken. Daraufhin rief ich Generaloberst von Richthofen60 an, den Kommandierenden des IV. Fliegerkorps, der sofort einverstanden war. Dann sagte er: ‚Ich kenne Sie doch! Sie sind bei der Ju 87-Staffel mitgeflogen und haben bei einem Testflug das Flugzeug und zwei Menschenleben gerettet. Sie haben in 5000 Metern die Maschine abgefangen, und der Pilot kam wieder zu sich und konnte landen!‘ Hans Hofmann: ‚Das stimmt, Herr General, aber daß Sie sich daran noch erinnern!‘ General Richthofen: ‚Mein Lieber, das war keine Kleinigkeit, und ich werde das nicht vergessen. Ich freue mich, von Ihnen zu hören, und wünsche Ihnen alles Gute für Stalingrad!‘ Ich darauf: ‚Danke, Herr General!‘ Der Fieseler Storch kam bald, und ich konnte den noch immer bewußtlosen Major nach Pitomnik fliegen, von wo er mit einem Arzt in einer He 111 nach Lemberg geflogen wurde. Er hat alles in einem Speziallazarett überstanden, und auch den Krieg.


Generaloberst Wolfram v. Richthofen

Natürlich kam es auch zu sehr vielen anderen dramatischen Verletzungen, an denen ich nicht unmittelbar beteiligt war. Die Versorgung und der Abtransport funktionierten noch. Noch waren wir nicht eingeschlossen.“

Die 1. und 2. Sanitäts-Kompanie der 60. Infanterie-Division

Divisionsarzt der 60. Infanterie-Division (mot.) war bis August 1942 Oberstarzt Dr. August Schlegel61; sein Adjutant Dr. Rudolf Hein62 berichtet: „Ich wurde vom Divisionsarzt als Adjutant angefordert. In dieser Verwendung blieb ich dann praktisch bis zu meiner Gefangennahme in Stalingrad.

Ich bekam einen neuen Divisionsarzt, einen Oberfeldarzt Dr. Dr. Sack63, der seinem Namen alle Ehre machte: Wir nannten ihn nur den Doppelsack. Er kam von der Heeres-Gasschule Berlin, hatte von Tuten und Blasen keine Ahnung und mußte von mir erst einmal eingearbeitet werden. Zusammen mit mir geriet er in Stalingrad in Gefangenschaft. In Gefangenschaft trug er dann auf einmal eine Rotkreuzbinde. Wir Sanitätsoffiziere trugen im Krieg ja nie Rotkreuzbinden, aber Herr Sack schmückte sich mit einer!“64


Dr. August Schlegel, Divisionsarzt der 60. I.D.

Die Division führte auch ein Feldlazarett mit, zu dem wenig bekannt ist. Chef war Dr. Hilmar Haag65; Internist des Lazaretts war Stabsarzt Dr. Ernst Kluger66, Zahnarzt Dr. Werner Rockmann67. Bis September war noch Oberarzt Dr. Georg Selbach68 beim Feldlazarett, bevor er zur Schweren Artillerie-Abtlg. 616 versetzt wurde. Leider waren keine Berichte über den Einsatz des Lazaretts auffindbar.

Dr. Ernst Kluger, Internist des Feldlazaretts 100


Dr. Bosch (rechts), 2. San.Kp. 160, vor seinem Zelt

Chef der 1. Sanitäts-Kompanie war Oberstabsarzt Dr. Gemeinhardt; weitere Ärzte waren Oberarzt Dr. Helmut Brasch69 und Assistenzarzt Dr. Heinz Bergmann70. Apotheker war Joachim Blew71. Anfang August lag ihr Hauptverbandplatz in Lipo-Logowski-Skotorod bei Kalatsch; beim Vormarsch am 9. August bei Ossinowskij und Ende August bis Mitte September in Kusmitsch und 20 Kilometer nordwestlich der Stadt. Anfang Oktober wurde der HVP zur Traktorenstation Konnaja einen Kilometer ostwärts von Konaja verlegt, wo er bis Mitte Januar verblieb.

Auch die 60. Infanterie-Division arbeitete mit vorgeschobenen Chirurgengruppen. Dr. Hein: „Unsere beiden vorgeschobenen Hauptverbandplätze wurden bei 1/60 von Oberarzt Dr. Kohler zusammen mit Dr. Zemitsch und bei 2/60 von Oberarzt Dr. Bosch72 mit Dr. Schlopsnies73 versorgt.


Schädelrasur bei der 2. San.Kp. 160


Die 2. San.Kp. 160 bei der Entlausung


Postverteilung bei der 2. San.Kp. 160


Eingegrabenes Fahrzeug der 1. San.Kp. 160

Rast der 1. San.Kp. 160 in der Steppe

Wir marschierten vorwärts Richtung Stalingrad, setzten bei Kalatsch über den Don und versorgten dann die riskante Brückenkopfstellung von Stalingrad. Es herrschte praktisch zwischen Don- und Wolgastellung, zwischen Kalatsch und Stalingrad, ein Pendelverkehr mit Flankenschutz von Panzern auf beiden Seiten und ständigem Nachschub für die kämpfende Truppe. Schließlich wurde das Gelände erweitert. Bevor der Kessel geschlossen wurde, lagen wir mit der 60. Infanteriedivision in der sogenannten Nordriegel-Stellung, d.h. am Nordrand des späteren Kessels. Wenn man sich den Kessel als Zifferblatt vorstellt, dann lagen wir bei 12 Uhr, nördlich vom sogenannten Haltepunkt Konnaja. Das gesamte Gelände war von Schluchten durchzogen, den Balkas. In solch einer Schlucht lagen wir und besaßen an und für sich ganz vernünftige Unterkünfte, die natürlich nicht bomben- und granatsicher, aber recht gut ausgebaut waren.“

Dr. Kohler: „August 1942. Vor mir lag Stalingrad. Wir waren in Marschkolonnen aufgefahren, die 16. Panzer- und die 60. und 3. motorisierte Infanterie-Division. Wir hörten keinen Schuß. Aber was verbargen diese friedlich scheinenden Häuser? Feldmarschall Paulus befahl: Einigeln! Das Drama von Stalingrad begann.

Unerbittlich hart wurde der Krieg. Mit vorgehaltener Pistole erzwang ich die Durchfahrt der Sanitätskompanie vor den LKW, der eigenen Truppe. Von der Wolga-Insel kam Beschuß. Mit dem Krad raste ich mitten hinein in einen Granattrichter – Gehirnerschütterung! Als ich wieder zu mir kam, waren Kaffee, Kognak und Zigaretten die ‚Medizin‘. Der Kiefer war gebrochen, er federte so merkwürdig. ‚Nehmen Sie einen Korken zwischen die Zähne und beißen Sie drauf!‘ riet ein Kollege. Mit dem Korken im Mund stand ich am Operationstisch, Tag und Nacht.

Im November ließen die Angriffe gegen die von der Division zäh verteidigte Nordriegelstellung plötzlich nach. Die Division hatte schwere Verluste erlitten und sollte in den großen Donbogen zur Auffrischung verlegt werden. Ich wurde mit einem Vorkommando hingeschickt, um drei Ortslazarette einzurichten. Der Winter kam, die Verwundeten froren in den Zelten; keine Decken! Ich flog alle Dienststellen ab – bis zum Heeresarzt. Mit 1000 Decken landete ich vor Stalingrad; es war wie ein Wunder.“

Die 2. Sanitäts-Kompanie der 60. Infanterie-Division (mot.) wurde von Dr. Karl Hafner74 als Chef geleitet. Zahnarzt der Einheit war Dr. Leonhard Mühlenbruch75, der noch vor dem Ende verwundet ausgeflogen wurde. Dr. Hafner: „Im Frühjahr 1941 wurde ich als Kompaniechef zur 2. Sanitätskompanie der 60. Infanteriedivision (mot.) versetzt und deren Chef bis Stalingrad. Die Verwundetenversorgung im Brückenkopf Dnjepropetrowsk wurde im August und September 1941 allein durch meine Kompanie durchgeführt. Die 1. Sanitätskompanie war daran nicht beteiligt. Im vorgeschobenen Hauptverbandplatz am Ostufer des Dnjepr waren die Oberärzte Dr. Bosch und Dr. Schlopsnies tätig. Dieser Op-Gruppe gehörte auch der Sanitätsgefreite Bennemann an, nach dem Krieg katholischer Geistlicher. Außerdem war auch Dr. Haidinger76 als Unterarzt dabei.

Übergang der 2. San.Kp. 160 über den Dnjepr


Dr. Karl Hafner, Chef der 2. San.Kp. der 60. I.D.

Die Kompanie war ein fester Bestandteil des Infanterie-Regiments 120, und die dem Infanterie-Regiment 120 angegliederte Artillerie fuhr bei den Marschbewegungen immer vor uns. Die beachtenswerten Kampferfolge der Division in der Steppe zwischen Don und Wolga mußten mit hohen Verlusten erkauft werden. Der kämpfenden Truppe in Richtung Stalingrad folgend, war die 2. Sanitätskompanie noch auf dem Marsch, als bereits die ersten Verwundetentransporte bei ihr eintrafen, denen laufend weitere folgten.

Da weit und breit kein Gehöft vorhanden war, stellte die Kompanie ihre Verwundetenzelte mitten in der Steppe notdürftig auf und fing an zu operieren. Die unerwarteten hohen Zugänge erschöpften bald die Kapazität der Zelte. Außerdem boten diese keinen Splitterschutz im Streufeuer der feindlichen Artillerie und gegen die nächtlich fast regelmäßig anfliegenden sogenannten ‚Nähmaschinen‘, die zunächst Leuchtschirme und dann Bomben gezielt abwarfen.

Da sich eine Verbesserung der Lage durch Verlegung des Hauptverbandplatzes nicht anbot, mußten zwangsläufig an Ort und Stelle Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden. Mit Spitzhacke und Spaten wurden – den Ausmaßen der Zelte entsprechend – zwei Meter tiefe Baugruben ausgehoben und diese mit Balken, Brettern und einer Erdschicht überdeckt, wodurch zunächst ein ‚Operationssaal‘ und danach die ‚Verwundetenstationen‘ sicherer waren. Das Bauholz war nach mühevollem Ausschlachten von Holzhäusern aus Stalingrad herausgeholt worden.

Der Wasserbedarf des Hauptverbandplatzes war enorm hoch, besonders auch wegen der Operationswäsche, die laufend gereinigt und sterilisiert werden mußte. Wasser gab es erst in 20 Kilometer Entfernung; jeder Tropfen mußte von dort beschafft werden. Die Liste der aufgetretenen Schwierigkeiten ließe sich beliebig verlängern.


Unterkunft der 1. San.Kp. 160 in Stalingrad

Täglich kamen, teilweise auch von Nachbardivisionen, mehr als 50, an einigen Tagen sogar bis zu 150 Verwundete neu hinzu. Und dies überwiegend des Nachts, weil die Verwundeten oft erst im Schutze der Dunkelheit aus den vom Feind eingesehenen Stellungen geborgen werden konnten. Demzufolge mußte fast jede Nacht durchoperiert werden. Daran änderte sich im Verlaufe von drei Monaten nichts.

In diesem Zusammenhang muß hier der damalige Oberarzt Dr. Friedrich Bosch namentlich genannt werden, der als ganz ausgezeichneter Chirurg, mit nur kurzen Unterbrechungen, fast ausschließlich Schwerverwundete operierte, meist Bauchschüsse, und fast Übermenschliches leistete, besonders in der Nordriegelstellung bei Stalingrad. Alles waren lebensrettende Eingriffe, da keiner dieser Verwundeten den über hundert Kilometer weiten Transportweg in die nächste Sanitätseinrichtung westlich des Don lebend überstanden hätte. Aus den genannten Gründen mußten die operierten Schwerverwundeten bis zur Herstellung der Transportfähigkeit zwischen acht und zwölf Tagen auf dem Hauptverbandplatz nachbehandelt und verpflegt werden – eine enorme Belastung für das Pflegepersonal der Kompanie.


Dr. Friedrich Wilhelm Bosch, Chirurg der 2. San.Kp. der 60. I.D.

Währenddessen glaubten doch operierte Verwundete ‚abgeschrieben‘ zu sein, nachdem sie – statt nach der Operation vordringlich abtransportiert zu werden – in finsteren Erdhöhlen auf dünner Strohschicht mit Zeltplane untergebracht waren, wo ihnen durch Feindeinwirkung der Sand von der Überdachung ins Gesicht rieselte. Gewiß waren sie nur schwer davon zu überzeugen, daß dies alles lebensrettende Maßnahmen waren und man nicht – wenn auch menschlich verständlich – resignieren durfte. Resignation war nämlich nicht nur ein schlechter Heilfaktor, sondern auch übergreifend eine Gefahr für die Belegschaft der ‚Intensivstation‘.

Alle diese Aufgaben und Belastungen bewältigte die 2. Sanitätskompanie 160 im Kampfgebiet um Stalingrad über drei Monate hinweg, indem nicht nur ihre vier Ärzte, sondern auch jeder Angehörige der Kompanie an seiner Stelle das Äußerste, d.h. bis an die Grenze des Menschenmöglichen, in dem unerschütterlichen Bestreben hergab, das Leben von Kameraden zu retten und zu erhalten.“77

Anfang August hatte der HVP der 2. San.Kp. 160 noch in Ossinowskij gelegen, Ende August in Wertjatschij am Don. Im Oktober richtete sich die Kompanie wie die erste dann einen Kilometer ostwärts von Konnaja ein. Unterarzt Dr. Hubert Haidinger: „Wir erreichten die Gegend von Gumrak, wo unser Hauptverbandplatz eingerichtet wurde. Der vorgeschobene Verbandplatz, auf dem ich eingesetzt war, befand sich im Nordriegel in der Nähe des Bahnhofs Konnaja. Dort waren verlassene eingegrabene Stellungen der Russen – sauber und bestens geeignet für unseren Bedarf. Ständige harte Angriffe des Feindes brachten immer wieder einen gewaltigen Anfall von Verwundeten und Sterbenden. Mit einem Großangriff des Feindes aus dem Norden mußte gerechnet werden.“78

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