Buch lesen: «Fatzvogel»

Schriftart:


2014

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 9783954622580

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

FATZVOGEL

Weitere Bücher

Für Götz

So komm! dass wir das Offene schauen,

dass ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.

Hölderlin

Marie rennt, keucht und schleppt.

Der Zeiger ruckt auf 14.23 Uhr.

»Einsteigen!«, brüllt der Schaffner, stiefelt auf Marie zu und fragt »Nun, Fräulein, woll’n Sie mit?«

»Nach Radeburg?«

»Nun klar.«

»Mit diesem Ding?«

»Sie sind wohl nicht von hier«, fragt er und mustert sie von der Fellmütze bis zu den Stiefeln, »das ist der Lößnitzdackel, ging achtzehnhundertvierundachtzig in Betrieb, als dritte Schmalspurlinie im Königreiche Sachsen.«

Marie klappt der Unterkiefer herunter. »Wie lange braucht der denn nach Radeburg, der Dackel?«

»Nur fünfzig Minuten«, sagt der Schaffner, reckt sein üppiges Kinn in die Winterluft, streckt den Bauch vor und streichelt seine Uniform. »Sechzehnkommafünfundfünfzig Kilometer.«

»Über eine dreiviertel Stunde, für sechzehn Kilometer?« Sie sieht den Schaffner sprachlos an. »Sind die Wagen innen wenigstens geheizt?«

»Im Dackel ist es mollig warm.« Er hievt ihr den großen, braunen Koffer auf die Plattform, Marie steigt hinterher.

»Nun Fräulein, gute Fahrt!«

14.26 Uhr. »Abfaaahrt!«

Das Ungetüm bahnt sich seinen Weg. Langsam, unbekümmert und unbeirrt nimmt es seinen vorgeschriebenen Lauf, stößt lang gezogene, anhaltende Laute aus und speit winzige Rußpartikel in die klare Winterluft. Links und rechts der Spur schwebt schwarzer Flor auf den unberührten Schnee.

Marie pfeift der eisige Fahrtwind um die Ohren, sie schiebt die schwere Eisentür auf, den Koffer hinein, drinnen schlägt ihr Bullenhitze entgegen. Mollig ist gar kein Ausdruck, denkt sie, reißt Handschuhe und Mütze herunter, wickelt den Schal ab, zieht den Parka aus. Setzt sich auf eine braun lackierte Bank, wischt mit dem Handschuh über die beschlagene Scheibe und sieht hinaus.

Der Zug hält, nach wenigen Minuten Fahrt. Irgendwie müssen die fünfzig Minuten ja zusammenkommen.

»Weißes Roß« steht auf einem Schild, von Schneewehen umrahmt, ein altes Gebäude ragt einsam in die Landschaft. Ein Mann mit Kelle und Trillerpfeife steht in Position, der Zeiger auf der Bahnhofsuhr ruckt, ein Pfiff ertönt. Die Kolben bewegen sich, die Lok stößt eine schwarze Wolke aus, stampft an den Weinbergen vorbei, die sich terrassenförmig zur Linken erheben, sie werden mit Schwaden eingedeckt, der Dackel pfeift sich eins, hinein in den Lößnitzgrund. Rundum wölben sich weiße, bewaldete Hänge, ein Bach ist zu buckeligem Eis erfroren, Schneehügel am Ufer. Ich fahre nach Sibirien, zuckt es Marie durch den Kopf, in die Verbannung. Die nächste Haltestelle. »Frie« steht auf einem Schild, der Rest verschwindet unter Eis und Schnee. Der Dackel schnaubt in seiner Spur. Weite Ebenen ziehen vorüber, ein Teich, noch ein Teich, noch einer, auf der Eisfläche liegt Schnee, leicht wie Puderzucker, die Wagen rattern über einen kleinen Damm, Kristalle glitzern, alte Bäume erheben ihre Zweige, die Sonne brennt in den Augen, Schrebergärten, Häuser, Moritzburg. Ah, denkt Marie, da muss ich unbedingt mal hin, ins Schloss, zum alten Leuchtturm, um die Teiche. Am besten, ich nehme im Frühjahr das Fahrrad mit.

In Moritzburg ist das berühmte Diakonenhaus, in dem fromme Brüder ausgebildet werden. Zur Grundausrüstung gehören Bart, Bibel, Jesuslatschen und Gitarre, auch ein schlichtes Gemüt schadet nicht. Marie hat sich für eine ähnliche Ausbildung entschieden, zur Gemeindehelferin, drei Jahre im Amalie-Sieveking-Haus in Radebeul. Die Eltern waren dagegen, warum Gemeindehelferin, warum nicht Theologie, nein, sie will mit Jugendlichen zu tun haben, beharrte Marie, was soll sie mit Altgriechisch und Exegese, sie will nicht von der Kanzel herab große Reden schwingen, sondern mittendrin sein im Gemeindeleben, am besten in dem der Jungen Gemeinde. Den Ausbildungsplatz hat sie schon lange sicher, als andere in der EOS um ihren Studienplatz bangten, saß sie gelassen in der Bank. Im Frühjahr flatterte ein Brief vom Sieveking-Haus herein, sie stellten Marie ohne Absprache ein Jahr zurück, empfahlen ihr eine praktische Phase zwischen den theoretischen Einheiten Schule und Ausbildung, eine Tätigkeit in der Diakonie, wo und was, blieb ihr überlassen, immerhin regulär bezahlt. Marie war geschockt, jetzt waren alle guten Studienplätze weg. Ein Jahr war eine Ewigkeit. Sie erkundigte sich in der sächsischen Diakonie, sah sich Verschiedenes an und entschied sich für Radeburg, nicht wegen der Anstalt oder dem Städtchen, sondern der Nähe zu Dresden, der barocken sächsischen Hauptstadt mit ihren Theatern, Konzerten, Cafés und Museen.

Die Fahrt geht weiter, durch Wälder und Siedlungen, Cunnertswalde, Bärnsdorf, Berbisdorf, Radeburg. Das schwarze Gestänge steht mit einem Ruck, die Räder quietschen, das Ungetüm haucht den letzten Schwaden aus. Endstation. Marie hievt den schweren Koffer aus dem Wagen. Kein Mensch zu sehen. Sie fragt den Schaffner, wie weit es bis zur Anstalt ist. »Die Anstalt, aufm Berge? Das ehemalige Rittergut? Mit dem Koffer, Fräuleinchen? Ich ruf Ihnen ein Taxi.«

Das Taxi fährt durch das Städtchen. Viel ist hier nicht zu sehen, ein Kirchlein mit Zwiebelturm und Wetterhahn, ein Rathaus, ein Marktplatz mit Brunnen in der Mitte und Bürgerhäusern drum herum, gelblich, rosa und etwas, was früher mal grün oder blau gewesen sein könnte, zwei, drei Kneipen, Apotheke, HO, Drogerie, Kurzwarenladen, an der Ecke eine Konditorei mit Kuchen, Torten, Cremeschnitten und sächsischem Café. Das Kakaomädchen lächelt von der Wand, was soll es sonst machen. Heinrich Zille wurde hier geboren, Fasching hat hier Tradition, sie feiern mit selbst genähten Kostümen und prämieren die mit den verrücktesten Ideen. Weiter draußen, hinter der Autobahn gibt es einen schmucklosen Stausee, noch weiter draußen eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, in der Hühner Eier legen, die nach Fisch schmecken.

Der Chef der Anstalt, ein hochgewachsener, hagerer Mann mit kantigem Gesicht, begrüßt Marie. »Tach, Schulze.« Er trägt ihr fröhlich den schweren Koffer die lange Holztreppe hinauf, den Flur entlang, durch eine große Wohnung, an deren Ende sie zwei kleine Zimmer bewohnen wird. Direkt darunter liegt die Leichenhalle, das verschweigt er. Auch einige Brüder und Schwestern wohnen auf dem Gelände, erzählt er, im Gebäude gegenüber mit dem verglasten Eingangsbereich Bruder Ulla mit Frau und Kindern, er ist für die obere Station verantwortlich und wird ihr alles zeigen und erklären, ein sehr vertrauenswürdiger und lieber Bruder. Er selbst wohnt mit Weib und Kindern weiter drüben, über die Wiese. Bruder Fiedler, für die untere Station verantwortlich, wohnt mit Familie am Rosengarten, von dem man jetzt nicht viel sieht; der Koch der Anstalt, kein Bruder, aber auch in Ordnung, wohnt in einem einstöckigen Holzhaus unterhalb des Gestüts. Das Gestüt war mal der Stolz der Anstalt, erzählt der Schulze-Chef weiter, ein Moritzburger Insasse hatte hier eine Zucht Warmblüter weitergeführt, er konnte nicht ohne seine Pferde leben und hatte gestriegelt, gefüttert und ausgemistet, bis zuletzt. Jetzt stehen hier noch ein paar Ponys, mit denen die Kinder des Personals herumreiten. Er fragt, ob sie was von Pferden versteht, sie schüttelt den Kopf und schweigt. In ihrer Freizeit will sie so oft wie möglich nach Dresden ins Theater, ins Museum fahren und nicht im Stall schuften.

Marie nickt, das ist alles neu hier, sie sind wie eine große Familie, sie duzen sich, sie reden sich mit ›Bruder‹ und ›Schwester‹ an, nur der Chef wird gesiezt. Sie dreht die Heizung an und packt den Koffer aus.

Die Insassen der Anstalt werden rund um die Uhr gepflegt, gefüttert und bewacht. Die Tage sind klar strukturiert und geregelt, wer fit ist, kann sich, wenn er will, nützlich machen, das wird mit einem Taschengeld vergolten. Am Sonntag Vormittag gibt es für alle eine hauseigene Andacht, mit einer Ansprache und Predigt vom Chef oder dem diensthabenden Bruder, die über Lautsprecher, die nicht abgedreht werden können, in alle Zimmer übertragen wird, danach wird der Sonntagsbraten mit Nachtisch serviert. Am Nachmittag erklingt Musik aus dem Radio, was Leichtes, Unterhaltsames. Besuche des Restaurants und Ausflüge in ein benachbartes Dorf oder nach Dresden müssen von den Insassen angemeldet werden, die Anstaltsleitung entscheidet, wer fahren darf, wohin und wie lange, Abfahrt und Ankunft sind streng geregelt.

Bei schönem Wetter sehen manche Insassen abends auf einer Bank der Sonne beim Untergehen zu, im Schwarzweiß-Fernseher im Speiseraum läuft die ›Aktuelle Kamera‹, danach ein Film aus alter Zeit. Wer hier eingeliefert wird, bleibt, die Anstalt verlässt man nur mit den Füßen zuerst.

*

Das kleine Zimmer ist rappelvoll, Marie platzt herein.

»Guten Morgen, ich bin die Neue, ich heiße Marie, ich komme jetzt öfter«, ruft sie und strahlt in die Runde. Sie schauen erstaunt auf, lächeln, lachen, »Guten Morgen, herzlich Willkommen, na dann«.

Das Zimmer leert sich, sie gehen an die Arbeit. Ein Mann bleibt am Medikamentenschrank stehen, in tannengrünen Hosen mit Schlag, wie aus den Siebzigern, den dunkelblauen Kittel lässig darüber gehängt, darunter strahlt ein feingestreiftes Hemd. Seine braunen Augen erscheinen riesig hinter einer großen Hornbrille. Marie wundert sich über seine Klamotten, irgendwie komisch, altmodisch, so altmodisch, dass sie schon wieder schräg sind, vor allem das Tannengrün und Dunkelblau, irgendwas an diesem Menschen, der eigentlich ganz ernsthaft erscheint, ist lustig, leicht daneben. Sie weiß nicht, was sie von ihm halten soll, er streckt die Hand aus und sagt »Bruder Ulla.« Er führt sie durch den Tag, zeigt ihr die Zimmer, stellt sie den Insassen vor, »das Fräulein Maler«, erklärt Handgriffe.

»Schönes Hemd«, sagt sie, um irgendwas Freundliches zu sagen. Er sieht sie an, seine Augen werden größer und größer. »Nicht wahr«, sagt er, »es sind großartige Streifen, es ist großartig, einfach großartig gestreift.«

Sie gehen runter, in einem kleinen Raum steht ein langer Tisch, heute gut besetzt. Marie setzt sich neben Bruder Ulla, er hat sie unter seine Fittiche genommen, es macht ihm Spaß, den Mentor zu spielen, den Beschützer, Erklärer, den großen Bruder.

Es gibt gebackenes Schnitzel mit Gemüse und Kartoffeln, danach Vanillepudding mit roter Sauce. Ein Bruder mit krausem schwarzem Bart lacht mit lustigen Äuglein zu Marie herüber, »Bruder Bettelmann«, flüstert ihr Bruder Ulla ganz leise zu, »der bettelt um Liebe, aber keine erhört ihn.« Bruder Ulla kichert in sich hinein und stößt sie mit dem Arm mehrmals leicht von der Seite an. Ein anderer Bruder träumt in sein Schnitzel, streicht sich wieder und wieder über seinen blonden, weichgelockten Bart und richtet die vor Frömmigkeit triefenden Augen in den Schnee, der sich vorm Fenster türmt. »Bruder Licht«, nuschelt es an ihrem Ohr, »wenn der zupacken soll, wird’s ganz finster, der hat zwei linke Hände.« Ein kräftiger Mann säbelt energisch auf seinem Teller herum, kaut, lacht und kaut. »Bruder Fiedler, ein ganz Tüchtiger, auch in der Kneipe«, raunen die feuchten Lippen an Maries Seite, dabei funkelt er sie mit seinen braunen Augen hinter der Brille an. Auch der Chef ist da, neben ihm sitzt eine blonde, dralle, rotwangige Frau, ein nordischer Typ, die Chefin, erfährt Marie, »kommt von den Fischköppen, hat auch zu Hause die Hosen an«. Weitere Frauen sitzen am Tisch, kräftige, bäuerliche Typen, rechts hinten der Koch Jürgen Koller und sein Gefolge. »Vorsicht«, warnt Bruder Ulla, »ein Staatsfeind.« – »Wieso?«, flüstert Marie.

»Der hat einen Antrag laufen, auf Ausreise.« Er sieht sie durchdringend an, seine Augen flackern hinter der Brille wie zwei Lichter, die der Wind gleich ausblasen wird. Eine interessant aussehende Frau in den Dreißigern mit wachen Augen, rabenschwarzen Korkenzieherlocken und einem scharfen, fast südländischen Profil lächelt spöttisch in ihren Vanillepudding. »Gitte«, flüstert er, »auch eine Staatsfeindin, die hat was mit Koller.« Am Ende der Tafel sitzen zwei junge Männer, der eine schlank und hager, das ernste Gesicht von schwarzen Locken umrahmt, ein Theologiestudent, der andere blond, pausbäckig, ein Praktikant aus dem Diakonissenhaus in Dresden. Die jungen Männer kauen schweigend.

Nach dem Mittagessen erklärt Bruder Ulla Marie, welcher Insasse welche Medizin bekommt, er hat sie in kleine, milchweiße Plastebecher verteilt, die auf einem Tablett stehen, mit den Namen der Insassen darunter, viele bekommen etwas. Selbst Medizin setzen darf sie nicht, weil sie nur eine Hilfskraft ist. Bruder Ulla schaut auf sein gestreiftes Hemd und murmelt »großartig«.

Er geht mit Marie in Zimmer neun und zeigt ihr, wie man einen Insassen umbettet, der nicht mehr aufstehen kann. »So lange sie rüstig sind, helfen sie sich allein, aber dann …« Er steht auf der einen Seite des Bettes, Marie auf der anderen. Er rollt den Insassen, einen Herrn Kasimir, vom Rücken auf die Seite, Herr Kasimir stöhnt. Er ist am Rücken wund, Marie schaut entgeistert auf die roten Flecken, die sich schon öffnen, sie fragt, was das ist, »ein beginnender Dekubitus«, sagt Bruder Ulla. Er versorgt die Wunden, zieht auf seiner Seite ein frisches Laken ein, dreht Herrn Kasimir, der wieder leise stöhnt, vorsichtig auf seine Seite, Marie nimmt auf ihrer Seite das alte Laken heraus, zieht ein frisches ein, Herr Kasimir bekommt ein frisches, weißes, offenes Nachthemd an, sie betten ihn zurück. Er ist leicht wie eine Feder, nur Haut und Knochen. Ein Herr aus dem Bett links röchelt, Marie versteht nur »Brr Brr« und »Frhh Frhh«, Bruder Ulla erklärt und zeigt geduldig. Sie schaffen den Eimer mit den dreckigen Laken ins Waschhaus, es stinkt bestialisch.

Ihr Tag ist zu Ende. Sie starrt aus dem Fenster, große, einzelne Flocken tanzen in der Luft. Was soll ich hier?, fragt sie sich. Mein Ausbildungsplatz war für dieses Jahr fest zugesagt. Sie haben mir ein praktisches Jahr aufs Auge gedrückt, ich hätte es gerne in Leipzig absolviert, in der Sozialfürsorge, denen war ich zu jung. In Zwickau hatte mir das Heim mit den behinderten Kindern gefallen, die Räume waren hell, die Mitarbeiter freundlich, aber Zwickau ist nicht Dresden. Das hier ist die einzige Möglichkeit in der Nähe einer Großstadt, deshalb habe ich mich dafür entschieden, ich muss hier durch.

In Zimmer neun liegen die schweren Fälle. Nur in den beiden angrenzenden, winzigen Kammern wohnen zwei, die gut zu Fuß sind, Horschte und Kalle Bruschke. Der Bruschke ist klein, speckig und verlottert. Mit leicht und stetig zitternder Hand hält er die kalte Zigarre, solange er noch auf dem Flur und den Treppen ist, auf denen er nicht rauchen darf; sobald er unten in der kleinen Glasveranda sitzt, pafft er den dicken Stummel an. Wenn er Marie sieht oder sie an ihm vorübergeht, nuschelt er »Die Rrrothaarige, die rrrothaarige Germania« und verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen, als wüsste er irgendwas, was andere nicht wissen.

»Horschte!« Eine schnarrende Stimme schallt durch den Korridor. Von weit her fragt jemand leise »Rost, bist du’s?«. Hanner Rost versucht, sich zu bewegen und klaubt griesgrämig die kaputte Rechte aus dem gelblichen Laken. »Horschte!«

Hinter einer Tür sitzt Horst Sachs, drückt und drückt.

»Immer dieser Ärger mit … es will nicht, es muss doch …,« er jammert und jammert »hilf lieber Gott, mach, dass es schnell rauskommt, dass es nicht so lange braucht …«, klatsch, wirft es sich in Klumpen gegen das weiße Porzellan. Horst atmet auf, sieht hinein, da liegt es, nicht rot, kein Blut, nein, Gott sei Dank. Er säubert sich, schnauft erleichtert, die Spülung rauscht, er tänzelt, summt »wenn der weiße Flieder wieder …« seine Finger basteln an den glatten Hosenknöpfen, »wollt ihr wohl zu gehen, ihr Kriepel«, er kichert, wäscht die Hände, trocknet sie, singt weiter, »eene meene muh, die Tür mach zu«, tänzelt die drei Stufen hoch zur Naziburg, erste Tür rechts. Er horcht angestrengt, ob er drinnen was hört, aber er hört nichts. Seufzt, denkt, was soll ich machen, er wird doch wohl zu Hause sein, er hat mich ja gerufen. Klopft leise. Die Rippen knirschen in seinem engen Leibchen, er steht und horcht.

Gottlieb rennt durch den Flur, grüßt zackig ins Dienstzimmer, wirft sich mit fliegenden Händen den Parka über, schreit »ich muss« und springt die Treppen runter. Marie schießt aus dem Dienstzimmer und ruft »Wohin?« Die Glastür kracht ins Schloss.

Draußen ist es lausig kalt, ihr Parka hängt im Spind im Umkleideraum, sie schnappt sich die Wolldecke vom Sofa. Er rennt den Kiesweg hinunter. Marie schmeißt sich die Decke um und schlittert hinterher, die Plastesohlen der dünnen Stoffschuhe rutschen fast so gut wie Gleitschuhe. Die Hospitalstraße entlang. Ach du Scheiße, denkt sie, er will zum Bahnhof. Auf gerader Strecke macht sie keinen Schritt gut, im Gegenteil. Gottlieb federt mit seinen langen Beinen auf den Bahnhof zu, durch die Vorhalle, die Trillerpfeife hüpft ihm um den Hals, er stößt mit dem Fuß die Schwingtür auf, zu den Gleisen. Der Dackel dampft. Ein Mann steht daneben, die Pfeife im Mund, die Kelle in der Hand, Gottlieb stellt sich keuchend neben ihn, schaut auf die Bahnhofsuhr, der Zeiger ruckt, der Körper des Mannes strafft sich, Gottliebs Körper strafft sich, der Mann stößt in die Trillerpfeife, Gottlieb stößt in die Trillerpfeife, der Mann reißt die Kelle hoch, Gottlieb reißt den rechten Arm hoch und schreit »Abfaaahrt!«.

Der Lößnitzdackel donnert ins Freie, Gottlieb rafft den Parka über der Brust zusammen und verschwindet in den Nebelschwaden. Marie steht in der Schwingtür, mit offenem Mund.

»Ehm«, wendet sie sich frierend an den Schaffner.

»Wissen Sie, wo der hin ist?« Der Schaffner mustert ihre Wolldecke, es ist derselbe wie bei ihrer Ankunft, er erkennt sie nicht. »Wahrscheinlich wieder in die Anstalt aufm Berge. Kommen Sie auch da her?«

»Aber was …«

»Der ist nicht ganz richtig im Kopf«, sagt er und streichelt lächelnd seine Uniform. »Aber immer pünktlich. Ich tue hier schon seit sieben Jahren Dienst, kein Dackel fährt ohne sein Signal.«

»Kein Dackel?«

»Keiner«, sagt er genüsslich und spielt mit einem rotgoldenen Knopf über seinem Bauch. »Von 6.11 Uhr bis 18.23 Uhr.«

»Können Sie mir vielleicht ein Taxi rufen?«, fragt sie, vor Kälte zitternd.

»Wohin denn, Fräuleinchen?«

»Zur Anstalt.«

Horst seufzt, nimmt allen Mut zusammen und pocht laut an die Naziburg. Er drückt die Klinke, es schnarrt von drinnen »Na, da bist du ja endlich, Horschte, brauchst doch nicht anzuklopfen.« Horst schiebt den Kopf vor, reißt seine blauen Augen auf, erspäht in Lauerstellung jeden Winkel. Der Rostnazi liegt ausgestreckt auf seinem Lager, geradeaus die Beine, geradeaus der Blick.

»Ja nun, ich war doch, ich musste doch …«, stottert Horst und nickt ein paar Mal mit dem Kopf. Die Luft ist rein. Kein frommer Bruder zu sehen. Erfreut schleicht er ins Zimmer, wirft die Tür hinter sich zu und schlurft ans Bett. Der Rostnazi rappelt sich hoch. Horst schiebt das gelbliche Kissen hinter seinen Rücken, klopft es zurecht, zupft am Laken, streicht es glatt, legt Rosts lahme Rechte ordentlich auf die gesunde Linke und sieht ihn fragend an. Rost nickt und sagt »nun stelle dich an deinen Stuhl, Horschte, so wie du es bei mir gelernt hast, und stehe gerade«.

Horst stellt sich so nah wie möglich neben den geschnitzten, hölzernen Stuhl am Fenster. Minuten vergehen. Er steht leicht gebeugt, er versucht, sich aufrecht zu halten, aber er kann es nicht. Der Rostnazi wollte es nicht einsehen, »der Mensch soll aufrecht stehen«, rief er, »er kann, wenn er will, er muss nur wollen, der Wille ist alles!«. Aber Horst hat diese tückischen Knochen, die Rippen sind nun mal weich, deswegen trägt er das Leibchen mit den Streben, das stützt ihn.

Der Rostnazi macht eine fast unmerkliche Bewegung mit dem Kopf. »Setz dich, Horschte, brauchst doch nicht zu stehen.« Horst setzt sich auf den geschnitzten Stuhl und atmet, so tief er in seinem Leibchen atmen kann. Sie schweigen. Nach einer Weile schaukelt Horst seinen Oberkörper sachte auf und nieder, schnurrt vor sich hin, guckt aus dem Fenster.

Draußen fahren die strohblonden Jungs vom Chef dick eingemummt mit Skiern über das tief verschneite Feld, die Chefin kommt aus ihrem Einfamilienhaus, mit roten Backen, blond, drall und blühend wie Brünhilde, Horst lächelt, schiebt die Gardine beiseite, ein Taxi fährt vor, jemand steigt aus, in eine Wolldecke gewickelt, das ist ja die Marie, denkt Horst, mein Goldmariele. Er tappt einen Dreivierteltakt und tänzelt mit den Fingern auf dem Fensterrahmen. Ein Überschall-Flugzeug rauscht durch den Himmel, es gibt einen fürchterlichen Knall. Horst schrickt zusammen, springt auf, starrt aus dem Fenster, fuchtelt mit den Händen, schüttelt die Fäuste gegen die Scheibe und schreit: »Macht, dass ihr wegkommt, ihr Kriepel, gottverdammten Hunde, wollt ihr wohl weggehn, ihr Knilche, gemeines Aas, ihr elenden Rabauken, Hundsfotte, gottverfluchten Schweine, haut ab, Saubeutel ihr, ihr Viecher, lasst euch hier nie mehr blicken!«

Marie will zurück ins Haupthaus, hört es krachen, schallen, hoch oben düst ein winzig kleines Flugzeug, dann Stille, ein leises Trommeln, sie sieht wie Horst hinter einem Fenster im Erdgeschoss auf und nieder springt, ein aufgeregtes, buckliges Männlein, geht ein paar Schritte auf das Haus zu, sieht ihn toben, gestikulieren, rennt los, stößt die Tür zur Glasveranda auf, ruft in die untere Station »Bruder Fiedler, Bruder Licht, schnell, es ist was mit Horschte, irgendwas stimmt da nicht, er ist beim Rost«, sie reißt die Tür auf, der Rostnazi sitzt steif, mit aufgerissenen Augen in seinem Bett und zeigt auf Horst, der gegen die Scheibe brüllt, er, fromm bis auf die weichen Knochen, flucht den Himmel an, verdreht die Augen und sackt vor Marie zusammen.

Sie versucht, ihn aufzufangen, er reißt sie mit zu Boden, liegt wie ein Käfer auf seinem krummen Rücken, atmet stoßweise und strampelt mit Armen und Beinen, sie muss aufpassen, dass sie keine gewischt bekommt. Der massige Bruder Fiedler kommt herein und stößt sie zur Seite. »Weg, Mädel.« Er beugt sich über ihn, ruft »Horschte, Horschte, hörst du mich? Ich bin’s, der Bruder Fiedler, erkennst du mich?« Horst liegt, die Augen nach oben verdreht, dass man nur noch das Weiße sieht, der linke Arm biegt sich, wie von Geisterhand geführt, nach hinten, der rechte zuckt durch die Luft, sein Körper verdreht sich schräg nach innen, als ob ein unsichtbarer Riese ihn in seinen Fäusten hielte, ihm jeden Knochen einzeln brechen und zerquetschen wollte, er krampft und krampft. Vor seinem Mund steht weißer Schaum.

Marie schaut fassungslos auf das sich windende Bündel Mensch. »Steh nicht so blöde rum, hol ein Handtuch!«, ruft Fiedler. Sie reißt sich zusammen. »Sterile Kompresse, ein frisches Handtuch oder ein gebrauchtes?« – »Stoff brauch ich, Stoff!«, brüllt Fiedler, »im Schrank, im Schrank!« Sie reißt die weißgelackte Schranktür auf, zerrt etwas Weißes hervor, hält es ihm hin. »Halte ihn fest, so fest, wie du kannst. Der hat’n Anfall, drück ihn runter!« Marie drückt sich auf Horst, er schmeißt sie zur Seite, wie ein Stück Papier. »Weg«, sagt Fiedler und presst ihn auf den Boden. Der Schaum läuft Horst zum Mund hinaus. Der Bruder greift ihm mit seiner rechten Pranke unter die Oberkieferknochen, wie einem Tier, drückt ihm den Kiefer auseinander, drückt Stoff dazwischen. »Damit der sich nicht die Zunge abbeißt und sie nicht verschluckt«, keucht er. Marie hockt blass daneben.

Nach ein paar Minuten wird Horst ruhiger, macht die Augen auf und starrt ins Nichts. Das Handtuch hängt ihm aus dem Mund, Blut sickert.

»Was hat er denn?«, fragt Marie zögernd. Fiedler nimmt vorsichtig das Tuch heraus und untersucht den Mund.

»Da hast du aber Glück gehabt, mein Gutster«, und zu Marie: »Der war ein junger Bäckermeister, die Eltern hatten ein schönes Geschäft am Dresdner Hauptbahnhof. In einer Bombennacht, halb Dresden stand in Flammen, ist er verschüttet worden. Drei Tage lag er drunter. Ein Wunder, dass er überhaupt noch Akkordeon spielt. Die Eltern sind umgekommen, alle beide, Geschwister hat er keine. Seitdem ist er, na ja.«

»Er ist doch aber sonst, warum denn jetzt der Anfall?«

»Der Knall, das Flugzeug. Von Klotzsche, vom Militärflughafen. Überschall. Das erinnert ihn an die Bomber, das löst das bei ihm aus, das nennt man Trigger. Hol einen kräftigen Mann, den Bettelmann oder den Chef, bloß nicht den Bruder Licht, den Hänfling. Wir müssen den hochschaffen, in seine Kammer, in sein Bett. Und sag der Chefin Bescheid, falls die ihm noch was geben will.«

»Was geben?«, fragt Marie.

Nun weißt schon, was ich meine, verabreichen, Tabletten, ruhigstellen. Ich bin dagegen. Aber hier … die sehn das … da ist es … ist gut. Und nichts für ungut, Mädel, wenn ich ein bissel ruppig zu dir war, ich meins nicht so.«

*

Das Dresdner Diakonissenkrankenhaus schickt regelmäßig junge Krankenpfleger zur Ausbildung in die Anstalt, auch Theologiestudenten machen hier ein Praktikum. Ein Neuer aus dem Diakonissenkrankenhaus kommt an, er nennt sich Bastian. Er ist schlank, eher klein, hat graue Augen, Fusselhaare, trägt quittegelbe Hosen zum Fleischerhemd und eine blau-grün gebatikte Windel um den Hals. Er ist weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen. Ein lustiger Knabe, denkt Marie. Jetzt wird’s heiter.

Marie hat Spätdienst. Sie bringt Herrn Gerlach zu Bett, der seit Kurzem ein bisschen wacklig ist, nicht mehr so gut zu Fuß. Er trägt einen Herzschrittmacher, einen kleinen Kasten, der sich unter seiner Brust abzeichnet und innen tack, tack, tack macht.

»Fräulein«, sagt er, »kennen Sie Frankreich?«

Sie sieht auf. »Frankreich? Leider nicht. Ich bin doch erst Ende der Sechziger geboren.«

»Fräulein, ich war zehn Jahre da!«

Sie reicht ihm den Schlafanzug. »Zehn Jahre? Ist ja schau. Wo denn?« Sie hilft ihm, das rechte Bein, das linke Bein.

»Bei Bordeaux, ich war dort Kriegsgefangener und bin geblieben.«

»Erzählen Sie mal!« Sie setzt sich auf die Bettkante.

»Ich hab mich an einen Wanderzirkus angeschlossen und hab die Tiere gepflegt, zehn Jahre lang.«

»Ist ja toll, Sie waren Tierpfleger, im Wanderzirkus!«, freut sich Marie.

»Wir sind durch ganz Frankreich gezogen, die Leute haben zugesehen und geklatscht … da hab ich meine Frau gefunden!«

»Ihre Frau, das ist ja schön!« Sie hält ihm die Jacke hin.

»Sie war rotblond, wie Sie, nur etwas heller! Und wissen Sie was?«

»Nein, was denn?«

»Die Rothaarigen haben das Feuer, die Blonden die zarte Haut.«

»Aha.«

»Meine Frau war rotblond, die hatte beides! Sie war Krankenschwester, genau wie Sie!«

Ich bin keine Krankenschwester, ich bin nur Praktikantin, will Marie einwerfen und verschluckt den Satz.

»Gute Nacht, und träumen Sie schön von Ihrer rotblonden Frau!«

Sie wendet sich zum Gehen. »Fräulein«, ruft er hinter ihr her. »Ja, Herr Gerlach?«

»Machen Sie mal den Schrank auf«, bittet er. Was will er?, fragt sie sich.

»Fräulein, im oberen Fach«, sagt Herr Gerlach. »Schauen Sie doch nach, Fräulein.«

Sie öffnet den Schrank. »Da liegt ein Strick, sonst nichts.«

»Nehmen Sie ihn heraus, Fräulein, bitte.«

Sie nimmt ihn aus dem Fach und hält ihn unschlüssig in der Hand. Er ist kurz und kräftig, fast wie ein Schiffsseil. Will er sich heimlich abseilen? Damit kommt er nicht mal bis zur unteren Etage.

Herr Gerlach richtet sich auf und greift nach Maries Hand mit dem Strick. Er hält sie wie in einem Schraubstock fest und sieht ihr in die Augen. »Fräulein, wenn ich mal nicht mehr kann, wenn ich da mal nicht mehr hinlangen kann, dann nehmen Sie den, Fräulein, ich bitt Sie.«

»Was soll ich tun, Herr Gerlach?«

»Dann machen Sie ein Ende mit mir, ich bitt Sie. … Sie sehen mich so an, Fräulein … Sie sind noch jung … und so schöne Haare, wie meine …«

Marie reißt die Hand weg.

»Tun Sie es für mich, Fräulein, versprechen Sie es mir!«

»Ich … darf das nicht … nicht mal versprechen …«, stottert sie.

»Wenn ich hier lieg und nicht mehr aufstehn kann! Fräulein! Ich bitte Sie inständig!«

»Nein, nein!«, ruft Marie und rennt hinaus.

»Haste Bock«, fragt Bastian, »brauch neue Klamotten.«

»Hm«, erwidert Marie, »nach Dresden reinzufahren hab ich keine Lust mehr, morgen Frühdienst.«

»Wer sagt denn was von Dresden«, murmelt er.

»Wo willste denn in Radeburg Klamotten kaufen, hier gibt’s doch nichts.«

»Hab ’nen Schlüssel zur Schatzkammer«, sagt er und greift sich in den Schritt.

»Haha«, erwidert Marie betont gelangweilt.

»Kommste mit?«

»Wohin?«

»Wirste schon sehn.«

»Wenn du dich nicht anständig benimmst, schrei ich.«

»Dort wo wir hingehn, hört dich eh keiner.« Er nimmt sie an der Hand und rennt los, den Kiesweg hinunter. Auf halbem Weg bleibt er stehen, vor der großen Garage, in der sie die Fahrzeuge für die Anstalt parken. Einen Kleinlaster, einen Wartburg-Kombi, einen Trabi, zwei alte Motorräder. Von unten, aus dem Stall, wiehern die Ponys.

»Was willst’n hier, Trabi klauen?«

»Ich klau den Spießern doch nicht ihren Trabi, grenzt ja an Mord.« Er zieht einen kleinen Schlüssel aus der Hosentasche, sieht sich um, sperrt auf und zieht Marie in die Garage. Die Türe kracht ins Schloss.

In der Garage ist es finster. Bin ich bescheuert?, fragt sie sich. Ich bin dem hier hilflos ausgeliefert, der kann hier mit mir machen, was er will. Und wenn? Will ich oder nicht?

13,99 €