Hotel der Alten

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Hotel der Alten
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Autorin Regina Page

Regina Page

Hotel der Alten

Roman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Illustrationen gezeichnet von UWE LANG

Freier Bauplaner und Kunstmaler

Warendorf - Freckenhorst

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Die Autorin

Personenverzeichnis

Eingangshalle

Hilde wartet

Hildes Abschied von zu Hause

Bekanntschaft mit Gisela, Gerlinde und Ingeborg

Gerlinde

Schwiegertochter Helene

Tradition

Der Bauer hielt um ihre Hand an

Morgens im Altenheim

Annäherung

Hilde verliert die Hose

Giselas Urlaub

Russisch Ei

Freudige Entdeckung

Nur geträumt

Hilde haut ab

Mit einem kleinen

Ingeborgs Aufgabe

Unruhe im Hotel der Alten

Wichtige Vorschriften

Abendgesang

Tage zuvor

Ärger kommt auf

Heinz verschwindet

Damals im Café

Heinz der Tausendsassa

Der nächste Tag

Überraschung am Morgen

Vorbereitungen

Heinz und die Damen

Das Konzert

Giselas Erkenntnis

Der Weg ohne Wiederkehr

Abschied von Gisela

Hildes Trauer

Spielereien

Gerlindes Verdacht

Heftige Debatte

Gerlinde hört zu

Ein böser Tag für Heinz

Maria

Maria kommt nach Hause

Der Morgen

Der Abend

Der Beamte

In der Nacht

Maria sucht ihr Collier

Hilde entdeckt die Liebe

Marias Unmut

Liebe im Alter

Nach dem Mittagessen

Nachmittag

Ingeborg

Gerlinde

Hilde

Gisela

Nachlese

Regina Page

Weitere Bücher der Autorin

Ingeborg, 90 Jahre alt

Die Geheimnisvolle

Beruf unbekannt, tut sehr geheimnisvoll, wenn es um ihre Vergangenheit geht. Ingeborg hat eine Tochter, die vermögend ist. Sie profitiert von deren Reichtum.

Ingeborg hat hohe Ansprüche, die ihr von ihr erfüllt werden. Sie hebt sich hervor durch ihre Kleidung, trägt Kaschmir- Pullover und Ballerinas; sie hat einen kurzen Haarschnitt, rot eingefärbt, und knallrot lackierte Fingernägel. Ingeborg hat Kulturwissen. Sie hat viele Bücher gelesen und zeigt gerne ihre Überlegenheit. In ihrer Heimatstadt war sie im gemischten Chor und kennt von allen Liedern den kompletten Text.

Hilde, 72 Jahre alt

Eine ehemalige Reinigungskraft

Hilde ist unkompliziert in ihrer Art, heiter und klaglos. Sie wohnte ihr Leben lang im Ruhrgebiet, lebte dort bis zu jenem Tag, als sie ihren Haushalt nicht mehr bewältigen konnte. Ihr Leben war nicht immer einfach, war sie doch später alleinstehend geblieben. Sie sah keinen Grund, den Menschen in ihrem Umfeld misstrauisch zu begegnen, obwohl ihr Ehemann sie schon in jungen Jahren ihrer Ehe verließ. Sie fühlte sich in ihrem Leben nicht einsam.

Hilde war zufrieden mit der Aufgabe, ihren Sohn aufzuziehen und die Grundschule des Ortes sauber zu halten.

Sie benutzt die einfache Sprache und hat ihren Ruhrpott-Charme im Alter behalten. Seitdem Hilde im Altenheim ist, spricht sie viel über die Vergangenheit.

Sie liebt den Dortmund-Ems-Kanal. Dort war sie zu Hause und glücklich in ihrer Welt. Der Kanal lässt sie nicht los. Sie kann den Ort, wo sie zu Hause war, nicht vergessen und zieht sich oft in ihre Träume zurück.

Ihr größter Wunsch ist es, an einem Sommertag an den Kanal zu fahren. Sie hat Hoffnung; wenn ihr Sohn kommt, wird sie mit ihm ganz gewiss einen Ausflug machen.

Sie war im Leben stets unsicher, daher wurde sie oft fremdbestimmt. Hilde ließ es zu und hörte zu oft auf die Ratschläge anderer.

Gerlinde, 78 Jahre alt

Die Bäuerin

Gerlinde hat vor einigen Monaten den Hof ihrem Sohn übergeben. Schon einen Tag später sah sie in ihrem Leben keinen Sinn mehr.

Sie war stets Bäuerin. Sie hat grobe Hände mit rissiger Haut und trägt bunte Kittel. Gewohnheitsmäßig. Mit der Familie vom Gut vertrieben, kam sie aus Schlesien.

Auf dem Fluchtweg verlor sie irgendwo ihre Mutter.

Kein Tag vergeht, an dem sie nicht an sie denkt. In ihren Träumen sucht sie nach ihr. Die Arbeit bestimmte ihr Leben. Ihre Ehe mit dem Bauern war eine Zweckgemeinschaft.

 

Und doch erfüllte dies alles ihr Leben ganz.

Sonntags will sie Schweinebraten mit schlesischen Knödeln. Gibt es etwas anderes, ist es kein Sonntag für sie. Sie quatscht in sich hinein, sie ist oft verwirrt. Die Schwiegertochter ist die Einzige, die sie besucht. Gerlindes Sohn meidet das Hotel der Alten und seine Mutter.

Gisela, 82 Jahre

Die selbstbewusste Mürrische

Gisela war Sekretärin in der ehemaligen DDR, sie lebte in der Großstadt. Sie ist sehr selbstbewusst. Ein Leben lang lebte sie allein, an Selbstständigkeit gewohnt. Im Alter kriegt sie nicht mehr alles so hin, wie sie es gewohnt war.

Daher ist sie oft mürrisch und ungehalten. Sie benutzt einen Gehwagen und nennt es das „Ding“. Gisela schaut oft aus dem Fenster. Sie macht viele Notizen.

Sie ist Frühaufsteherin. Und sie nutzt die Zeit am Morgen, um in ihren Büchern zu lesen. Sie spielt mit den Händen, wartet auf etwas, nur auf was, das weiß sie nicht. Sie hat keine Familie.

Einigkeit am Tisch herrscht nur, wenn sie gemeinsam mit Schwester Birgit Lieder aus vergangener Zeit singen.

Maria 70 Jahre

Die Genießerische

Maria ist Witwe und genießt in vollen Zügen ihr Dasein. Mit der Hinterlassenschaft ihres Ehemannes ist sie unabhängig. In ihrem Umfeld ist sie unbeherrscht und Eitel. Für zwei Jahre war Heinz der Lebensgefährte von Maria, bis er fluchtartig ihre Wohnung verließ.

Sie wird dement und das hat Folgen.

Heinz, der Gentleman 68 Jahre

Der Charmante

Heinz freute sich auf sein Leben im Alter. Doch nach der zweijährigen Erfahrung mit Maria sieht sein Leben anders aus, als er es sich am ersten Tag als Rentner ausgemalt hatte.

Heinz zieht nach seinem Missgeschick in der Küche die Konsequenzen. Er verschwindet sang- und klanglos aus der Wohnung von Maria. Nicht nur das Leben von Heinz sieht danach anders aus, auch die vier Damen profitieren von seinem Charme.

Nach seinen Vorstellungen, wie er sein Rentnerdasein zu leben wünschte, kommt es anders, als er es sich gedacht hatte.

Schwester Birgit

Die Engagierte

Als Pflegeschwester im Altenheim versucht Birgit den Bewohnern, das Leben etwas anders zu gestalten, als es die Vorschriften vorgeben.

Ihr Einsatz nach Feierabend, den Alten Etwas Freude zu bereiten, zeichnet sie aus.

Sie macht das, was den Menschen dort gefällt: Sie singt mit ihnen gemeinsam.

Was bleibt,

wenn der Mensch nicht mehr hoffen darf?

Eingangshalle

Die mit Lederpolstern eingerichtete Empfangshalle ist der Mittelpunkt für die Bewohner vom Hotel der Alten. Dort ist es hell und im Raum herrscht eine freundlich stimmende Atmosphäre. Die Alten lieben es, sich an diesem Ort zu treffen.

Zwischen den Sitzgruppen stehen verschiedene Grünpflanzen, Gummibäume und Ficus Benjamins. Die Pflanzen sind im Laufe der Jahre zu Bäumen herangewachsen und schmücken den Raum zu einer grünen Oase.

Dieser Treffpunkt ist bei den Bewohnern zu einer Wichtigen Kommunikationsstätte geworden. Ein Gemurmel hallt stets durch den Raum. Hier und da bilden sich in den Morgenstunden kleine Gruppen. Sie lachen über Witze, die ein Mitbewohner schon mehrmals erzählt hat.

Er hat nicht bemerkt, dass er den Witz schon zu oft zum Besten gegeben hat.

Es wird dann mehr über seine Vergesslichkeit, als über seine Witze gelacht. Wenn sie sich nichts mehr zu sagen haben, Neuigkeiten ausgetauscht und ihre Familiengeschichten zum wiederholten Male geschildert haben, verlassen sie, wie jeden Morgen, den freundlich stimmenden Ort.


Einige wohnen seit vielen Jahren im Hotel der Alten. Sie gehen täglich zusammen in den Speiseraum. Die Meisten begrüßen sich herzlich, andere laufen aneinander vorbei.

Doch das Treffen am Morgen ist für sie sehr wichtig und mit der Zeit für einige Bewohner zu einem bedeutsamen Ritual geworden.

Für Frühaufsteher beginnt der Tag, sobald sich der Himmel erhellt. Auch in den Wintermonaten steht für sie ab sieben Uhr früh schon der Kaffee in Thermoskannen bereits auf ihrem Platz. So stellen sich die Bewohner des Hauses unterschiedlich auf den Tag ein.

Mit der Hoffnung, dieser wird für sie etwas Schönes bringen, ein langersehnter Wunsch könnte sich plötzlich erfüllen.

Sie könnten sich wohlfühlen, wenn da nicht bei einigen die Sehnsucht nach der Familie wäre. Die Aussicht auf einen Verwandtenbesuch; die Erinnerung an die Familie stellt sich immer wieder bei ihnen ein, wenn sie sich auf den Tag freuen. Die Sehnsucht nach „früher“ ist immerfort in ihren Gedanken.

Sie versuchen Freundschaften zu schließen um etwas Nähe zu spüren. Dafür treffen sie sich im Eingangsbereich des Hauses, versuchen ein Gespräch anzufangen.

„Na, was gibt es Neues …?“ – ist der entscheidende Satz. Vieles gibt es von einem Tag auf den anderen nicht zu berichten. Und doch kommen sie jeden Morgen wieder an den Ort zurück, um sich über ihre Probleme in Gesprächen auszutauschen. Unruhe entsteht erst, wenn jemand in der Gesprächsrunde fehlt. „Warum kommt Frau K. nicht …? Sie ist nicht zum Frühstück erschienen“, fragt eines Morgens ein stattlicher Herr mit einem grauen Schnurrbart plötzlich in die Runde. Stille.

„Sie war doch gestern noch hier …“, sagt die Frau neben ihm nach einer kurzen Unterbrechung der Konversationen.

In der Stille hört man das schwere Atmen der Alten. Angst kommt auf und eine schlimme Vermutung.

Das ist der Augenblick, der sie an ihr eigenes Schicksal erinnert. Bestürzung in der Runde. Furcht, den morgigen Tag nicht mehr erleben zu können. Die gute Stimmung scheint vorbei und allen ist die Freude, Neues zu erfahren, mit einem Mal vergangen. Sie treten still und nachdenklich den Weg in ihre Wohnräume an.

Die Hoffnung auf einen schönen Tag ist wie weggeflogen.

Am nächsten Morgen scheinen die Bewohner des Hauses etwas gelangweilt.

Es ist, als wäre der Himmel eingestürzt, es regnet pausenlos. Es kommt keine gute Stimmung auf.

Das Frühstück eingenommen, gehen sie zu ihrem Treffpunkt. Eigentlich ein Morgen wie jeder andere Morgen. Doch dann … Ein Aufatmen in der Runde mit der erfreulichen Nachricht, die der Herr mit dem grauen Schnurrbart verkündet. Die vermisste Frau vom Vortag muss auch heute noch das Bett hüten. „Eine einfache Erkältung!“, berichtet er. Sie warten wieder nach dem Morgenkaffee in der Eingangshalle, dass etwas passiert – oder sie warten auf einen Gesprächspartner.

Es ist für sie von großer Wichtigkeit, noch dabei zu sein und sich die neuesten Nachrichten mitzuteilen. Es kann über Politik sein, über den Tratsch im Haus oder über die neuesten Botschaften ihrer Familien. Dabei kommt es nicht auf den Wahrheitsgrad an. Einfach wieder erzählen zu können, das ist für sie wichtig … auf der Suche nach Harmonie und jemanden, der ihnen zuhört. Was blieb ihnen sonst vom Leben, fragen sie sich. Sie sehen sich an und verstehen.

Alles, was sie sich erzählen haben, ist gesagt. Dem Witze-Erzähler fällt nichts mehr ein. Der Mann mit dem Schnurrbart ist erfreut über die gute Nachricht, die er freudestrahlend berichten konnte. Still und in sich gekehrt, schlurfen sie mit Gehwagen oder einer Gehhilfe den Flur entlang. Das Ziel ist ihr kleines Reich von sechzehn Quadratmetern.

So verlässt einer nach dem anderen im alten Trott die Kommunikationsstätte.

Von Weitem hören sie noch das Klappern der Stühle im Speiseraum. Es wird geputzt.

Bis zum nächsten Gang in den Speiseraum, zur Nahrungsaufnahme, wollen sie sich in ihren Zimmern vom Tratsch erholen.

Am nächsten Morgen, werden sie sich wieder nach dem Frühstück in der Eingangshalle vom Hotel der Alten treffen.

Hilde wartet

Während die anderen Bewohner sich angeregt unterhalten, sitzt eine Bewohnerin abseits in einem der dicken Sessel in Position. Heute ist sie in Hochspannung.

Von den anderen kaum beachtet, so verharrt sie nun schon Stunden in Erwartung und es hat sich noch nichts getan.

Hilde sitzt dort oft allein und wartet auf ein Ereignis, von dem sie sich eine Überraschung verspricht.

Heute ist es anders. Hilde hat an diesem Morgen an der Küchentür gelauscht und so in Erfahrung gebracht, dass drei Zimmer für einen neuen Einzug frei sind und noch in den Vormittagsstunden besetzt werden! Das behält sie für sich. Die Neugier hat sie gepackt.

Nun hofft sie auf eine Sensation.

Den Versuch, an den Morgengesprächen der anderen teilzunehmen, wagt sie nicht noch einmal. Deutlich haben sie es Hilde durch Gesten spüren lassen: Du bist hier nicht erwünscht; und sich von ihr abgewendet.

Dabei ist es geblieben.

Hilde harrt am heutigen Vormittag in der Empfangshalle aus, um die angekündigten Neuzugänge aus der Nähe betrachten zu können. Das Frühstück hat sie ausfallen lassen. Eine Tasse Kaffee trank sie in Eile, das reichte ihr.

Unruhig verfolgt sie jeden, der auch nur in die Nähe der Eingangstür kommt. Von ihrem Platz aus schaut sie direkt auf die Straße. Sie sieht den Menschen zu, wenn sie am Haus vorbeilaufen. Sie hofft auf einen Blick von draußen.

Einen Blick von einem Menschen will sie erhaschen, einen Blick, der nur ihr gilt. In Rückblicke versunken, denkt sie an ihren Sohn. Sie hofft, er würde sie bald besuchen. Viel zu lange wartet sie schon auf ihn. Wochen sind vergangen, seitdem er sich nicht mehr bei ihr gemeldet hat. Hilde ist traurig über sein Verhalten.

Während sie darüber nachdenkt, kommen die anderen Bewohner vom Frühstücksraum dazu. Die Halle füllt sich.

Hilde hat sich an das Gemurmel der Bewohner gewöhnt.

Sie schaut nicht mal mehr in deren Richtung.

Ihr ist nicht bewusst, warum man sie meidet. Hilde bleibt allein. Die Hausgenossen, die etwas abseits von ihr sitzen, meiden auch heute ihre Nähe. Sie nehmen kaum Notiz von ihr.

Für Hilde ist der Weg nach draußen ein Tabu, da sie die Unsicherheit auf der Straße zu laufen, auch hier nicht verloren hat. Im Haus fühlt sie sich sicher und geborgen.

Geduldig wartet sie auf die Neuankömmlinge.

Werden sie mich mögen? Werden sie bleiben …?, fragt sie sich. Hilde hofft auf Freundschaften.

Hildes Abschied von zu Hause

Hilde war an einem Montagmorgen im Altenheim angekommen. Sie hatte sich für das Haus entschieden, weil ihre Betreuerin ihr zu dem Umzug geraten hatte.

Frau Wagner, die Betreuerin, kümmerte sich schon seit vielen Jahren um ältere Menschen. Zu Hilde hatte sie ein besonders freundschaftliches Verhältnis. Sie mochte die nette Art, die Ehrlichkeit und die Fröhlichkeit, mit der sie Probleme einfach wegschmunzelte. „Es ist dort, als wären Sie in einem Hotel untergebracht“, sagte sie eines Tages zu ihr.

Hildes Sohn wurde auf die Schussligkeit seiner Mutter aufmerksam. Hilde vergaß oft, den Wasserhahn zuzudrehen.

So vergaß sie auch, wenn sie sich etwas am Herd kochte, die Platten auszustellen. Die Herdplatten glühten. Und sie vergaß, die Fenster zu schließen und das Licht auszumachen. Der Sohn machte sich schon eine längere Zeit Sorgen um die Mutter. Hilde war zu lange allein, seit sie Rentnerin war. Er bestellte damals eine Betreuerin, die zwischenzeitlich bei Hilde vorbeikam.

Selbst bei den kleinsten Pflichten, dem täglichen Einkauf oder bei Arztbesuchen hatte sie bei der Straßenüberquerung Schwierigkeiten, die Ampel im Auge zu behalten. Hilde fürchtete sich. Selbst über den Fußgängerüberweg, der ihr eigentlich sicher schien, konnte sie die Straße nicht überqueren. Oft lief sie nach einigen Schritten wieder zurück auf die Seite, von der sie gekommen war. Die Bäckerei und ein Gemüseladen waren zu ihrem Glück auf der Straßenseite ihrer Wohnung.

 

Größere Einkäufe machte sie nur, wenn ihr Sohn sie zum Großmarkt mitnahm.

Die Betreuerin bemerkte bald ihre Ängste. Sie sah, wie sie auswich, auf die andere Seite der Straße zu gehen, und so half sie ihr bei wichtigen Erledigungen.

Hilde konnte ihre Phobie einige Zeit überwinden.

Sobald ihr jemand die Hand reichte, fühlte sie sich sicher. Diese Unsicherheit hatte sich ganz plötzlich bei ihr eingestellt. Von einem Tag auf den anderen war bei ihr alles anders. Sie musste sich bald eingestehen, dass das Leben in der eigenen Wohnung sie überforderte.

Hilde war erst vor einem halben Jahr im Hotel der Alten eingetroffen. Ihren Haushalt hatte sie bis zum Schluss selbst versorgt. Viel von dem, was ihr mal gehörte und was ihren Lebensinhalt ausmachte, ließ sie zurück.

Den Entschluss, ins Altenheim zu ziehen, hatte sie selbst getroffen. Die Probleme hatte sie somit hinter sich gelassen.

Für sie eine Erleichterung, doch wenn sie des Morgens aufwachte, war ihre Wahrnehmung, sie wäre wieder zu Hause in ihrer gewohnten Umgebung.

Hilde kuschelte sich dann wieder unter die Bettdecke, bevor sie richtig wach wurde. Die Sehnsucht packte sie, fast täglich.

Später sitzt sie geduldig in ihrem Sessel und zu lange auf der Lauer. Auf dem Polster machen sich bereits einige feuchte Flecken bemerkbar.

Sie vergisst nicht zum ersten Mal den Weg zur Toilette. Vorsichtig schaut sie in die andere Richtung, damit die Schwester, die gerade die Empfangshalle betritt, nicht sofort das Missgeschick sieht. Hilde winkt ihr freudig zu, um abzulenken. Vergeblich. Der Versuch, die Schwester zu täuschen, misslingt.

Ihr kleines Manöver ist durch ihre ungeschickte Art aufgefallen. Leise will sie sich davon schleichen.

Nachdem sie mit ihrer nassen Windelhose der Schwester doch noch begegnet, fällt ihr es schwer, ihr Malheur vor ihr ganz zu verbergen. Sie schämt sich.

Gerade steigt die Neue aus dem Wagen. Diesen Moment will sie nicht verpassen. Sie sieht auf die Straße, zum Auto – und kann miterleben, wie die Dame aus dem Wagen steigt.

„Wissen Sie, wie die Neue heißt?“, fragt Hilde, während sie mit Schwester Birgit schon auf dem Flur ist.

„Nein“, ist ihre Antwort kurz und knapp.

Es ist ihr wichtig, dass Hilde die Empfangshalle schnell verlässt und gibt ihr einen leichten Schupps.

Schwester Birgit hat für Hilde Sympathie und Mitgefühl. Es tut ihr leid, weil sie durch ihre Unachtsamkeit von den Anderen gemieden wird. Die Windelhose hängt ihr durch die gespeicherte Nässe fast in der Kniekehle.

Geduckt läuft sie durch den Flur. „Kommen Sie, Hilde, ich helfe ihnen.“

Die Schwester begleitet sie, sieht, wie das schwere Nass ihr schon unterm Kleid hervorschaut. An der Tür zu ihrem Zimmer angekommen: „Danke Schwester, ich kann das schon alleine.“ Es ist ihr peinlich. „Ich werde demnächst besser aufpassen, dass es nicht wieder passiert“, verspricht Hilde kleinlaut.

„Sie wissen doch, ich kann ihnen nur vier Stück am Tag geben“, sagt Schwester Birgit. Sie ist schon länger verärgert über die Vorschriften der Unmenschlichkeit und geht.

Hilde nickt ihr verständnisvoll hinterher. Und bevor sie sich aufmacht, ihr Zimmer zu betreten, sieht sie zurück, wagt in ihrer brisanten Situation, noch schnell einen Blick in die Richtung der Eingangstür.

So kann Hilde noch sehen, wie die Frau gerade ihren Gehwagen aus dem Kofferraum des Wagens hebt. Etwas ruppig betätigt sie sich am Kofferraum, bevor der Fahrer ihr helfen kann. Schade, sagt sie zu sich, jetzt habe ich so lange gewartet. Und insgeheim hofft sie, dass vielleicht doch keiner ihrer Mitbewohner ihr Missgeschick bemerkt hat. Es stinkt in ihrer Nähe nach Urin. Der Grund weshalb sie oft alleine bleibt. Für die anderen Bewohner ist es nicht zu ertragen. Somit bleibt sie bei dieser Gesellschaft eine Außenseiterin.