TEXT + KRITIK 230 - Loriot

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TEXT + KRITIK 230 - Loriot
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TEXT+KRITIK.

Zeitschrift für Literatur

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

Redaktion:

Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Peer Trilcke

Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus

Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,

Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96

Print ISBN 978-3-96707-487-1

E-ISBN 978-3-96707-489-5

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: Isolde Ohlbaum

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021

Levelingstraße 6a, 81673 München

www.etk-muenchen.de

Inhalt

Anna Bers / Claudia Hillebrandt

Sitzmöbel und Schieberhut. Richtungsweisendes

Christoph Classen

Lachen nach dem Luftschutzkeller. Loriot in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft

Tom Kindt Loriot und der deutsche Humor?

Eckhard Pabst »Das Bild hängt schief!« Loriots TV-Sketche als Modernisierungskritik

Gertrud Vowinckel-Textor Witz mit Über-Biss. Loriots künstlerisches Spiel mit Realität und Widerspruch im Kontext humoristischer Zeichnungen des 20. Jahrhunderts

Felix Christian Reuter Loriots Fernsehsketche – mehr als nur Klassiker. Ein Plädoyer für eine historisch-kritische Loriot-Ausgabe

Claudia Hillebrandt Von Schwänen und Fahrplänen. Loriots komische Oper

Ulla Fix Was ist das »Loriot’sche« an Loriot? Eine Betrachtung seiner »Ehe-Szenen« aus der Perspektive der kommunikativen Ethik

Anna Bers Von Räumen, Träumen und Türen. Aspekte räumlicher Semantik in Loriots Spielfilmen

Stefan Neumann »Menschen sind an der Leine zu führen!« Der Hund bei Loriot

Bibliografische Hinweise

Notizen

Anna Bers / Claudia Hillebrandt

Sitzmöbel und Schieberhut Richtungsweisendes

Folgen Sie der Aufforderung des Titelporträts dieses Bandes: Loriot als Mann mit Landgut und Schieberhut lädt die Betrachtenden dazu ein, ihm und seinem Korbstuhl in die Tiefe der Landschaft zu folgen. Kostüm und Requisite sind bruchlos vertraut. Die offenherzige Geste und das für Loriot-Bildnisse eher seltene Halbprofil in Bewegung sind es weniger. Kanonische Bildnisse Vicco von Bülows zeigen seine Frontalansicht (fakultativ auch die seiner Möpse) und setzen auf Statik und auf in üblicher Verwendungsweise genutzte Sitzmöbel. Die Dynamik des Titelbildes kann dagegen vermuten lassen, dass es im Schatten noch mehr zu entdecken gibt als den Schmunzler auf dem Sofa. Dieser Band ist eine Einladung, den bürgerlichen Korbstuhlkomiker, aber auch die unbekannteren Seiten Loriots besser kennenzulernen.

Eine der schärfsten Abrechnungen mit Loriots Werk stammt aus der Feder von Wolfgang Hildesheimer. Am Ende seiner Rezension von »Loriots heile Welt. Neue gesammelte Texte und Zeichnungen« resümiert er 1973 im »Spiegel«: »Loriots Beliebtheit beruht auf einem programmatischen Sieg der Unschuld, der die Frage, wo denn das Positive bleibe, verstummen läßt. Er führt es vor mit seinen Figuren, und es ist ihm immerhin gelungen, mit seinem Standardmännchen einen Archetypen zu prägen, den kleinen Begleiter, den harmlosen Vergnügenspender für viele. Das macht ihn – ich hoffe, das Wort ist nicht zu hart – liebenswert.«1 Aus dem Textzusammenhang wird deutlich, wie hart, ja, vernichtend das Wort »liebenswert« in Wirklichkeit ist. Es ist geradezu der Inbegriff all dessen, was laut Hildesheimer eben nicht zum Kern der komischen Kunst gehört oder jedenfalls gehören sollte: »Loriots wachsende Popularität beruht zum großen Teil auf der dezidierten Entscheidung für den low brow-Stil, auf seiner (…) Parteinahme für ein Publikum, das mit ihm alles verdrängt, was sticht, verletzt und schmerzt.«2 Subtiler und böser kann man den satirischen Charakter von Loriots Schöpfungen kaum bestreiten.

Doch dieses Urteil mag aus heutiger Sicht vorschnell gefällt sein. Loriot selbst jedenfalls hat wiederholt den satirischen Anspruch seiner Zeichnungen, Sketche und Filme hervorgehoben. Vor diesem Hintergrund überrascht die Tatsache, wie wenig auch neun Jahre nach Loriots Tod bisher über Stoßrichtung, Verfahren und Hintergründe seines Humors geschrieben wurde.3 Als Vertreter des schwarzen Humors wird man ihn wohl schwerlich gelten lassen können, doch dass sein komischer Kosmos wirklich so harmlos ist, wie von Hildesheimer behauptet, wäre erst noch zu zeigen. Die Beobachtungen der in diesem Band versammelten Beiträge bestätigen Hildesheimers Vorwurf der reinen Liebenswürdigkeit nicht. Vielmehr zeichnen sie ein differenzierteres Bild des Humoristen Loriot und seiner Schöpfungen.

Die Beiträge bieten einen Überblick über die Zielrichtung von Loriots Satire, Medien seiner Kunst und einzelne prominente Themen seiner Komik.

BRD, Bildungsgut und Bildschirm – Gegenstände der Komik: Christoph Classen rekapituliert die mal skandal-, mal einträchtige Beziehung zwischen Loriots Kunstwerken und ihrer Gegenwart in der Nachkriegs-BRD. Tom Kindt geht auf die Suche nach spezifisch deutschen Traditionslinien des Loriot’schen Humors. Eckhard Pabst identifiziert eine Sehnsucht nach Werten und Ästhetiken einer unerreichbar vergangenen bürgerlichen Welt, deren Nachklang die Komik Loriots nährt.

Cartoon, Sketch, Operntexte – Medien der Komik: Gertrud Vowinckel-Textor betrachtet Loriots Ursprünge im Genre des Cartoons vor dem Hintergrund der Bildtraditionen, in denen sie stehen. Felix Reuter spürt der Verweisdichte in Loriots Sketchen nach und verknüpft diesen Nachweis mit der Forderung nach einer Gesamtausgabe, die diese formen- und facettenreichen Bezüge auch späteren Generationen verfügbar macht. Claudia Hillebrandt untersucht Loriots spezifisch affirmativ-komischen Zugang zur Welt der Oper, insbesondere zu Richard Wagner.

Paare, Dreidimensionales, Vierbeiner – Themen der Komik: Ulla Fix deckt mit den Mitteln der Gesprächsanalyse Loriots Rezept genüsslich inszenierten Kommunikationsversagens auf und differenziert dessen erlesene Zutaten: verschiedene Arten der Kooperationsverweigerung. Anna Bers nimmt die nur scheinbar immergleichen bürgerlichen Stadtvillen in Loriots Filmen in den Blick und erschließt deren Zeichencharakter als Summe des Sketch-Werkes. Stefan Neumann verfolgt schließlich die Spur eines heimlichen Hauptdarstellers in Loriots Werk: des Hundes, und zeigt auf, welche Funktion dieser für Loriots Entlarvung menschlicher Schwächen hat.

Es gäbe noch viele weitere Winkel und Ecken im Loriot’schen Werk zu begutachten: Bereiche, die in dieser kleinen Zusammenschau fehlen, sind zum Beispiel Loriots Wirken in der DDR und die Frage, warum Loriots Humor außerhalb des deutschsprachigen Raums noch immer keinen Anklang findet und etwa französische Schulklassen konsterniert zurücklässt. Auch Details seiner Sprachkunst bedürften weiterer Untersuchung ebenso wie Loriot als Autor von Schrifttexten. Zu fragen wäre, wie subversiv eigentlich sein Geschlechterbild ist, wenn man ihn gleichzeitig für einen Kritiker von Hetero-Normen4 und einen Gewährsmann für die Güte traditionell-ungleicher Rollenverteilung halten kann.5 In diesem Sinn kann man sich zukünftig eine intensivere wissenschaftliche Landschaftspflege in Loriots Garten wünschen als bisher.

Die Loriot-Landschaft, in die uns sein Titelporträt einlädt, zeigt sich demnach vielgestaltig. Wichtige Landmarken sind jedoch aus vielen Perspektiven zu erkennen: Seine Komik entsteht oft im Kollaps des Regelkanons von Benimm und Biedermeier. Der bürgerliche Bürgerversteher Loriot setzt auf Zitat und Hochkultur und gönnt seinesgleichen den Genuss, die Welt der schönen Kunst niemals aus-, immer wieder aber im Modus des Connaisseurs, der Connaisseuse anzulachen. Mops und Steinlaus, Lametta und Jodeldiplom treffen einen offenbar zeitlosen Humornerv und sind erstaunlicherweise auch noch Menschen geläufig, die so jung sind, dass sie als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen vielleicht gerade noch Loriots 70. oder 80. Geburtstag zur Kenntnis nehmen konnten.

So geschieht es bis heute, dass ein gescheiterter Dialog zwischen den eigenen Eltern, eine wohlplatzierte Interjektion wie »Ach was!?« oder eine ironische Alltagsgeste in stillem oder euphorischem Einverständnis zwei Menschen verbindet, die feststellen: »Das ist doch wie bei Loriot.« Nicht selten schließt sich an diese Erkenntnis ein Rezitations-Duett oder -Duell (je nachdem) aus jenen Zitaten und Gesten an, die bis heute im Gedächtnis so vieler präsent sind. Die Herausgeberinnen fordern Sie dazu auf, Ihren eigenen Fundus zu bemühen, um mit den Worten von Opa Hoppenstedt, Frau Blöhmann, Heinrich Lohse, Wum und Wendelin, Herrn Doktor Klöbner, Frau Tietze, Herrn Meckelreiter oder einer anderen zeitlosen Figur diesem Band ein Motto zu geben.

 

»………………………………………..« Loriot

1 Wolfgang Hildesheimer: »Nackte Frau auf Bratenplatte. Wolfgang Hildesheimer über: ›Loriots heile Welt‹«, in: »Der Spiegel« 19 (1973), S. 169. — 2 Ebd. — 3 Vgl. die Auswahlbibliografie bei Stefan Neumann: »Loriot und die Hochkomik. Leben, Werk und Wirken Vicco von Bülows«, Trier 2011, S. 429–440. — 4 Vgl. Michel op den Platz: »›Männer sind … Und Frauen auch … Überleg dir das mal!‹ Wider die heteronormative Lesart von Geschlechterbildern im Werk Loriots«, Würzburg 2016. — 5 Vgl. Jean-Martin Büttner: »Sagen Sie jetzt nichts«, in: https://www.tagesanzeiger.ch/bitte-sagen-sie-jetzt-nichts-762313432024 (11.12.2020).

Christoph Classen

Lachen nach dem Luftschutzkeller Loriot in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft

»… es muß in der Bundesrepublik bestürzen,

daß der deutsche Humor, als Qualitätserzeugnis

einst auf dem Weltmarkt führend, heute kaum

0,02 Prozent der Exportquote ausmacht …«

Loriot1

Das mehrbändige autobiografische Romanwerk des Schauspielers und Schriftstellers Joachim Meyerhoff ist nicht zuletzt ein bisweilen sehr komisches Sittengemälde der alten Bundesrepublik. Der zweite Teil handelt von der Kindheit und Jugend des Autors in den 1970er und 1980er Jahren. Hier findet sich die Episode vom Kanarienvogel der Familie, dem sein Bruder mühevoll mit Hilfe eines Kassettenrecorders den Satz »Ich heiße Erwin Lindemann« beigebracht hatte. Als der Vogel eines Tages entflog, war aus einem hohen Baum leise, aber unablässig zu vernehmen: »Ich heiße Erwin Lindemann, ich heiße Erwin Lindemann, ich heiße Erwin Lindemann …«.2 Diese Anekdote gleicht in ihrer Tragikomik jenem Fernsehsketch um den verwirrten Lottogewinner, den der Vogel zitiert. Vor allem aber zeugt sie von der Präsenz von Loriots Werk – und insbesondere seiner Fernseharbeiten – in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Nicht nur dieser Satz ist längst viel prominenter als der Film, auf dessen Titel er anspielt,3 viele Formulierungen und Namen aus Loriots Werken sind mittlerweile zu stehenden Redewendungen geworden: vom Nostalgie-spöttischen »Früher war mehr Lametta« bis zum Interesse heuchelnden »Ach was?!« – die Beispiele ließen sich fortsetzen.

Schon aus Gründen der Arbeitsersparnis könnte man daher geneigt sein, dem nonchalanten Diktum des Historikers Christoph Stölzl zuzustimmen: »Wenn man die Geschichte unseres Landes nach dem Zweiten Weltkrieg schreiben will, kann man getrost auf die Tonnen bedruckten Papiers der Sozialforscher verzichten und sich Loriots gesammelten Werken zuwenden: Das sind wir, in Glanz und Elend«.4 Allerdings kann man die Frage eben auch umdrehen: Wie konnte Loriots Humor zu einem Signum der bundesdeutschen Geschichte werden? Zumal Stölzl selbst treffend anmerkt: »Die junge Bundesrepublik, schwankend zwischen Katzenjammer und Verdrängung, war eigentlich kein idealer Ort für Ironie«.5 Und das ist noch ein Euphemismus für die selbstbezogene Larmoyanz und grassierende Verantwortungsabwehr der Zusammenbruchsgesellschaft.

Die Frage stellt sich umso mehr, als den Deutschen traditionell vieles nachgesagt wird, etwa der Hang zu »Sekundärtugenden«, mit denen man, Oskar Lafontaines bösem (gegen Helmut Schmidt gerichteten) Diktum zufolge, »auch ein KZ betreiben« könne,6 aber gewiss keine Tendenz zu anarchischem Humor und Selbstironie. Letztere werden bekanntlich eher auf der britischen Insel verortet, zum Beispiel bei der Komikergruppe Monty Python, die solche Nationalklischees in ihrer etwa zeitgleich mit Loriots Fernseharbeiten in der BBC ausgestrahlten Show »Flying Circus« zum Thema gemacht hat: In ihrem Sketch »The Funniest Joke in the World« entwickeln die Briten während des Zweiten Weltkriegs als Waffe einen Witz, über den sich jeder (buchstäblich) totlacht, während die Deutschen mit ihrem in Peenemünde entwickelten »V-Joke« in England nur Befremden auslösen und daher den Krieg verlieren.7

Nun geben Nationalklischees zwar ein dankbares Feld für Satire ab, als Grundlage von Wissenschaft sind sie allerdings zu Recht aus der Mode gekommen. Will man also der Frage nach Loriots anscheinend bis heute ungebrochener Popularität nachgehen, dann bieten sich kultur- und sozialhistorische Zugänge an, insbesondere solche, die nach der Transformation der westdeutschen Gesellschaft nach 1945 fragen. In welche Diskurse hat er sich eingeschrieben, in welche gerade nicht? Dafür genügt es dann doch nicht, textimmanent zu arbeiten, auch wenn die Loriot-Gesamtausgabe, laut Axel Hacke, 1152 Seiten umfasst und 4,1 Kilogramm wiegt.8 Den Ausgangspunkt bildet vielmehr die Historiografie der Bundesrepublik. Das »bedruckte Papier« der »Sozialforscher« wird dafür also zwar nicht tonnen-, aber doch auszugsweise herangezogen werden müssen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Gemeint ist dabei hier dezidiert die ›alte‹ Bundesrepublik, also Westdeutschland von 1949 bis 1990. Zwar hatte Loriot auch in der DDR eine große Fangemeinde, und er hat als geborener Brandenburger die Verbreitung seiner Werke im Osten stets gefördert: Neben der Publikation seiner Zeichnungen im Eulenspiegel-Verlag bereits in den 1970er Jahren gab es in den 1980ern auch zwei Ausstellungen seiner Zeichnungen in Brandenburg an der Havel und in Weimar sowie eine Lesung im Palast der Republik. Loriots Verhältnis zur DDR und zur Wiedervereinigung wäre ein eigenes, lohnendes Thema. Aber dies ändert nichts daran, dass sich sein Werk thematisch auf die bürgerliche, westdeutsche Gesellschaft bezieht. Die DDR kommt allenfalls ganz am Rande vor.

Aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Bundesrepublik hat der Hamburger Historiker Axel Schildt eine Typologie von Erzählungen ihrer Geschichte skizziert.9 Die eher zeitgenössischen Entwürfe als reine Erfolgs- oder Misserfolgsgeschichte hat er dabei mit guten Gründen verworfen, übrig geblieben sind bei ihm Erzählungen als Modernisierungs-, als Westernisierungs- und als Belastungsgeschichte. Während die erste vor allem die sich rasch verändernden sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen und Strukturen der entstehenden Konsumgesellschaft betont, steht die zweite für die politische und kulturelle Westbindung im Kalten Krieg, die daraus resultierenden kulturellen Einflüsse und Liberalisierungsprozesse. Die dritte schließlich rückt den Bruch und die Konsequenzen in den Vordergrund, die sich aus der moralischen und materiellen Katastrophe des Jahres 1945 ergaben. Dieses komplementäre Raster soll im Folgenden dazu dienen, der Beziehung zwischen Loriot und der deutschen Gesellschaft ein wenig näherzukommen.

Witz im Wirtschaftswunder. Loriot und die Modernisierung der Bundesrepublik

Vielleicht am offensichtlichsten sind die Bezüge Loriots zur Geschichte der Bundesrepublik als Modernisierungserzählung. Das betrifft zum einen ihre Medialisierung, also die wachsende Bedeutung der populären Massenmedien und die Durchsetzung des Fernsehens. Denn vor allem den nun populären, visuellen Medien verdankte Loriot seinen Erfolg: Seine ersten Zeichnungen und Satiren erschienen in der illustrierten Presse, unter anderem im »Stern«, in »Weltbild« und »Quick«. Schon ab Mitte der 1960er Jahre kam dann das noch junge, in bildungsbürgerlichen Kreisen ebenfalls wenig geschätzte Fernsehen hinzu, wobei er dort zunächst besonders mit Trickfilmen vertreten war, einem Medium, das bis dato allenfalls Kinder adressierte. Sein erster Kinospielfilm hatte dagegen erst 1988 Premiere.

Zum anderen war die sich entfaltende Konsumgesellschaft eines der zentralen Themen von Loriot: Immer wieder ging es bei ihm mit durchaus kulturkritischem Unterton um ihre vermeintlichen Segnungen, etwa die verlogenen Versprechen der Werbung, um besinnungslosen Konsum, die fragwürdigen kulturellen Leistungen der Massenmedien oder die problematischen Auswüchse der individuellen Motorisierung und des zunehmenden Tourismus. Dies lässt sich besonders an seinen Cartoons aus den 1950er und 1960er Jahren festmachen, ebenso wie an seinen Beiträgen zur Quick-Kolumne »Der ganz offene Brief« (1957–1961). Doch selbst in den späteren Fernseharbeiten sind diese Themen noch sehr präsent: Man denke nur an den Vertreterbesuch bei Familie Hoppenstedt oder die durch eine Betonwüste irrende Touristenfamilie auf der Suche nach dem Strand.

Der Umgang mit diesen Phänomenen und ihren kulturellen Konsequenzen bildet ein Kernthema des Frühwerks. Dabei scheint es sich bei der Gesellschaft, die Loriot porträtiert, stets um eine Art »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« zu handeln, also Helmut Schelskys zeitgenössische Vorstellung einer hegemonialen Mittelschicht10 – andere Milieus spielen kaum eine Rolle. Gewandet sind seine Parodien allerdings oft im Stil der untergegangenen Welt des frühen 20. Jahrhunderts: Die Männer tragen Stresemann, Fliege und Bowler, die Frauen geblümtes Kleid, »hier gibt es noch Hörrohre, Haarknoten und das Haustier als Problem«.11 Jenes rückwärtsgewandte Dekor der frühen Bundesrepublik, an dem sich im Zuge der 68er-Bewegung oft die – freilich zu oberflächliche – Einschätzung als restaurativ festgemacht hat, es findet sich auch hier.

Die Komik Loriots in der frühen Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre kann somit einem prominenten konservativen Diskurs zugeordnet werden, der die Dynamik der Wirtschaftswunder-Gesellschaft mit Skepsis betrachtete. Aber er tat dies nicht nur in anderen, ›modernen‹ Medien und an anderen Orten als der tonangebende konservative Mainstream, sondern auch in einer demokratisierten Form. Denn anders als die traditionellen Eliten, denen es dabei immer auch um die Verteidigung ihres gesellschaftlichen Status zu tun war, ließ Loriot keinen Zweifel daran, dass er sich als Teil dieser Gesellschaft betrachtete: Als Mediennutzer, Konsument, Autobesitzer und sogar Hersteller von Werbefilmen war er selbst gleichermaßen Verursacher wie Opfer der von ihm karikierten Modernisierungsfolgen. Daher scheint das sozialgeschichtliche Etikett für die Entwicklung der frühen Bundesrepublik von einer »Modernisierung unter konservativen Auspizien« (Christoph Kleßmann)12 auch für Loriot zu passen.

Lachend auf dem langen Weg nach Westen?

Die Erzählung der kulturellen Westernisierung und Liberalisierung der Bundesrepublik ist zweifellos eng an Phänomene wie die Entwicklung des Massenkonsums und ihre Medialisierung gebunden, nur ist sie stärker auf kulturelle Transfers, auf die Einflüsse aus den Gesellschaften der westlichen Siegermächte, Phänomene der ›Amerikanisierung‹ und ihrer Abwehr bezogen. Zeitgenössisch spielten dabei überkommene binäre, antagonistische Vorstellungen von Hoch- und Populärkultur eine zentrale Rolle. Die Anstrengungen der kulturellen Eliten richteten sich auf eine Geschmacksbildung der Bevölkerung, die sich am klassischen, nationalen hochkulturellen Kanon orientierte. Demgegenüber galt die Populärkultur als ›amerikanisch‹, als minderwertig, wenn nicht schädlich. Gerade die jungen Medien Comic und Fernsehen sahen sich entsprechenden Ressentiments ausgesetzt.

Es ist daher wenig überraschend, dass die frühen Arbeiten Loriots zunächst keineswegs auf ungeteilte Zustimmung stießen, zumal sein Humor häufig auf Ironie basierte und bisweilen absurde Züge trug. Das betraf etwa die für den Stern 1953 entstandene Reihe »Auf den Hund gekommen«, deren Komik darauf beruhte, dass die Rollen von Menschen und Hunden konsequent vertauscht waren. Leser empfanden die Reihe damals als »ekelerregend und menschenunwürdig«, als »eine starke Herabsetzung des homo sapiens« und fragten, wann die »scheußlichen, menschenverhöhnenden Hundewitze« endlich aus dem Stern verschwänden.13 Offensichtlich stellte gerade diese Konstellation für manche Deutsche, die zwar den Krieg, nicht aber ihr Gefühl von Überlegenheit verloren hatten, eine schwer erträgliche Provokation dar. Der Protest war so stark, dass Chefredakteur Henri Nannen die Serie nach nur sieben Folgen aus dem Blatt warf. Kein deutscher Verlag wollte die Zeichnungen seinerzeit drucken, sie erschienen daher im neu gegründeten Schweizer Diogenes Verlag.

 

Wenig später erhielt Loriot auch vom Verlag der Zeitschriften »Quick« und »Weltbild« eine Kündigung, da »sich unsere Leser mehr und mehr gegen Ihren Stil ausgesprochen haben« und er der Bitte, sich »ein bisschen mehr am Geschmack unserer vielen Leser zu orientieren«, nicht entsprochen habe.14 Auch später noch wurden Loriots Zeichnungen als »seelisch geschädigt« und jugendgefährdend geschmäht, den Zeichner hätte ein Leser gern mit einem »kl. Fläschchen E 605« vergiftet.15 Das lag wohl auch daran, dass er der Prüderie und Bigotterie der Adenauer-Ära einen Spiegel vorhielt. Seine erste Sendung bei Radio Bremen nannte er »Loriots sauberer Bildschirm«, eine Anspielung auf die Mitte der 1960er Jahre gegründete Initiative »Aktion saubere Leinwand«, die sich gegen die Darstellung von Nacktheit und Sexualität im Film richtete. Und erkennbar hatte er Spaß daran, in dieser Sendung mit sinnfreien Nacktszenen und anzüglichen Doppeldeutigkeiten zu provozieren. Es war daher kein Wunder, dass er auch noch in den 1960er und 1970er Jahren Politiker und Kirchenvertreter gegen sich aufbrachte. Als besonderer Stein des Anstoßes erwies sich dabei der schwarze Humor seines Gedichtes »Advent«: Für die rechtsextreme »Deutsche Wochenzeitung« war die (erneute) Ausstrahlung in der letzten Folge seiner TV-Reihe bei Radio Bremen im Dezember 1978 sogar Anlass, nach dem Staatsanwalt zu rufen.16

Besonders die verbreiteten Vorstellungen von sehr weitreichenden, unmittelbaren Wirkungen der Medien wurden für Loriot zum Problem. Die Zeitkritik, die er unter anderem in der »Quick«-Kolumne »Der ganz offene Brief« übte, führte regelmäßig zu Protesten von Lesern, denen die Ironie seiner Kommentare entging oder die ihm Geschäftsschädigung unterstellten. Eine Satire über chemische Zusätze im Wein führte schließlich das Ende der Reihe herbei. Schon zuvor hatte sich Loriot über solche Vorstellungen direkter Medienwirkungen mokiert: Beeindruckt von der »kühnen Härte« des Films »Mord am Abend« habe er auf dem Rückweg vom Kino eine »vollschlanke Dame« gefesselt und geknebelt »in einem Akaziengebüsch« abgelegt. Nun frage er sich, ob er »ein Opfer der Filmindustrie« geworden sei oder »dieser Vorfall irgendwelche Rückschlüsse auf mein Inneres zu(lasse)«.17 Bezeichnenderweise blieb dieser Text unveröffentlicht. Tatsächlich wäre er wohl in einer Zeit kaum auf allgemeines Verständnis gestoßen, in der große Teile von Gesellschaft und Öffentlichkeit glaubten, Jugendkriminalität und -gewalt seien die direkte Folge von einschlägigen, primär aus den USA importierten medialen Darstellungen. Es fällt auf, dass sich bei Loriot zwar kulturkritische Ansätze finden, aber kaum Hinweise auf derartige antiamerikanische Konnotationen. Das war selbst bei seinem Freund und Nachbarn Manfred Schmidt anders, dessen sehr erfolgreiche, in der »Quick« erscheinende Comic-Folge »Nick Knatterton« ursprünglich als Parodie auf amerikanische Superhelden in Comics und Heftromanen angelegt war.

Aber war die Polarisierung, die Loriots Werk auslöste und seinen Erfolg zunächst erschwerte, auch ein direktes Ergebnis liberaler, westlicher Einflüsse? Loriot selbst hat bezüglich seines Zeichenstils westliche Vorbilder benannt, Einflüsse des britischen Humors jedoch zurückgewiesen. Ihm zufolge zeichne sich dieser durch eine Direktheit und Derbheit aus, die seinen Arbeiten fremd sei, auch interessiere ihn das Absurde nicht, sondern eine Komik, die aus Realitätsnähe entstehe.18 Dafür scheint zu sprechen, dass Monty Pythons »Flying Circus« bei den Deutschen zunächst gar nicht gut ankam: Als Alfred Biolek die britischen Komiker überredete, zwei Folgen auf Deutsch zu produzieren, die der WDR Anfang 1972 ausstrahlte, erhielten sie in der Zuschauerbewertung die schlechteste Note, die jemals in Deutschland für eine Sendung vergeben worden ist.19 Auch Wolfgang Hildesheimer hat Loriots Position indirekt bestätigt, indem er ihm in einer Rezension einen Mangel an »britischen« Ingredienzen wie Bosheit und Skurrilität vorgeworfen hat.20

Dagegen insistierte ein Nachruf auf Loriot darauf, dass »der einzige originär deutsche Beitrag zur Verwestlichung des deutschen Humors« von ihm stamme: Er habe den »Sonderweg« des deutschen Humors mit seinen betulichen und moralisierenden Traditionen gebrochen, ohne allerdings die britische Tendenz zur kalkulierten Geschmacklosigkeit und Elitenkritik zu übernehmen.21 In der Tat zeigt schon das Beispiel des (von Hildesheimer geschätzten) Adventsgedichtes, dass es in Loriots Werk durchaus eine ›britische‹ Facette gab – die in Deutschland allerdings auch sehr wohl als geschmacklos empfunden wurde. Besonders bei den frühen TV-Arbeiten sind Bezüge zu britischen Vorbildern kaum zu leugnen: seien es während der Moderationen unmotiviert durchs Studio marschierende Dudelsack-Kapellen und Slapstick-Proben oder einzelne Sketche wie die Interview-Parodie »Der Astronaut«, die offensichtlich von John Cleese inspiriert war.22 Zumindest dürften es solche Elemente gewesen sein, die häufig für Ablehnung und Unverständnis sorgten, mit der auch die Reihe »Cartoon« des Süddeutschen Rundfunks (1967–1972) reichlich bedacht wurde – andererseits ließ gerade dies die Reihe in der Alterskohorte der rebellierenden Studierenden zu Kult werden.23 Loriot bot offenbar auch auf der Ebene der Westernisierung ein Amalgam aus (vermeintlich) harmlosem ›deutschen‹ Humor mit an westlichen Vorbildern orientierten skurrilen, anarchischen und sozialkritischen Elementen.24