Reader. Was soll Politische Bildung?

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Reader. Was soll Politische Bildung?
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Alexander Lötscher, Claudia Schneider, Béatrice Ziegler (Hrsg.)

Reader

Was soll Politische Bildung?

Elf Konzeptionen von 1799 bis heute

ISBN Print: 978-3-0355-0533-7

ISBN E-Book: 978-3-0355-0502-3

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.ch

Inhaltsverzeichnis


Einleitung
(von Alexander Lötscher)
1. Weshalb und wozu ein Reader zu Konzeptionen der Politischen Bildung?
2. Wie ist der Reader strukturiert?
3. Was steckt hinter den Leitideen des Readers?
1799Johann Heinrich Zschokke:
Volksbildung – Aufklärung und Tugend (von Alexander Lötscher)
1. Kontext: Französische Revolution und Helvetische Revolution
2. Position: Kirche vs. Staat
3. Lektüre: Volksbildung – Aufklärung und Tugend
4. Kontroverse: Auf welche Werte stützt sich Politische Bildung?
1815Johann Heinrich Pestalozzi:
Erziehung zur Menschlichkeit – sittliche und geistige Kraft (von Alexander Lötscher)
1. Kontext: Mediationsakte und Wiener Kongress
2. Position: Öffentlichkeit vs. Privatsphäre
3. Lektüre: Erziehung zur Menschlichkeit – sittliche und geistige Kraft
4. Kontroverse: Führt Politische Bildung zu mehr Demokratie?
1840Ludwig Snell:
Öffentliche Erziehung – freie Vernunftwesen (von Alexander Lötscher)
1. Kontext: Regeneration und Züriputsch
2. Position: Liberalismus vs. Konservativismus
3. Lektüre: Öffentliche Erziehung – freie Vernunftwesen
4. Kontroverse: Welche Freiheit braucht die Schule?
1886Numa Droz:
Der bürgerliche Unterricht – Vaterlandsliebe (von Alexander Lötscher)
1. Kontext: Die Bundesverfassung von 1848 und die Verfassungsrevision von 1874
2. Position: Zentralismus vs. Föderalismus
3. Lektüre: Der bürgerliche Unterricht – Vaterlandsliebe
4. Kontroverse: Wozu dienen Bildungsstandards?
1911Albert Barth:
Staatsbürgerliche Erziehung – politische Kultur (von Alexander Lötscher und Claudia Schneider)
1. Kontext: Klassenkampf, Sozialdemokratische Partei und sozialistische Jugendgruppierungen
2. Position: Arbeit vs. Kapital
3. Lektüre: Staatsbürgerliche Erziehung – politische Kultur
4. Kontroverse: Soll Schule staatliche Herrschaft stützen?
1927Ernestine Werder:
Friedenspädagogik – Pflege demokratischer Gesinnung (von Claudia Schneider)
1. Kontext: Goldene Zwanzigerjahre und Gründung des Völkerbundes
2. Position: Nationalismus vs. Internationalismus
3. Lektüre: Friedenspädagogik – Pflege demokratischer Gesinnung
4. Kontroverse: Können in der Schule Entscheidungen auf demokratische Weise getroffen werden?
1948Emma Luzia Bähler:
Nationale Erziehung – Verfassung und vaterländische Gesinnung (von Alexander Lötscher)
1. Kontext: Frontenfrühling (1933) und Landesausstellung (1939)
2. Position: Demokratie vs. Faschismus
3. Lektüre: Nationale Erziehung – Verfassung und vaterländische Gesinnung
4. Kontroverse: Ist Politische Bildung ein eigenes Schulfach oder ein fächerübergreifendes Thema?
1961Otto Woodtli:
Erziehung zur Demokratie – Kenntnis der Prinzipien unseres Staatslebens (von Patrik Zamora)
1. Kontext: Kalter Krieg
2. Position: Sozialismus vs. Kapitalismus
3. Lektüre: Erziehung zur Demokratie – Kenntnis der Prinzipien unseres Staatslebens
4. Kontroverse: Erziehung zur Demokratie durch höheres Fachwissen?
1978Heinz Moser, Franz Kost, Walter Holdener:
Politische Bildung – kritische Praxis (von Patrik Zamora)
1. Kontext: Wertewandel der Gesellschaft
2. Position: Materialismus vs. Postmaterialismus
3. Lektüre: Politische Bildung – kritische Praxis
4. Kontroverse: Wie wichtig sind Traditionen?
2006Roland Reichenbach:
Demokratische Erziehung und Politische Bildung – demokratische Lebensform (von Alexander Lötscher)
1. Kontext: Ökonomische Globalisierung und IEA-Studie
2. Position: Freiheit vs. Bindung
3. Lektüre: Demokratische Erziehung und Politische Bildung – demokratische Lebensform (authentische Selbstwahl des Individuums)
4. Kontroverse: Führt Politische Bildung zu mehr politischer Partizipation?
2010Europarat:
Politische Bildung – aktiv werden für Demokratie und Menschenrechte (von Claudia Schneider)
1. Kontext: Fall des «Eisernen Vorhangs» und Jugoslawien-Kriege
2. Position: Kampf der Kulturen vs. interkultureller Dialog
3. Lektüre: Politische Bildung – aktiv werden für Demokratie und Menschenrechte
4. Kontroverse: Ist die Charta als Bezugsnorm in Europa umgesetzt?


Einleitung

 

1.Weshalb und wozu ein Reader zu Konzeptionen der Politischen Bildung?

Dieser Reader bietet eine Orientierung im Feld der Politischen Bildung. Er enthält elf historisch eingebettete Quellen von 1799 bis heute und richtet sich an Lehrpersonen und weitere interessierte Kreise, die Politische Bildung reflektieren, beurteilen und kritisch hinterfragen wollen. Der Reader ermöglicht es, die eigene Position im Feld der Politischen Bildung zu bestimmen. Dies soll Lehrpersonen, die Politische Bildung unterrichten, unterstützen. Die Auswahl der Texte und die Struktur der Kapitel orientieren sich an zwei Leitideen. Erstens können Konzeptionen der Politischen Bildung nur vor dem Hintergrund des gesellschaftspolitischen Kontextes gedeutet werden. Die Quellenausschnitte verdeutlichen politikdidaktische Reaktionen auf den jeweiligen gesellschaftspolitischen Kontext. Zweitens wird davon ausgegangen, dass die aktuelle Theorie und Praxis der Politischen Bildung in wesentlichem Mass von historischen Konzeptionen geprägt ist. Dies erlaubt die Verknüpfung der Quellen mit aktuellen Kontroversen in der Politischen Bildung.

Politische Bildung ist in der Schweiz kein eigenständiges Schulfach. Im Lehrplan 21 für die Deutschschweizer Kantone ist Politische Bildung im fächerübergreifenden Thema «Politik, Demokratie und Menschenrechte» unter der Leit­idee der Nachhaltigen Entwicklung verankert. In den Kompetenzformulierungen der einzelnen Fächer (z. B. Erstsprache Deutsch) wird jeweils darauf hingewiesen, wo ein fächerübergreifendes Thema bearbeitet werden kann. Im 1. und 2. Zyklus (Kindergarten bis 6. Klasse) besitzt der Fachbereich Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG) besondere Relevanz. So ist dessen Kompetenzbereich «Gemeinschaft und Gesellschaft – Zusammenleben gestalten und sich engagieren» stark auf Politische Bildung ausgerichtet (vgl. Ziegler 2016). Für den 3. Zyklus (7. bis 9. Klasse) wurde im Fachbereich «Räume, Zeiten und Gesellschaften (mit Geografie, Geschichte)» unter dem Titel «Demokratie und Menschenrechte verstehen und sich dafür engagieren» ein Kompetenzbereich zu Politischer Bildung formuliert. Im Lehrplan 21 sind auch die überfachlichen Kompetenzen für die Politische Bildung von Bedeutung. Die personalen, sozialen und methodischen Kompetenzen weisen Übereinstimmungen mit den Zielen der Politischen Bildung auf. An dieser Stelle wird dies mit zwei Beispielen verdeutlicht:

1Personale Kompetenzen – Eigenständigkeit: «Die Schülerinnen und Schüler können Argumente abwägen und einen eigenen Standpunkt einnehmen».

2Soziale Kompetenzen – Umgang mit Vielfalt: «Die Schülerinnen und Schüler können Diskriminierungen erkennen und nehmen diese nicht passiv hin».

Der Lehrplan 21 stützt sich bei der Frage, an welchen Werten sich die Volksschule orientieren soll, auf Demokratie und Menschenrechte. Mit Bezug auf die Bundesverfassung und die kantonalen Volksschulgesetze werden insbesondere demokratische Wertvorstellungen und das Engagement gegen Diskriminierung als zentrale Werte genannt. Für die Politische Bildung ist die Durchsetzung und Einhaltung der Demokratie und Menschenrechte seit über 200 Jahren eine normative Konstante. Dementsprechend beginnt der Reader mit dem Verweis auf die Französische bzw. die Helvetische Revolution und einer Quelle von Heinrich Zschokke von 1799. Die letzte Quelle, die «Charta des Europarats zur Demokratie- und Menschenrechtsbildung», stammt aus dem 21. Jahrhundert. Einerseits sind über diesen Zeitraum normative Kontinuitäten erkennbar, andererseits haben sich die Strukturen des Bildungssystems stark differenziert. So findet beispielsweise die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen seit einigen Jahren an den Pädagogischen Hochschulen statt, deren Leistungsauftrag folgende vier Punkte umfasst: Lehre, Forschung & Entwicklung, Weiterbildung/Zusatzausbildung und Dienstleistungen (COHEP 2015).

Dementsprechend ist der Reader mit Blick auf die Verwendung in der Lehre und Weiterbildung von Lehrpersonen entstanden. Die empirische Forschung zu Politischer Bildung hat dabei wertvolle Einsichten geliefert. Der Reader zeigt auf, dass die Forschung teilweise alte Fragestellungen mit (neuen) schulischen Phänomenen verknüpft. Ebenso spannend ist es, (alte) Gewissheiten anhand des aktuellen Datenmaterials und innovativer Methoden zu hinterfragen. Erkenntnisse aus der Forschung haben aus diesen Gründen einen festen Platz im Reader.

Finanziert wurde die Entwicklung des Readers vom Nationalen Forschungsschwerpunkt «NCCR Democracy», der die Herausforderungen für die Demokratie im 21. Jahrhundert untersucht (vgl. www.nccr-democracy.uzh.ch). Das Wissenstransfer-Projekt «Politische Bildung: Demokratie unter dem Einfluss von Globalisierung und Mediatisierung» verwendete Theorien und Erkenntnisse aus den Forschungsprojekten zur Entwicklung von zwei Webseiten (www.politikzyklus.ch; www.politiklernen.ch). Zudem ist im Rahmen des NCCR Democracy das Rollenspiel «ja – nein – vielleicht» entstanden (vgl. www.ja-nein.politischebildung.ch). Diese Produkte sind auch für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen eingesetzt worden. Die Sichtung bestehender Lehr- und Lernmaterialien zeigt, dass für die Politische Bildung viele Angebote bestehen. Allerdings ist die Konzeption hinter den Unterrichtsmaterialien oft nicht offensichtlich. Lehrpersonen müssen deshalb selbst einschätzen, inwiefern sich die jeweiligen Lehr- und Lernmittel für ihren Unterricht eignen. Kennt die Lehrperson historische Konzeptionen aus dem Feld der Politischen Bildung, kann sie die aktuellen Konzeptionen besser erkennen, mit ihren eigenen Zielvorstellungen abgleichen und darauf aufbauend ihre eigene Praxis gestalten. Der Fokus dieses Readers liegt auf den Zielvorstellungen der Politischen Bildung. Vor allem in den älteren Texten sind Angaben zu Inhalten und Methoden nur in beschränktem Ausmass vorhanden. Der Reader bekommt so eine Flughöhe, die einen Überblick ermöglicht. Dies macht den Reader auch für eine Öffentlichkeit interessant, die sich für den Grenzbereich von Pädagogik und Politik aus einer historischen Perspektive interessiert.

Diese Flughöhe bedingt, dass der Begriff «Politische Bildung» weit verstanden wird. Dadurch findet ein breites Spektrum historischer Konzeptionen im Reader Platz. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Feld stark differenziert. Je nach Theorie und Akteur ist die Rede von Politischer oder demokratischer Bildung, demokratischer oder öffentlicher Erziehung, Politikdidaktik, Demokratiepädagogik, demokratischem Lernen und Leben und anderem mehr. Eine Einschränkung erfährt der Reader, indem nur Texte mit Bezug zur Deutschschweiz verwendet werden. Eine besondere Stellung nimmt dabei die Quelle von Numa Droz ein, die ursprünglich in französischer Sprache verfasst wurde. Aufgrund der Position von Droz als Bundesrat und der Übersetzung ins Deutsche strahlte seine Konzeption aber auch in die Deutschschweiz aus.

Die Rechtschreibung der Autorinnen und Autoren wurde gemäss der zitierten Quelle übernommen. Eine Ausnahme dazu bildet der Beitrag von Pestalozzi, dessen Quelle bereits in stark redigierter Form übernommen wurde. Im nächsten Kapitel wird die Struktur und die Funktionsweise der Readers erklärt. Danach werden die beiden erwähnten Leitideen theoretisch untermauert.

2.Wie ist der Reader strukturiert?

Die einzelnen Kapitel folgen einer chronologischen Einteilung in Zeitspannen. Im Zentrum der Kapitel steht jeweils ein Autor oder eine Autorin mit einem Quellentext. Jedes Kapitel besteht aus insgesamt vier Bausteinen: 1. Kontext, 2. Position, 3. Lektüre, 4. Kontroverse.

1. Kontext

Dieser erste Baustein umreisst den gesellschaftspolitischen Kontext des Quellentexts. Es sind meist zwei politische Ereignisse aufgeführt, die für die Autorinnen und Autoren beim Schreiben der Quelle relevant waren oder die sie in den Jahren zuvor geprägt hatten. Dabei sind Entwicklungen berücksichtigt, die sich auf die Verfassung und die Organisation des Staates auswirkten, mit besonderem Augenmerk auf das Bildungssystem. Daneben werden auch Änderungen in der Haltung und der Einstellung der Menschen gegenüber dem politischen System erwähnt. So kommen auch die gesellschaftspolitischen Spannungen und Konflikte sowie die dahinter liegenden Werte und Interessen der jeweiligen Zeit zur Sprache. Der Kontext wird dadurch zur Basis für den nächsten Baustein.

2. Position

Der Baustein Position knüpft an den Kontext an, indem zwei Pole einer politisch-­pädagogischen Auseinandersetzung beschrieben werden. Nach einigen allgemeinen Erklärungen zeigt dieser Baustein die Position der Autorin bzw. des Autors in Bezug auf den politisch-pädagogischen Gegensatz. Anschliessend wird der Leser bzw. die Leserin mithilfe des Elements ◽ Multiple Choice aufgefordert, selbst Position zu beziehen. Auf diese Weise können die Leserinnen und Leser Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit der Konzeption der Autorin bzw. des Autors entdecken (vgl. Baustein 3. Lektüre), die eigenen Vorstellungen im Feld der Politischen Bildung verorten und daraus Schlussfolgerungen für die (eigene) Praxis ziehen (vgl. Baustein 4. Kontroverse). Ergänzt wird dieser Baustein um eine biografische Notiz, welche die persönliche Lebenssituation der Autorin bzw. Autors ersichtlich macht.

3. Lektüre

Das Element ▼ Fragen zum Text richtet die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser auf diejenigen Punkte, die vor dem gesellschaftspolitischen Hintergrund besondere Bedeutung besitzen. Damit soll das Verständnis für die Konzeption der Autorin bzw. des Autors vertieft werden. Dies macht es möglich, die Konzeption auf der Grundlage der eigenen Position zu bewerten. Anschliessend folgt der farbig unterlegte ◗ Quellentext mit einer durchgehenden Zeilennummerierung und Platz für eigene Notizen.

 

4. Kontroverse

Dieser Baustein verbindet den angesprochenen politisch-pädagogischen Gegensatz, die Position des Autors bzw. der Autorin und diejenige der Leserinnen und Leser mit einer aktuellen Kontroverse im Feld der Politischen Bildung. Der Baustein besteht aus zwei Teilen. Das Element ● Input vermittelt Einsichten und Erkenntnisse aus der empirischen Forschung und der Theorie der Politischen Bildung oder anderen Feldern der Wissenschaft, insbesondere der Politikwissenschaft und Geschichte. Damit bildet der Input die Grundlage für die ❖ Diskussion, dem zweiten Element. Was unter Diskussionen in der Politischen Bildung verstanden werden kann, wird im nächsten Abschnitt näher beschrieben.

Exkurs: Arten von Diskussionen

Nicht nur der Baustein 4. Kontroverse, sondern auch die Bausteine 2. Position und 3. Lektüre bieten Anregungen für Diskussionen. Bedingung ist natürlich, dass mehrere Personen anwesend sind, die sich über das Thema unterhalten wollen. Das Ziel der Diskussion bestimmt in der Regel die Form des Austausches. Es empfiehlt sich zu klären, welche Art von Diskussion überhaupt geführt werden soll. Parker und Hess (2001) haben für die Ausbildung von Lehrpersonen folgende Arten von Diskussionen beschrieben: Gespräch, Seminar und Deliberation.


DimensionenGesprächSeminarDeliberation
ZielEine Einigung über gemeinsame Ziele erlangenEin besseres Ver­ständnis eines Textes erlangenEntscheiden, was zu tun ist, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen
TextZiele in Bezug auf ein öffentliches ProblemText, Film, Kunstwerk, Ausstellung, Vorstellung, Karikatur, Ereignis, IdeeAlternativen für ein öffentliches Problem
FokusfrageWelche Art Gesellschaft (Klassenzimmer) wollen wir?Was will der Autor bzw. die Autorin mit dem Text sagen?Was sollen wir tun, um ein Ziel zu erreichen?
BeispielZielsetzung im KlassenzimmerSokratisches SeminarAkademische Kontroverse

Tabelle (aus dem Englischen übersetzt und leicht angepasst): Parker und Hess (2001: 281).

Im Baustein 2. Position kann beispielsweise ein Gespräch darüber geführt werden, welche politischen und pädagogischen Ziele den Vorstellungen der Leserinnen und Leser entsprechen und wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei den diskutierenden Personen vorhanden sind. Im Baustein 3. Lektüre geht es darum, ein besseres Verständnis der Quelle zu erlangen und damit die Position des Autors nachzuvollziehen (Seminar). Falls in einem Gespräch die Verständigung auf ein gemeinsames Ziel gelingt, kann im Baustein 4. Kontroverse die Frage erörtert werden, was zu tun ist, um dieses Ziel zu erreichen (Deliberation). Dadurch können zunehmend Inhalte und Methoden der Politischen Bildung zur Sprache kommen. Deliberation macht dann Sinn, wenn die Gruppe ein gemeinsames Ziel definiert hat oder sich zumindest darüber verständigt hat, worin keine Übereinstimmung besteht. Die Fragen in den Kapiteln beziehen sich auf diese drei Arten von Diskussionen. Personen, welche die Diskussionen leiten, können diese Typologie einsetzen, indem sie auf die zentralen Fragen der Diskussion hinweisen. Wenn das Ziel der Diskussion klar ist, können die Beiträge besser eingeordnet werden. Dadurch sinkt das Risiko, dass der rote Faden in der Diskussion verloren geht.

3.Was steckt hinter den Leitideen des Readers?

Die beiden Leitideen sind zu Beginn der Einleitung bereits erwähnt worden. Erstens wird die Bedeutung des gesellschaftspolitischen Hintergrunds für die historische Konzeption betont. Zweitens soll aufgezeigt werden, inwiefern das aktuelle Feld der Politischen Bildung von den historischen Konzeptionen geprägt wird.

Der gesellschaftspolitische Kontext

Seit der Helvetischen Revolution sind je nach Zeitepoche unterschiedliche Gefahren und Herausforderungen für Gesellschaft und Staat identifiziert und beschrieben worden. Auf der Grundlage dieser Wahrnehmungen sind für die Politische Bildung jeweils andere Ziele formuliert worden. Die nächste Generation soll mit Werten, Wissen sowie Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgestattet werden, um das Überleben der eigenen Kultur und des politischen und ökonomischen Systems zu sichern. Andererseits besteht auch der Anspruch, dass (Politische) Bildung das Potenzial der Menschen gegen den Widerstand bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse zur Entfaltung bringt. Dies wird oft mit der Zielvorstellung der Autonomie ausgedrückt. Weil sich diese Zielvorstellungen widersprechen, spricht Gruntz-Stoll (1999) von pädagogischen Antinomien zwischen Bewahren und Verändern, Bindung und Freiheit. Steht die Freiheit des Individuums im Vordergrund oder soll sich der bzw. die Einzelne möglichst gut an das bestehende System anpassen? Soll das Streben nach Veränderung gefördert werden oder Bestehendes möglichst bewahrt bleiben? Der gesellschaftspolitische Kontext kann erklären, zu welcher Seite der Antinomie die jeweilige historische Konzeption der Politischen Bildung tendiert.

In der Bildungslandschaft gibt es immer gegenläufige Strömungen. Einige Pädagoginnen und Pädagogen betonen die Freiheit des Individuums, andere die Bindung an das vorhandene System. Badertscher und Grunder (1997) sprechen in ihrem Werk «Geschichte der Erziehung und Schule in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert» von sechs pädagogischen «Leitlinien»: 1) Allgemeine Bildung – zweckbestimmte Bildung, 2) Liberalismus – Konservatismus, 3) Pestalozzianer – Herbertianer, 4) Humanistische Bildung – fachwissenschaftliche Bildung, 5) Zentralismus – Föderalismus sowie 6) Mädchen- und Frauenbildung – Jungenbildung. Diese Leitlinien waren jeweils während einer gewissen Zeitspanne in der Geschichte der Erziehung und Schule in der Schweiz besonders intensiv ausgeprägt. Badertscher und Grunder (1997) beschreiben, wie die erwähnten Polaritäten zwischen 1790 und 1945 auftreten. Die Leitlinien behalten jedoch eine gewisse Bedeutung über die jeweilige Zeitspanne hinaus. So werden die Autorinnen und Autoren bzw. deren Konzeptionen noch Jahrzehnte später zitiert. Die Bestimmung der Leitlinien dient also einer Erkundung der «Gegensätzlichkeiten» oder gar der «Kampflinien» pädagogischer Argumentationen.

Ein politikwissenschaftliches Konzept, das die Kontinuität von gesellschaftlichen Spaltungen über die Zeit hinweg aufzeigen kann, ist die «Konfliktlinie» (Cleavage). Die Cleavage-Theorie wurde von Lipset und Rokkan (1967) entwickelt und basiert auf der These, dass in den europäischen Staaten während der Nationalstaatenbildung die jeweils gleichen Spaltungen vorhanden waren, nämlich Kirche – Staat, Stadt – Land, Arbeit – Kapital und Zentrum – Peripherie. Diese Spaltungen bilden gegensätzliche Interessen der Menschen ab. Beispielsweise haben die Menschen in den Städten andere Sorgen und Nöte als auf dem Land, Unternehmerinnen und Unternehmer andere Interessen als Arbeiterinnen und Arbeiter.

Die Cleavage-Theorie erklärt, wie sich die Parteiensysteme herausgebildet haben. Linder, Zürcher und Bolliger (2008) haben mit Verweis auf die Volksabstimmungen seit 1874 diese Spaltungen in der Schweiz beschrieben. Die Spaltung Kirche – Staat war während des Kulturkampfs zwischen Katholiken und Protestanten besonders intensiv. Im Laufe der Zeit hat sich diese Spaltung verlagert, sodass der Konflikt zwischen Kirchentreuen und religiös Unabhängigen in den Vordergrund gerückt ist. Heute schliesst diese Konfliktlinie auch die Auseinandersetzungen mit nicht christlichen Religionen ein. Die Spaltung Zentrum – Peripherie besitzt in der Schweiz eine geringere Bedeutung. In den Abstimmungen kann jedoch ein Sprachgraben beobachtet werden, der umgangssprachlich als «Rösti-» und «Polentagraben» bezeichnet wird und auf die Trennung zwischen der deutschsprachigen und der französischsprachigen respektive italienischsprachigen Schweiz hinweist. Am häufigsten wird in den Abstimmungen der Schweiz die Spaltung Stadt – Land wirksam. Die neue Spaltung Umweltschutz – individuelle Freiheiten deckt sich teilweise mit der Spaltung Stadt – Land und mit dem Sprachgraben, insbesondere in der Energiepolitik. So kann in französischsprachigen Gebieten eine grössere Zustimmung zur Kernenergie beobachtet werden. Die Spaltung Arbeit – Kapital zeigte sich in der Schweiz beim Generalstreik von 1918 besonders deutlich. Anfang des 21. Jahrhunderts erhält diese Konfliktlinie im Kontext der Liberalisierung und Globalisierung eine neue Dynamik. Die Spaltung Tradition – Öffnung lässt sich insbesondere bei der Frage der aussenpolitischen Öffnung (z. B. Beitritt zur Europäischen Union) erkennen.

Um den gesellschaftspolitischen Kontext, die Positionen der Autorinnen und Autoren der Quellentexte und aktuelle Kontroversen in der Politischen Bildung zu verdeutlichen, werden in den Kapiteln sowohl Leit- als auch Konfliktlinien aufgegriffen. So wird etwa der gesellschaftspolitische Kontext im Kapitel 1840: Ludwig Snell anhand des Gegensatzes Liberalismus – Konservatismus verdeutlicht, der sowohl als Konflikt- wie als Leitlinie gedeutet werden kann. Der Grund für diese Vorgehensweise ist die Annahme, dass die prägenden Fragen der Politischen Bildung dort zu finden sind, wo sich politische und pädagogische Diskussionen treffen. Diese Annahme wird im nächsten Abschnitt weiter verdeutlicht.

Das Feld der Politischen Bildung

Gemäss Bourdieu (1998) stellt ein wissenschaftliches Feld einen relativ autonomen Mikrokosmos dar. Felder zeichnen sich dadurch aus, dass darin Kämpfe um Bewahrung und Veränderung ausgetragen werden. Zudem tendieren Felder zum Bewahren von Institutionen (verstanden als Normen und Regeln des Zusammenlebens), die aus der Praxis des Feldes erwachsen sind. Das Feld der Politischen Bildung besitzt jedoch eine geringe Autonomie. Akteure aus anderen Feldern, insbesondere aus der Politik, können ihre Fragestellungen in das Feld der Politischen Bildung einbringen. Dies geschieht über äussere Zwänge, beispielsweise über den Erlass von Verordnungen oder die Vergabe von Geldern und Forschungsaufträgen. Die Akteure aus dem Feld der Politischen Bildung müssen sich diesen Fragen stellen. Damit können von ausserhalb des Feldes Veränderungen ausgelöst werden. Wie sich dieser Prozess der Veränderung vollzieht, wird im nächsten Abschnitt angesprochen.

Berger und Luckmann (2009) erklären, wie Handlungen in der Praxis zu Modellen werden und sich danach in Institutionen verfestigen können. Konzeptionen beschreiben diese Modelle auf theoretischer Ebene und legitimieren dadurch Institutionen. Modelle werden jedoch nur zu Institutionen, wenn genügend soziale Kontrolle verfügbar ist, um die entsprechenden Normen und Regeln durchzusetzen. Handlungen in der Praxis, Konzeptionen und Institutionen beeinflussen sich gegenseitig.

Der Reader stellt elf Konzeptionen der Politischen Bildung vor. Er macht aber kaum Aussagen zur Geschichte der Institutionen, beispielsweise zum Inhalt der Lehrpläne oder der Organisation der Schulen. Der Reader liefert daher keinen Beurteilungsmassstab, welche Konzeptionen besonders erfolgreich institutionalisiert worden sind und welche nicht. Ebenso wenig liefert der Reader Antworten, wie zukünftige Herausforderungen gemeistert werden können. Der Reader beleuchtet vielmehr die Konzeptionen anhand politisch-pädagogischer Gegensätze, die Orientierung im Feld der Politischen Bildung bieten sollen. Er richtet sich damit an Studierende, Lehrpersonen, Didaktikerinnen und Didaktiker sowie alle anderen interessierten Personen, die prüfen möchten, inwiefern historische und aktuelle Konzeptionen den eigenen Werten, Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten entsprechen.