Buch lesen: «MUSIK-KONZEPTE 195: Wolfgang Jacobi»
Ulrich Tadday (Hrsg.)
MUSIK-KONZEPTE 195 I/2022
Wolfgang Jacobi
MUSIK-KONZEPTE
Die Reihe über Komponisten
Herausgegeben von Ulrich Tadday
Heft 195
Wolfgang Jacobi
Herausgegeben von Ulrich Tadday
Januar 2022
Wissenschaftlicher Beirat:
Ludger Engels (Berlin, Regisseur)
Detlev Glanert (Berlin, Komponist)
Jörn Peter Hiekel (HfM Dresden/ZHdK Zürich)
Laurenz Lütteken (Universität Zürich)
Georg Mohr (Universität Bremen)
Wolfgang Rathert (Universität München)
Print ISBN 978-3-96707-594-6
E-ISBN 978-3-96707-596-0
Der Abdruck der Abbildungen erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Familienarchivs Wolfgang Jacobi (www.wolfgang-jacobi.de/archiv).
Umschlaggestaltung: Victor Gegiu
Umschlagabbildung: Wolfgang Jacobi, vermutlich im Jahr 1958
Foto: privat – Familienarchiv Wolfgang Jacobi
Die Hefte 1–122 und die Sonderbände dieses Zeitraums wurden von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn herausgegeben.
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2022
Levelingstraße 6a, 81673 München
Inhalt
Vorwort
BARBARA KIENSCHERF
Spurensuche und Rekonstruktion Zu den kompositorischen Anfängen Wolfgang Jacobis und seinen Werken für Saxophon
FRIEDRICH SPANGEMACHER Wolfgang Jacobi und der frühe Berliner Rundfunk
JAN PHILIPP SPRICK Musik zur »Stunde Null«? Wolfang Jacobis Sonate für Bratsche und Klavier und das Streichquartett 1948
BIRGER PETERSEN Drei Liederzyklen Wolfgang Jacobis
GESA ZUR NIEDEN »Zwischen zwei Feinden« Wolfgang Jacobis Petrarca-Vertonungen der 1960er Jahre
STEFANIE ACQUAVELLA-RAUCH »Rein sachlich finde ich, dass zu wenig brauchbare gute Akkordeonmusik existiert« Einblicke in Jacobis Zusammenarbeit mit dem Hohner-Verlag
Abstracts
Bibliografische Hinweise
Zeittafel
Autorinnen und Autoren
Vorwort
Wenn Wolfgang Jacobi (1894–1972) sich selbst als »Neoklassizist« bezeichnete, dann zeigt er sich nicht nur beeinflusst von Claude Debussy, Paul Hindemith, Max Reger oder Béla Bartók, sondern positioniert sich auch selbstbewusst im kritischen Kontext der Neuen Musik. Als »moderner Klassiker« und verfemter Komponist, der zur Zeit des Nationalsozialismus mit Berufsverbot belegt in die innere Emigration gezwungen wurde, hat Jacobi Vokalmusik, Orchester- und Kammermusikwerke sowie Solowerke für Klavier, nicht zuletzt für Saxophon und Akkordeon hinterlassen, die unser Interesse wecken und verdienen.
Die sechs Texte, die in diesem Band versammelt sind, erscheinen in der Chronologie des Schaffens: Barbara Kienscherfs Aufsatz über die kompositorischen Anfänge Wolfgang Jacobis folgt der Beitrag Friedrich Spangemachers, der sich mit der Berliner Zeit der frühen 1930er Jahre, insbesondere mit seinen Kompositionen für das junge Radio und die frühen elektrischen Instrumente befasst. Dabei werden auch die avantgardistischen Diskussionen über die »funkige« Musik dieser Zeit einbezogen. Die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und Jacobis Sonate für Bratsche und Klavier (1946) sowie das Streichquartett 1948 werden anschließend von JanPhilipp Sprick zum Thema gemacht. Vom Eindruck der Verfolgung und vom Krieg geprägt sind auch die drei Zyklen für Gesang und Klavier, die Jacobi in dem Jahrzehnt zwischen 1946 und 1956 schrieb. Alle drei Zyklen, die Birger Petersen in den Blick nimmt, sind sehr eng mit Jacobis Schaffensphasen verbunden: Während die Sonette des Satans vom unmittelbaren Eindruck der Verfolgung und des Krieges geprägt sind, zeugen die Italienischen Lieder von der engen Verbundenheit des Komponisten mit Italien, und Die Toten von Spoon River weisen voraus auf das Werk für Akkordeon, das Jacobi vor allem ab Mitte der 1950er Jahre beschäftigte. Letzteres thematisiert Stefanie Acquavella-Rauch im Hinblick auf Jacobis Zusammenarbeit mit dem Hohner-Verlag am Ende des Bandes, während zuvor Gesa zur Nieden Jacobis Petrarca-Vertonungen der 1960er Jahre als kritischen Kommentar der zeitgenössischen Moderne zur Neuen Musik interpretiert.
Der Dank des Herausgebers gilt allen beteiligten Autoren und Autorinnen, insbesondere Birger Petersen, der diesen Band angeregt und unterstützt hat, und Barbara Kienscherf, die die Türen des »Familienarchivs Wolfgang Jacobi« für diesen Band weit geöffnet hat.
Ulrich Tadday
BARBARA KIENSCHERF
Spurensuche und Rekonstruktion
Zu den kompositorischen Anfängen Wolfgang Jacobis und seinen Werken für Saxophon
Es gibt nicht viele autobiografische oder werkbezogene Äußerungen Wolfgang Jacobis. Vor allem im Hinblick auf seine erste Schaffensperiode im Berlin der 1920er/30er Jahre sind die Überlieferungen rar gesät und diverse Fragen offen. Sehr vieles aus dieser Zeit ist verloren – auch die meisten seiner Kompositionen und damit fast die Hälfte seines gesamten Œuvres. Eine Brandbombe zerstörte während des Zweiten Weltkriegs das Haus der Familie Jacobi in Berlin, und sämtliche dort verwahrte Notenmanuskripte und Unterlagen wurden vernichtet.1 Jedoch gibt ein frühes handschriftliches Werkverzeichnis Jacobis, das erhalten blieb, Auskunft über die damals entstandenen Werke, zusammen mit einer Auflistung von deren Aufführungen im Anhang.2 Außerdem sind ein paar persönliche Dokumente, Briefe und Konzertprogramme sowie eine beachtliche Anzahl von Presseartikeln und -ausschnitten aus dieser Zeit in seinem Nachlass erhalten, die für diesen Beitrag teilweise erstmals gesichtet und ausgewertet wurden.3 Auch konnten weitere, bisher unbekannte Quellen ausfindig gemacht werden, sodass sich ein facettenreiches Bild zeichnen lässt vom Leben und Wirken des damals aufstrebenden, anerkannten Komponisten.
»Die zwanziger Jahre in Berlin sind mir unvergesslich. Berlin war damals das musikalische Zentrum Europas; Bartók und Stravinsky spielten ihre Werke, und Klemperer führte die Ballette Stravinskys und die Opern Hindemiths auf. Die berühmtesten Kammermusikvereinigungen, die grossen internationalen Solisten gaben regelmässig ihre Konzerte«,
schwärmte Wolfgang Jacobi rückblickend in einer seiner wenigen Aussagen über diese Zeit.4 Er war 1919 in die Kulturmetropole gekommen, um an der Staatlichen Hochschule für Musik Berlin Komposition zu studieren. Zuvor hatte er Kindheit und Schulzeit in seiner Geburtsstadt Bergen auf Rügen sowie in Stralsund verbracht und war nach dem Abitur als Soldat in den Ersten Weltkrieg gezogen. Während der Somme-Schlacht in französische Kriegsgefangenschaft geraten und schwer an Lungentuberkulose erkrankt, war er 1917 nach Davos ausgetauscht worden, wo sein Wunsch, sich beruflich einmal ganz der Musik zu widmen, konkrete Formen annahm. Ausschlaggebend dafür war die Bekanntschaft mit dem belgischen Musiker und Musikwissenschaftler Paul Collaer, der sich ebenfalls in Davos aufhielt und ihm die Welt des französischen musikalischen Impressionismus erschloss. Begeistert von der Farbigkeit, Rhythmik und plastischen Thematik der Werke, insbesondere von Debussy und Ravel, begann Jacobi mit den ersten eigenen Kompositionsversuchen.5
Sein Studium in Berlin nahm er bei Friedrich Ernst Koch auf und erhielt bis 1922 eine fundierte Ausbildung, die vielversprechend verlief. Jacobi bewarb sich um ein Stipendium der Georg Krakau-Stiftung, das ihm von der Akademie der Künste zu Berlin bewilligt wurde (Abb. 1). Er schrieb Werke verschiedener Gattungen, hauptsächlich Klavier- und Kammermusik, aber auch erste Orchesterwerke, die in Konzerten der Hochschule zur Aufführung kamen. So wurden bei Vortragsabenden mit Arbeiten der Kompositionsklassen im Juni 1921 Jacobis Vier Lieder für Sopran und Klavier, seine Drei Klavierstücke und ein Satz der Sinfonietta für kleines Orchester aufgeführt.6 Im Juli 1922 waren fünf seiner Sechs Gesänge für tiefe Stimme und Klavierquintett op. 87 zunächst bei einem Hochschulkonzert zu hören, wenig später, im November des Jahres, dann in einem Konzert des Verbandes der konzertierenden Künstler Deutschlands. Bei diesem ersten öffentlichen Kompositionsabend Wolfgang Jacobis im Prunksaal der Gesellschaft der Freunde standen außerdem Klavier- und weitere Kammermusiken von ihm auf dem Programm, darunter sein Streichquartett A-Dur op. 7 und als Uraufführung die Sonatine g-Moll für Violine und Klavier op. 11.8 Seine erste Symphonie für großes Orchester op. 2 (1921) war zum Abschluss seines Studiums in der Hochschule aufgeführt worden.
Abbildung 1: Bewilligungsschreiben für ein Stipendium der Georg Krakau-Stiftung vom 21. April 1921
I Auf Erfolgskurs in Berlin
Motiviert von bestärkenden Konzertkritiken und einem hervorragenden Studienabschlusszeugnis, startete Jacobi seine Laufbahn als freischaffender Komponist. Darüber hinaus übernahm er 1922 eine Stelle als Lehrer für Musiktheorie am Klindworth-Scharwenka-Konservatorium in Berlin. Er heiratete die Schweizerin Eveline Rüegg, mit der er in den folgenden Jahren zwei Kinder bekam. Die junge Familie bewohnte ein eigenes Haus im Berliner Stadtteil Lichterfelde, und Jacobi genoss zum einen das pulsierende Leben der Großstadt, zum anderen die Behaglichkeit im kleinen privaten Kreis. Als aufstrebender Komponist konnte er sich zusehends einen Namen machen und auch bald einen Verlag für einige seiner Werke gewinnen. So veröffentlichte der Berliner Musikverlag Ries & Erler 1924 seine Klavierstücke Passacaglia und Fuge op. 9 und Suite im alten Stil op. 10. Beide sind die frühesten erhaltenen Kompositionen Jacobis.9
Den ersten maßgeblichen Erfolg erzielte Wolfgang Jacobi mit seinem Cembalo-Konzert op. 31. »Meine besondere Vorliebe für die Barockmusik und das Cembalo veranlassten mich, ein Werk in dem für das Ende der zwanziger Jahre bezeichnenden Stil des Neoklassizismus zu schreiben«, erinnerte er sich später.10 Als Concertino für Cembalo und Kammerorchester 1927 entstanden, wurde das dreisätzige Werk im Oktober 1928 im Rahmen einer Matinee im Alhambra-Kino am Kurfürstendamm durch das Alhambra-Kammerorchester unter der Leitung von Paul Dessau und dem Cembalisten Eigel Kruttge uraufgeführt. Daneben waren Werke von Georg Pisendel und Leopold Mozart sowie Filmmusiken, u. a. zu zwei Trickfilmen, von Dessau zu hören. Die Veranstaltung wurde von »weltbekannte(n) Repräsentanten Musik-Berlins, wie Otto Klemperer und Professor [Artur] Schnabel« besucht und brachte Jacobi Aufmerksamkeit, positive Kritiken und das Lob ein, als »starkes kompositorisches Talent« bereits mehrfach aufgefallen zu sein.11 Er selbst betrachtete diese Aufführung jedoch mehr als eine Art Voraufführung und sah in der zwei Jahre später am 6. Oktober 1930 stattfindenden Darbietung durch die Dresdener Philharmoniker unter Paul Scheinpflug und der Solistin Lotte Erben-Groll die eigentliche Uraufführung. Diese war Teil eines Konzerts der Festtagung des Reichsverbandes Deutscher Tonkünstler und Musiklehrer in Dresden, bei dem ebenfalls ein prominentes Publikum, darunter Richard Strauss, zugegen war.12 – Jacobi hatte seinen Platz in der Musikwelt gefunden und begann sich allmählich fest zu etablieren. Sein Cembalo-Konzert, das in Dresden von der Presse noch wohlwollender aufgenommen worden war, beließ er aber letztlich nicht in seiner frühen Fassung. Über den Krieg gerettet, instrumentierte er es 1947 noch einmal um und veröffentlichte diese Version im Verlag C. F. Kahnt.13
Ein anderes Orchesterwerk, das erhalten blieb, ist die Grétry-Suite op. 44. 1932 komponiert, wurde die fünf Tänze umfassende Suite ein Jahr später in der Berliner Funk-Stunde durch das Funk-Orchester unter Bruno Seidler-Winkler uraufgeführt. Jacobi war bis dato bereits vielfach im Programm des ersten deutschen Rundfunksenders präsent. Als freier Mitarbeiter der Funk-Stunde hatte er zahlreiche Kompositions- und Bearbeitungsaufträge erhalten, so etwa für das musikalische Hörspiel Die Jobsiade – später umgearbeitet zu einer Schuloper. Auch schrieb er im Auftrag des Senders mehrere Werke für elektrische Instrumente wie Theremin oder Neo-Bechstein.14 Diese zeugen von seiner Offenheit für ungewöhnliche Instrumentierungen und neue Klangformationen, was auch an anderer Stelle noch deutlich werden wird.
Die Jobsiade zählte laut Jacobi »zu einer von Hindemith angeregten Gattung, der ›Gebrauchsmusik‹«. Und er führte weiter aus:
»Dieser unschöne Titel besagte, dass Musik auf breitester Basis geschrieben werden sollte, die die Lücke zwischen der immer komplizierter werdenden Konzertmusik und der Musik für eine musikalisch und technisch nicht vorgebildete Hörerschaft ausfüllen könn(t)e. Hierzu gehörte u. a. die Jugendmusik, die Schulmusik und die Musik für die damals blühenden Arbeiterchöre.«15
Wie mit der Jobsiade schloss sich Jacobi auch mit der Kleinen Sinfonie für Schulorchester dem Bestreben an, für die Jugend spielbare und zugleich an die Moderne heranführende Musik zu schreiben. Überhaupt legte er bei seinen Kompositionen größten Wert auf Fasslichkeit, und das sein Leben lang. Sie sollten anspruchsvoll, aber doch verständlich sein. Eine von Jacobis Maximen war, auch seine »schwierigste Musik unterhaltend zu machen und mit plastischen, fasslichen Einfällen zu versehen«.16 Er wollte den normal kultivierten Menschen erreichen und sprach sogar von der »Erkenntnis einer ethischen Verpflichtung«, in bestimmten Bereichen der Laienmusik das Niveau zu heben.17 In den 1950er/60er Jahren versuchte er das insbesondere auf dem Gebiet der Akkordeonmusik18, in den 1930ern auch in Bezug auf Musik für die erwähnten Arbeiterchöre.
Aus dem Interesse an sozialpolitischen Entwicklungen und der Sympathie für linksorientierte Positionen sowie die damalige Arbeiterchorbewegung schrieb Jacobi u. a. die Werke Der Heilige Gipfel für Arbeiterchor (Text von Otto Rombach) sowie das Bergwerksoratorium Der Menschenmaulwurf für gemischten Chor, Bariton-Solo, Sprecher und (Blas)Orchester. Das 1932 entstandene Werk nach einem Text des Arbeiterdichters Bruno Schönlank beschreibt den harten Alltag von Bergmännern unter Tage und sollte durch den Arbeiter-Sängerbund in Hannover uraufgeführt werden, was jedoch durch die Nationalsozialisten verhindert wurde. In einem Brief des Chorleiters an Jacobi vom 4. April 1933 heißt es:
»Das, was seit langem zu befürchten war, ist nun leider eingetreten: Der Gauvorstand hat gestern abend beschlossen, die Jubiläumsfeier und damit auch die Uraufführung des ›Menschmaulwurfs‹ auf unbestimmte Zeit zu verschieben! (…) Das Notenmaterial habe ich dem Gauvorstand übergeben und wird Ihnen von dort Nachricht zugehen.«19
In den Fokus des Hitler-Regimes geraten, wurde Wolfgang Jacobi zunächst kunstpolitisch geächtet, da seine Werke nicht den Vorstellungen der neuen Machthaber entsprachen. Dann folgte auch eine »rassische« Verfolgung: Aufgrund der jüdischen Abstammung seines Vaters wurde Jacobi im NS-Terminus als »Halbjude«20 eingestuft. Er verlor seine Stelle am Klindworth-Scharwenka-Konservatorium, durfte nicht mehr für die Funk-Stunde arbeiten und sah sich als nun verfemter Komponist vor dem Aus seiner hoffnungsvoll begonnenen Karriere. Auch durften seine Werke nicht mehr aufgeführt werden. Er wurde 1935 von Joseph Goebbels in seiner Funktion als Reichskulturkammer-Präsident unter dem Betreff »Keinesfalls erlaubte musikalische Werke« auf eine Liste von Komponisten gesetzt, deren Werke fortan nicht mehr im deutschen Musikleben erklingen sollten.21
II Vernetzt und positioniert
Der Befehl, die benannten Komponisten nicht weiter zu berücksichtigen, ging an alle Einrichtungen, die an der Gestaltung von Musikprogrammen im NS-Staat beteiligt waren. So verschwanden deren Werke aus den Spielplänen von Opernhäusern, Konzerthallen und aus Rundfunkprogrammen. Jacobis Musik war zu diesem Zeitpunkt in Deutschland aber bereits zum Verstummen gebracht. In seinem frühen Werkverzeichnis brechen seine Eintragungen zu Aufführungen seiner Kompositionen 1933 ab. Ende März war noch seine Grétry-Suite in der Funk-Stunde zu hören gewesen und im Juni das Hörspiel Tageszeiten der Liebe, zu dem er die Musik geschrieben hatte, im Deutschlandsender. Danach sind keine weiteren Aufführungen mehr belegt – abgesehen von einer, die im Rahmen einer jüdischen Kulturveranstaltung stattfand, welche von den Nazis zunächst noch geduldet wurden. Hierüber gibt ein Brief der jüdischen Musikmäzenin Gertrud Weil Auskunft, die bis 1938 in Berlin-Charlottenburg zu Hauskonzerten mit Werken Berliner Komponisten einlud und im November 1935 an ihren »alten Bekannten« Jacobi schrieb:
»(…) meine Veranstaltungen, die sich alle 14 Tage wiederholen, haben ein aussergewöhnlich gutes Renommée; (…) immerhin verläuft kein Konzert ohne wenigstens 80 bis 90 Teilnehmer, und die gesamte jüdische Presse – es sind 7 Zeitungen, interessiert sich sehr (…). Natürlich werde ich mich sehr freuen, wenn Herr Fischer Ihre Sonate bei uns spielt«.22
Der jüdische Pianist Heinz Fischer hatte bereits mehrfach Werke von Jacobi aufgeführt. Welche Sonate er genau in dem Hauskonzert im Januar 1936 spielte, ist ungewiss. Während seines Studiums an der Berliner Musikhochschule hatte er schon Jacobis Klaviersonate op. 22 zur Aufführung gebracht und im Rahmen seiner Reifeprüfung am 15. Juni 1927 die Tanzsuite op. 28 uraufgeführt.23 Auch war er beteiligt an einem Konzert im November 1929, bei dem Jacobis Suite für Bratsche und Klavier op. 35 zur Uraufführung kam, dies allerdings durch Egon Siegmund, Klavier, und Heinz Herbert Scholz, Bratsche.24 Das Konzert war eine Veranstaltung des Vereins ehemaliger Hochschüler der Staatlichen akademischen Hochschule für Musik in Berlin, den Wolfgang Jacobi von 1926 bis 1933 leitete. Durch seine vielfältigen Kontakte, die er als Vereinsvorsitzender mit einstigen Mitstudierenden, Interpreten wie Komponisten, aufrechterhielt oder auch neu knüpfen konnte, sowie durch seine Beziehungen zu Musikern und Kollegen vom Klindworth-Scharwenka-Konservatorium und der Funk-Stunde war er breit vernetzt – was ihm letztlich zu der vergleichsweise hohen Zahl von Konzert- und Rundfunkaufführungen25 seiner Werke verhalf.
In einem Ende der 1920er Jahre von Jacobi selbst veröffentlichten Werbefaltblatt listet er, neben einer Auswahl von Pressestimmen, einige für ihn bedeutende Aufführungen und Interpreten seiner Werke in Berlin im Winter 1928/29 auf (Abb. 2). An erster Stelle erwähnt er dort die Konzertsängerin Lula Mysz-Gmeiner als Interpretin seiner Fünf Lieder aus dem »Siebenten Ring« von Stefan George für Mezzosopran und Kammerorchester op. 29.26 Mysz-Gmeiner war Jacobi durch die Musikhochschule bekannt, wo diese als Professorin für Gesang lehrte. Sie hatte die Lieder bereits 1927 uraufgeführt und sich auch bei Verlagen für Jacobi eingesetzt. Ferner nennt er Michael Taube und sein Kammerorchester, das im Berliner Musikleben eine Institution war und sowohl die Uraufführung von Jacobis Suite für Kammerorchester op. 35 besorgte als auch die der Italienischen Serenaden für Sopran und Kammerorchester op. 34 – dies zusammen mit der Sopranistin Maria Toll.27 Außerdem in der Auflistung vertreten: der Violinist und Komponist Stefan Frenkel, mit dem Jacobi zeitlebens befreundet war. Die beiden hatten gemeinsam die Kompositionsklasse von Friedrich Ernst Koch besucht, und Frenkel war als Violinist ein regelmäßiger Jacobi-Interpret.28
Abbildung 2: Werbefaltblatt Wolfgang Jacobi, vermutlich 1929. Ohne Abbildung ist das dazugehörende Einlegeblatt mit ausgewählten Pressestimmen aus den Jahren 1927/28.
Besondere Beachtung kam Frenkels Uraufführung von Jacobis Concertino für Violine und Orchester op. 27 in der Berliner Singakademie Ende November 1927 zu. In dem Kammerorchester-Abend von Hans Bullerian wurde nur uraufgeführt, doch war sich der Großteil der versammelten Presse einig, dass Jacobis Werk »das Beste des Abends« war: »mit der gewandten Schreibweise und der bedeutenderen musikalischen Sprache. (…) Besonders im Bewegteren zeigt das Werk Erfindung, gewürzt mit humoristischem Einschlag«, so Musikkritiker Fritz Brust.29 Und auch der angesehene Alfred Einstein stellte über das von Frenkel »mit feinster Einfühlung« gespielte Concertino fest:
»Nur über dies letztgenannte Werk lohnt sich in der Oeffentlichkeit ein Wort. Es ist ein belebtes harmonisches Stückchen, im Verhältnis der führenden, dominierenden Geige und der doch niemals zur ›Begleitung‹ herabgedrückten Instrumente, im Verhältnis des konzertierenden und ›gearbeiteten‹ Teils klug und gefühlt abgewogen«.30
Ganze 13 Zeitungsausschnitte zu dem Konzert sind im Nachlass Wolfgang Jacobis erhalten. Waren die Stimmen hier positiv, gab es bei anderer Gelegenheit aber auch kritische Töne, etwa im Falle der erwähnten Suite op. 35, uraufgeführt durch das Taube-Kammerorchester, die zwar offenbar »mit einem flüssigen und rhythmisch frischen Präludium und mit einem durch grotesken Einschlag bemerkbar werdenden Schlussrondo für Anerkennung warb, aber mit einer substanzlosen Serenade und einer leerlaufenden Fuge Gegenteiliges bezeugte«.31 Die überlieferten Pressestimmen – welcher Ausrichtung auch immer – stellen wertvolle Quellen dar, weil sie als einzige Dokumente eine Vorstellung von den verlorenen Werken Jacobis vermitteln. Das gilt nicht nur für die hier genannten Besprechungen, sondern für alle greifbaren Belege, die von Aufführungen nicht erhaltener Jacobi-Frühwerke berichten. Sie bieten Umschreibungen und Einordnungen des Gehörten sowie Bewertungen der kompositorischen Leistung – dies freilich subjektiv und gelegentlich auch deutlich ideologisch gefärbt. Und sie geben Zeugnis davon, wie präsent Wolfgang Jacobi im damaligen Musikleben war.32
Sein Name tauchte nicht nur häufig in der Tagespresse auf, sondern auch in Fachblättern wie der Deutschen Tonkünstler-Zeitung, Melos, in Die Musik oder der Zeitschrift für Musik. Dank seiner Begabung und seiner Erfolge als Komponist wurde er zudem bereits 1926 – vier Jahre nach Abschluss seines Studiums – in verschiedene Lexika aufgenommen, so in Das neue Musiklexikon und das Kurzgefaßte Tonkünstlerlexikon, 1929 auch ins Riemann/Einstein Musiklexikon.33 Im Musiklexikon von Hans Joachim Moser ist er 1935 ebenfalls noch vertreten, »in der erweiterten Auflage von 1943, nun ›jüdisch‹ weitgehend bereinigt, nicht mehr«.34