Kirche

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Öffnungspotenziale

Welche Potenziale zum Spielen kommen, sobald die Enge der kerngemeindlichen Provinz verlassen und die Weite aller Welt riskiert wird, ist von den Fresh Expressions allerdings eindrücklich zu lernen: Sobald Beziehung und Beteiligung in der ersten Reihe spielen, treten Ressourcensorge und Verteilkampf in die zweite oder dritte Reihe zurück. Der gewöhnliche Fall entpuppt sich als Stellvertreterschauplatz: Wo es nur noch um Ressourcen geht, ist längst der Auftrag entglitten. Sind aber Beziehungen erst mal geknüpft und Beteiligungen am gemeinsamen Weg geübt, dann entlasten Freiwillige die Personalressourcen, Umnutzungen die Raumressourcen und Legate die Projektkosten.

Wichtiger als das manifeste Kapital sind aber hoffentlich das kulturelle und das religiöse Kapital der Lebenswelten. Hier liegt ein riesiges, von der Kirche kaum schon gesehenes Potenzial. Der bekannte Teil auf der Lebensweltkarte, der territorial, monokulturell und institutionell funktioniert, nimmt ab, während der unbekannte Teil, der vital, divers und clustermäßig funktioniert, zunimmt. An die Stelle des gepflegten und ordentlichen output der Religion, die sichtbar ist in den großen Manifestationen des Heiligen Kosmos, tritt im selben Maß der ungepflegte und unordentliche input der Religion, die erkennbar wird in der Sehnsucht des Individuums nach Sinn. Sie äußert sich konkret als Sehnsucht nach Orientierung in der Kredibilitätskrise, nach Verortung in der Mobilitätskrise, nach Beziehung in der Medialitätskrise, nach Annahme in der Autonomiekrise. Die tägliche Sehnsucht nach Sinn ist das religiöse Kapital der Postmoderne: Wem kann ich glauben, wenn so vieles unglaubwürdig wird? Wo bin ich zu Hause, wenn mich unsere schöne Mobilität heimatlos macht? Wer bleibt mir treu, wenn die vielen Kontakte und Freunde sich ebenso rasch wegklicken wie einloggen? Wer nimmt mich an, wie ich bin, wenn ich überall zuerst wer sein muss? Vermutlich gleichen sich die postsäkulare und die präkonstantinische Zeit der Kirche genau an diesem Punkt: im religiösen Potenzial, das so groß ist wie selten in institutionellen Zeiten.

Die Fresh Expressions sind unterwegs mit diesem Potenzial. Sie sammeln quasi die Gemeindefernen, aber Kirchennahen, jene also, die sich zwar für die institutionelle parish kaum interessieren, wohl aber für die präinstitutionelle Bibel. Entsprechend versteht sich die community einer Fresh Expression nicht als congregation, sondern nennt sich church. Entsprechend sollten wir von Kirchenbildung statt von Gemeindeaufbau reden. Entsprechend ist jeder Name einer Fresh Expression ein brand, wie ihn der Wettbewerb im Dschungel der Postmoderne gewohnt ist, aber kein Ortsname, wie klassische Territorialität ihn kennt. This is our church! heißt denn auch der selbst gedrehte Film, den uns die Fresh Expression mit dem brand Sorted in Bradford stolz vorgeführt hatte: gepiercte und tätowierte Jugendliche aus der Lebenswelt der Pleasure Seekers, bei uns die Eskapisten oder Hedonisten. Was den Modelabels True Religion oder All Saints recht ist, ist den Kirchenlabels Moot oder Sanctus1 billig: Es gilt, das Potenzial religiöser Sehnsucht zu nutzen. Keine Frage, dass es der Kirche um den nonprofit, der biblisch Reich Gottes heißt, geht!

Region und Cluster

Im Herbst 2013 hat die Zürcher Kirchenleitung das Projekt KirchGemeindePlus lanciert (www.kirchgemeindeplus.ch). Bis 2019 soll die Gemeindelandschaft neu aufgestellt sein, neu mit allen Lebenswelten im Blick. Dabei sind die Region als der soziokulturelle Gestaltungsraum und der Cluster als der postmodern-adäquate Darstellungsmodus von entscheidender Bedeutung. Öffnung in die mittlere Reichweite führt in doppeltem Sinn zu kirchlicher Raumplanung: als lebensweltliche Nutzung bestehender Bauten und als missionale Erschließung bestehender Lebensräume.

Ein Cluster ergibt sich aus menschlicher Vitalität, nicht aus administrativer Ordnung. Hier hat die institutionelle Kirche Lernbedarf! Die Biodiversität des Regenwalds zeigt, was ein Cluster ist. Architektur und Stadtentwicklung haben bereits gelernt und das institutionell geleitete spatial planning am Reißbrett durch Beteiligung und Beziehung von Bewohnern zum cultural-spatial planning weiterentwickelt. Die landesweit Verantwortlichen anglikanischer Fresh Expressions formulieren aus ihrer Erfahrung die dringliche Empfehlung Create! Don’t clone! Warum?

Das Beispiel des Regenwalds kann als Parabel verstanden werden: Von den drei Lebensbedingungen Wasser, Nahrung und Licht sind zwei überreichlich gegeben, eine aber sehr mager. Die Böden sind nämlich kaolinhaltig und extrem nährstoffarm. So stehen Pflanzen und Tiere in einem Überlebenswettbewerb. Er führte über Jahrmillionen zu einer Überfülle des Verschiedenen auf kleinster gemeinsamer Fläche, denn jede species musste ihren eigenen Trick finden, unter den gegebenen Bedingungen eine Nische zu füllen. Gleiche Anforderungen führten zu unterschiedlichen Lösungen. Gemeinsam sind die Bedingungen und die Sicherung der knappen Nährstoffe: Sie besteht in einer Matte aus Pilzen, die das Absinken der Nährstoffe aus verwestem Leben verhindert und eine dünne Humusschicht ermöglicht. Das networking der Pilze sichert die gemeinsame Nährstoffgrundlage. Das Leben aber, das darauf gedeiht, ist höchst divers. Alle aber sind Beteiligte und Bezogene.

Gemeinsam ist das tragende Netzwerk, die Cluster aber sind verschieden. Jedes Biotop ein Cluster, jedes Stadtquartier ein Cluster, jede Region ein Cluster! Aber keiner gleicht dem anderen. Jeder Cluster ein Unikat! Entscheidend dafür ist die Vitalität. So wird auch das Projekt KirchGemeindePlus nur dann Erfolg haben, wenn die Regionen, die sich bilden, als Cluster und nicht als Plantagen verwaltet werden: Vitale territoriale Kirchgemeinden wird es weiterhin geben, Pfarrunionen für den service public der Kasualien, Zweckverbände für nicht alltägliche und besonders aufwendige Anforderungen, neue Vergemeinschaftungen in diversen Fresh Expressions, einzelne profilierte lieux d’église mit großer Leuchtkraft, spezifisch lebensweltliche Standorte für Jugendliche, Familien, Alte, virtuelle Netzwerke mit gelegentlichen Treffs, eine Stadtakademie, eine Kulturkirche usw.

Eine biblisch geleitete Biodiversität ist unsere Aufgabe. Der Schöpfer jedenfalls mag keine Monokultur, sonst hätte die Passagierliste der Arche anders ausgesehen. Die Vielgestaltigkeit der Glaubenden geht der Definiertheit des Geglaubten voraus, sonst könnte die Bibel um viele Seiten dünner sein.

Kirche! So heißt die Aufgabe, nicht das Problem.

1 Lebenswelten. Modelle kirchlicher Zukunft. Orientierungshilfe, hg. v. Roland Diethelm, Matthias Krieg und Thomas Schlag, Zürich 2012 und Lebenswelten. Modelle kirchlicher Zukunft. Sinusstudie, Zürich 2012.

Matthias Sellmann

Glauben, oder: Vom Unterschied zwischen Teebeuteln und Piranhas1
I) Glauben – und die Schwierigkeiten seiner Thematisierung in der Verkirchlichungsfalle

Als Autor oder als Redner kann man sich nur freuen, wenn man um Gedanken zum Grundvollzug des Glaubens gebeten wird. Vielleicht ist die Auskunft darüber, was der andere glaubt, sogar die wichtigste und für mich weiterführendste Information, die er (oder sie) mir geben kann. Und das aus drei Gründen.

1. Glauben ist das, ohne das es gar keine Freude gibt.

2. Glauben ist das ökumenischste Thema, das es geben kann.

3. Eine bestimmte Rede vom ‚Glauben‘ ist innerkirchlich ziemlich verdorben.

1) Glauben ist das, ohne das es gar keine Freude gibt. Wer über das Substantiv ‚Glauben‘ oder über das Verb ‚glauben‘ spricht, spricht aus theologischer, aber auch aus soziologischer Perspektive über die erstaunliche Kraft, sich zu Leuten, Dingen und Situationen in unserem Leben gestaltend zu verhalten. Glaube ist der kreative Möglichkeitssinn, der tatsächlich in uns möglich ist. Ich sehe eine Person – und plötzlich halte ich es für möglich, dass zwischen ihr und mir etwas entstehen kann: eine Debatte, ein Streit, ein Tausch, ein Flirt, ein Tanz, ein Diebstahl. Ich sehe eine Situation – und plötzlich halte ich es für möglich, dass ich ihr nicht ausgeliefert bin, sondern dass ich sie auf mich und mich auf sie beziehen kann. Ja: Ich sehe einen Teebeutel – und plötzlich halte ich es für möglich, dass dieser Teebeutel mehr sein kann und mehr sein will als ein paar Krümel in Vliespapier. Ich sehe mein Spiegelbild – und plötzlich halte ich es für möglich, dass dieses Spiegelbild mir zuzwinkert und mich auffordert: Alter, sei dein eigener Piranha: Greif dir diesen Tag und lass ihn nicht mehr los!

Das ist Glauben: Ich stelle mich der Tatsache, dass über mich das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, solange ich selber mitsprechen kann. Glauben ist die DNA dessen, was wir ‚Seele‘ nennen;2 Glaube ist das seltsame Phänomen, mehr sein zu wollen als Krümel in Vliespapier. Karl Rahner sagt: Glaube ist „die Ausdrücklichkeit des Sichstellens gegenüber dem Geheimnis.“3 Glaube ist also der Ernstfall des Lebens, ohne den es nur noch Ernstfälle gäbe.

2) Glauben ist damit das ökumenischste Thema, das es geben kann. Man merkt schon: Ich will hier über den Akt des Glaubens an sich nachdenken, und erst sehr viel später über die religiöse Artikulation des Glaubens, und noch viel später über die konfessionelle, die katholische, evangelische, anglikanische oder orthodoxe Artikulation. Über Glauben kann ich mit jeder und jedem sprechen. Die wirklich aufregende Frage lautet: Wie schaffst du das eigentlich, dich jeden Morgen dieser Welt zu stellen? Wie schaffst genau du es, „ausdrücklich gegenüber dem Geheimnis zu sein“, wie Rahner das nennt? Welche Wege hast du gefunden, mit dir selber klar- und durchzukommen? Man kann die Frage in Erinnerung an den kölnischen Karneval auch anders stellen: Jeder Jeck is anders – aber was für ein Jeck bist du? Und wieso? Kurz: Welcher Glaube bestimmt dein Leben?

 

3) Eine so formatierte Rede vom ‚Glauben‘ ist innerkirchlich ziemlich verdorben. Und weil wir in unserem Kongresszusammenhang ja über Kirchenformen der Zukunft nachdenken, muss das zur Sprache kommen. Ich meine: Wir sind als Kirchenleute in der Gefahr, diesen Existenzakt des Glaubens zu kleinformatig anzusetzen. Wir haben den Glauben verkirchlicht. Wir haben aus ihm zunächst eine religiöse, dann eine religiös-moralische und dann sogar eine religiös-moralisch-konfessionelle Veranstaltung gemacht. Der Begriff der ‚Verkirchlichung‘ stammt von dem bekannten Soziologen Franz-Xaver Kaufmann. Er analysiert schon in den späten 1970er Jahren, dass der Katholizismus der bürgerlichen Gesellschaften Europas im Zuge der funktionalen Differenzierung eine Zentralisierung und Bürokratisierung des Glaubens vollzieht, deren Umfang kirchengeschichtlich als erst- und einmalig gelten kann. Die damals geäußerte These lautet: „Wir können abkürzend sagen, dass das Christentum (…) sich in dem Sinne verkirchlicht, dass das Christliche zunehmend nur noch mit dem explizit Religiösen und das Religiöse mit den etablierten Kirchen und religiösen Gemeinschaften identifiziert wird, diese selbst jedoch zunehmend den Charakter religiöser Organisationen annehmen, deren Eigendynamik mit den Möglichkeiten individuellen Glaubens nur noch sporadisch zur Deckung zu bringen ist.“4 Das operative Instrumentarium dieser Verkirchlichung ist von Franz-Xaver Kaufmann und Karl Gabriel oft benannt und tiefgehend analysiert worden: Ultramontanismus als ideologische Matrix; Sakralisierung der Kirchenstrukturen, v. a. des Priestertums; Gleichschaltung von Hoch- und Volksreligion; papstzentrierte Frömmigkeit; romzentrierte weltkirchliche Bürokratisierung; Spezialisierung des kirchlichen Personals auf liturgische und seelsorgliche Funktionen; verfestigter Ständedualismus aus Klerikern und Laien; katechetisch verengte Bildungsoffensiven; Zuspitzung des konfessionellen Konflikts usw. Die kirchenhistorische Analyse kann zwar zeigen, dass diese Strategie der konfessionellen Milieubildung für den deutschen Katholizismus im bismarckschen Kulturkampf und in der Minoritätsposition des Deutschen Kaiserreiches überlebensrettend war. Trotzdem wurden hier Pfadabhängigkeiten und Sozialisationsroutinen verfestigt, die unzureichend sind für eine wirksame kulturelle Präsenz in offenen, pluralen und weltanschaulich neutralen Gesellschaften.

Was bedeutet ‚Verkirchlichung des Christseins‘? Kürzer und in populärer Anschaulichkeit gefasst: Wir denken doch tatsächlich, wir könnten die Intensität von Glauben gleichsetzen mit der Intensität von sonntäglichen Gottesdienstbesuchen. Wir denken, in der Bibel zu lesen und davon eindrücklich zu reden, wäre bereits ein Glaubenszeugnis. Wir denken, dass man jemanden zum Glauben bringen müsse, wenn er offensichtlich einem bestimmten Wertekodex nicht folgt. Die sogenannte Glaubenskrise der Deutschen lesen wir an der Tatsache ab, dass die Zeitungen schlecht über uns schreiben. Ja, es geht sogar so weit, dass wir scheinbar persönlich beleidigt sind und neurotisch werden, wenn man um uns herum nicht glaubt. Karl Rahner schreibt schon 1962: Die Kirche spielt zu oft „die Rolle einer kleinbürgerlich nörgelnden Gouvernante (…), [die, MS] mit engem Herzen (…) das Leben mit dem Beichtspiegel zu reglementieren versucht, der recht ist für das berühmte Lieschen Müller in der wohltemperierten Kleinstadt des 19. Jahrhunderts.“5 Wenn man erst über Kirche und erst dann über das Christsein spricht; wenn nicht Christsein zur Kirche, sondern Kirchlichkeit zum Christsein führen soll; wenn Christsein auf einen bestimmten rituellen, ethischen und kulturellen Habitus verengt wird, dann ist man in der Verkirchlichungsfalle.

Und hier liegt meiner Meinung nach einer der wesentlichen Gründe dafür, dass unsere Zeitgenossen uns Kirchenleute gerade nicht als Tänzer im Regen erleben, sondern als Verkäufer von Regenschirmen. Wir stehen unter dem sicheren Schirm und nennen das ‚Gemeinde‘. Gemeinde wird damit der Ort, an dem man nicht nass wird; man ist ‚drinnen‘ und schaut nach ‚draußen‘, und man wundert sich, warum die Regenläufer da draußen nicht unter den sicheren Schirm kommen: Es ist doch so viel trockener hier!6

Ja, es ist trocken bei uns. Mitunter staubtrocken. So sagen es jedenfalls die Milieustudien zu Kirche und Religiosität, die uns in vorher nicht möglicher Weise die Außenblicke auf uns aufbereiten und plausibel machen.7 Nur ein Zitat aus dem Forschungsprozess, das ich herausgreifen möchte. In einem Interview sagte uns jemand: „Ich erlebe euch als einen Hafen, dem die Ankerkette am Pier lieber ist als die Segel meines Bootes.“ Ich erlebe euch als Kerzenschein, nicht so als Taschenlampe.

II) Glauben und Evangelium

Erlauben wir uns, uns dem ‚Glauben‘ fundamentaler zu nähern. Hierzu zwei Gedankengänge, die plausibel machen können, warum der Ferrari unserer Glaubenszeugnisse nicht auf vollen 16 Zylindern läuft, sondern vielleicht auf dreien.

1. Das Evangelium ist kein Besitz der Kirchen, sondern die große These Gottes an die Welt.

2. Jesus hat primär keinen Glauben gebracht, sondern den schon vorhandenen genutzt.

Der Gedankengang will betonen: Der Glaube, von dem Jesus gesprochen hat, schafft keine Heimat. Mindestens begründet er keinen Anspruch darauf. Wer sich beheimaten will, soll eine Familie gründen, sich ein Haus bauen, einem Sportverein beitreten oder segeln lernen. All das ist wichtig, unverzichtbar und oft sehr großherzig. Aber all das hat eher wenig mit Kirche zu tun.

1) Das Evangelium ist kein Besitz der Kirchen: Der französische Jesuit Christoph Theobald hat jüngst darstellen können, dass man das griechische Wort euaggelion nicht nur übersetzen kann mit: ‚die gute Botschaft‘. Sondern auch mit: die Botschaft vom Guten.8 Man kann sich ja mit Recht fragen: Was ist denn überhaupt das, was mich da froh machen soll, wenn ich das Evangelium höre? Was sollen denn diese uralten Geschichten mit mir heute zu tun haben? Die Antwort lautet: Mit dem Evangelium steht eine Person im historischen Raum, die eine eigentlich spektakuläre These vertreten hat: Es gibt das Gute. Gemeint ist Jesus von Nazareth, und der meint mit ‚das Gute‘ ‚den Guten‘, nämlich seinen himmlischen Vater. Aber dies ist in einem ganz bestimmten Sinn zweitrangig. Fundamental behaupten Christen: Man kann in dieser Welt Gutes erleben. Ja: Man kann selber Ursprung und Grund von Gutem werden. Man kann sich ausdrücklich seinem Geheimnis stellen, weil es eine Kraft des Guten gibt, die wirkt.

Wie spektakulär so eine Behauptung ist, muss nicht lange illustriert werden. Für den, der nicht ausweicht, bringt jeder Tag bedrückend viele Gegenargumente zur Behauptung des Guten. Das ist vielleicht die neue Qualität der medialen Möglichkeiten, die wir heute haben. Auch früher gab es viel Schlechtes, Mieses und Erschreckendes – aber heute könnte man es sich pausenlos ansehen. Wir erleben uns viel öfter als Leute, die wegsehen und die sich dabei zusehen, wie sie wegsehen. Wir könnten sonst unser bisschen Psychohygiene gar nicht aufrechterhalten. Viele wissen von sich, wie dünn die Maske des Netten und Ruhigen wird, wenn es um diese psychohygienische Selbsterhaltung geht.

Wichtig ist nun: Das Evangelium behauptet nicht, dass die Welt irgendwie gut ist. Auch nicht, dass man in dieser Welt irgendwie zu Gott kommen muss, wenn man nur genug an sich arbeitet oder ausreichend nachdenkt. Unsere moderne Theologie hat diesen Kelch tief ausgetrunken und sagt uns: In dieser Welt spricht nichts dafür, dass es Gott geben muss. Wenn man so will, ist diese Welt ein Haufen Krümel ohne Vliespapier. Ein Stern im All, dessen Bewohner maßlos überschätzt werden. Asche von gestern, Asche von morgen. Christliche Theologien, so schreibt es der Kölner Theologe Hans-Joachim Höhn, sind keine Weltentstehungs- oder Welterklärungstheorien. Es gibt hier nichts zu erklären. Es sind Weltakzeptanztheorien. Sie bieten Argumente, das Mögliche für mindestens genauso wirksam zu halten wie das Faktische. Das scheint nicht viel zu sein. Aber es ändert alles. Es ist der Unterschied zwischen Zynismus, Skeptizismus, Fatalismus, Resignation – die alle als Lebenshaltungen hochverständlich sind – und dem Glauben, dass es Gutes geben kann.9

2) Jesus hat primär keinen Glauben gebracht, sondern den schon vorhandenen genutzt.

Jesus war selbst so ein Glaubender. Theobald arbeitet heraus, wie faszinierend vor allem die Zufallsbekanntschaften Jesu sind10 – also die Menschen, die er einfach so auf seinen Wegen trifft: die blutflüssige Frau, den Bettler Batimäus, den Hauptmann von Kafarnaum, den Jungen mit den fünf Broten und zwei Fischen, die syrophönizische Frau. All diese Zufallsbekanntschaften zeigen eine uns innerkirchlich unbekannt gewordene Gestalt: den staunenden Jesus. Jesus staunt über den robusten Lebensglauben dieser Leute: die blutflüssige Frau, die ihn einfach berührt; Batimäus, der seinen Mantel wegwirft – bevor er geheilt wurde!; den Hauptmann, der ihn nicht mal drängt, seinen kranken Sohn zuhause zu besuchen; den Jungen, der wenig hat, aber alles gibt; die Syrerin in ihrer entwaffnenden Schlagfertigkeit. Jesus ruft aus: Solch einen Glauben habe ich in Israel nirgends gesehen! Und, spektakulär: Frau, Mann, Junge: Dein Glaube hat dir geholfen!

Das ist Evangelium: Nicht ich, Jesus, habe dir geholfen. Sondern du hast dir selber geholfen, weil du geglaubt hast. Natürlich war Jesus in diesen Episoden unersetzlich. Aber dem Textzeugnis nach nicht als kausal Heilender, sondern als der, der als Erster und als Mutigster gegen jeden Aberglauben geglaubt hat, dass jener Glaube helfen wird, der schon da ist.

Was für ein Bild für Kirche! Kirche nicht als die, die alles in der Hand haben. Die wissen, ob einer richtig glaubt oder falsch. Die sich anmaßt, den richtigen Glauben zu kennen und vorzuschreiben. Sondern als Kirche, die wie Jesus staunt über das, was an Glauben und an Lebensleistung schon da ist. Die gegen jeden Aberglauben glaubt, dass der Glaube der Leute die heilende Kraft selber ist. Ja, Kirche als staunende Versammlung derer, die sich selber heilen lässt durch den Lebensglauben der Leute.

Darum sind solche Orte so wichtig wie e/motion aus Essen.11 Und darum sind solche Studien so wichtig wie die Milieustudien. Weil wir hier Lernmaterial bekommen. Weil hier gestaunt werden kann.

Lassen wir uns doch diese lernende, staunende, diese fundamental existenzielle Kirche nicht vermiesen. Kirche ist kein Idyll, sondern ein Biwak. Und Biwaks haben keine Fußbodenheizungen. Eine Umfrage hat 2006 ergeben, dass jeder zweite deutsche Katholik fünf und mehr beste Freunde in der Kirchengemeinde hat.12 Ich finde das irritierend, wenn Ferraris in der Garage stehen. Mich irritiert das, wenn Leute von ihrer ‚schönen Gemeinde‘ erzählen, in der sie sich jetzt schon 25 Jahre so sehr beheimatet fühlen. Welchen Sinn haben Streichhölzer, die in ihrer Schachtel in Frieden zusammen alt werden?

Unruhig schlägt unser Herz, bis es Ruhe findet in dir? Oh nein: Unruhig ist unser Herz, seit es Dir, der spektakulären Möglichkeit des Guten, begegnet ist – und seitdem rennen wir hier herum und fürchten den Regen und die Nacht, aber wir rennen weiter. Kirche ist das, was dort erst entsteht, wo der je individuelle und sehr variantenreiche Glaube an das Gute einen Ort bekommt, an dem er geteilt, beglaubigt und gefeiert wird. Natürlich ist Kirche auch der Ort, an dem man Jesus dafür dankt, dass er uns diesen Glauben vorgemacht hat, so dass wir alle an ihm kondensieren wie Wassertropfen an der Fensterscheibe. Natürlich ist Kirche auch der Ort, an dem der Glaube an das Gute an Gott adressiert wird. Natürlich ist Kirche auch der Ort, den es schon gibt, weil dieser Grundglaube an das Gute vom Hören kommt.

 

Aber damit er vom Hören kommen kann, muss es Leute geben, die vom Glauben erzählen. Und die das nicht sofort religiös und kirchlich machen, sondern die in der Lage sind, in ihrem alltäglichen Leben den Punkt zu identifizieren, an dem sie sich für das Gute und gegen das Müde, Lahme und Zynische entscheiden.

Werden wir solche Leute! Bilden wir solche Orte von Kirche! Versprechen wir uns, dass unsere Regenschirme nach längstens 30 Minuten porös werden! Gönnen wir den Deutschen Orte, an denen es wahrscheinlicher wird, an das Gute zu glauben. Seien wir Christen, über die Jesus staunt. Und über die er ausruft: Wahrlich, wahrlich – die sehen zwar aus wie Teebeutel – aber es sind echte Piranhas!

1 Kurzvortrag auf dem Kongress Kirche2, Hannover 2013. Der Vortragsstil wurde einer Publikation angepasst, im Duktus aber beibehalten.

2 Ähnlich Sellmann, Matthias: Art. Seelsorge/Pastoral, in: Georg Gänswein / Martin Lohmann (Hg.), Katholisch. Wissen aus erster Hand, Freiburg i. B. 2010, 98–100.

3 Rahner, Karl: Über die Möglichkeit des Glaubens heute, in: Gert Otto (Hg.), Glauben heute (II). Ein Lesebuch zur katholischen Theologie der Gegenwart, Hamburg 1968, 11–36, 18.

4 Kaufmann, Franz-Xaver: Kirche begreifen. Analysen und Thesen zur gesellschaftlichen Verfassung des Christentums, Freiburg i. B. u. a. 1979, 102 f.

5 Rahner, Über die Möglichkeiten des Glaubens heute, 30.

6 Eine ausführliche theologische Kritik der ‚Gemeindetheologie‘ und praxeologische Zukunftsausblicke liefert jetzt Sellmann, Matthias (Hg.), Gemeinde ohne Zukunft? Theologische Debatte und praktische Modelle, Freiburg i. B. u. a. 2013. Nur eine Zahl aus einer deutsch-US-amerikanischen Gemeindeumfrage von 2006: 67 % der deutschen Katholiken haben „5 und mehr engste Freunde“ in der Ortsgemeinde (Vergleich USA: 25 %)!

7 Vgl. auch den Beitrag von Heinzpeter Hempelmann in diesem Band.

8 Vgl. zum Folgenden Theobald, Christoph: Heute ist der günstige Augenblick. Eine theologische Diagnose der Gegenwart, und: Evangelium und Kirche, in: Hadwig Müller / Reinhard Feiter (Hg.), Frei geben. Pastoraltheologische Impulse aus Frankreich, Ostfildern 2012, 81–109. 110–138. Soziologisch ist unter Bezug auf die Rede vom ‚Guten‘ zu erinnern an Peter L. Bergers bahnbrechende Studie: Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Freiburg i. B. u. a. 21991, v. a. 84–89.

9 Vgl. Höhn, Hans-Joachim: Zustimmen. Der zwiespältige Grund des Daseins, Würzburg 2001; ders.: Der fremde Gott. Glaube in postsäkularer Kultur, Würzburg 2008.

10 Vgl. a. a. O., 104–106.

11 Vgl. den Beitrag von Christina Brudereck in diesem Band.

12 Vgl. Anm. 6. Zum auffällig deutlich koinonial geprägten Zuschnitt deutscher Gemeinden die Umfragedaten und kritischen Analysen in Reinhold, Kai / Sellmann, Matthias (Hg.): Katholische Kirche und Gemeindeleben in den USA und in Deutschland. Überraschende Ergebnisse einer ländervergleichenden Umfrage, Münster 2011; v. a. 79–84, 189–212. Tabelle A 110.

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