Kirche

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III Wunder werden sofort erledigt, Unmögliches dauert etwas länger

Wie sollen wir das alles schaffen? Zum Schluss noch ein paar Gesichtspunkte, die uns beim Projekt milieuübergreifender Kommunikation des Evangelium eine Hilfe sein können. Ich greife dabei zurück auf Erfahrungen aus der Mission.

a) Wir dürfen würdigen, was da ist

Wir müssen nicht alles machen, weil der lebendige Gott schon am Werk ist. Das ist eine der zentralen, immer wiederkehrenden Erfahrungen in der Missionsgeschichte. Wir überlegen, wie wir mit unzulänglichen Bordmitteln ein mentales Eiland gewinnen können. Und dann dürfen wir entdecken: Da sind Menschen schon bereit gemacht; da sind einschlägig Qualifizierte schon vorbereitet. Da gibt es schon Initiativen und Impulse. Sie warten nur darauf, dass ich sie entdecke, wahrnehme, würdige, wertschätze und leitend fördere. Was vielleicht abseitig erschien, am Rand der Gemeinde stand, ein G’schmäckle hatte, im Licht der Milieuperspektive bekommt es Glanz und Bedeutung.

b) Wir dürfen die Gaben und Begabungen anderer entdecken und nutzen

Wir müssen und wir sollen nicht alles selber machen. Christen und Kirchen dürfen die Chancen und Entlastungen entdecken, die sich zeigen, wenn der Blick nicht nur bis zur Grenze des Kirchturms, den Grenzen der Kirchengemeinde reicht, sondern sich weitet in die Region. Wie können wir einander entlasten,

– wenn nicht mehr jede Kirchengemeinde meint, das Komplettprogramm, nun auch noch für zehn Milieus, anbieten zu müssen;

– wenn an die Stelle der Konkurrenz die Kooperation tritt;

– wenn auf regionaler, überörtlicher Ebene Milieuschwerpunkte und -prägungen identifiziert werden;

– wenn die Arbeit in bestimmten Lebenswelten gezielt zwischen Kirchen und Gemeinden abgesprochen und gabenorientiert delegiert wird;

– wenn Kirchengemeinden und Mitarbeiter sich auf das konzentrieren, was sie wirklich gut können, und sich über die freuen, die neben ihnen noch ganz andere Dinge können;

– wenn auch ökumenisch verabredet wird, welche Gemeinde welche Lebenswelt speziell fokussiert,

– wenn nicht mehr alle im selben Karpfenteich der bürgerlichen Mitte fischen und sich – o biologisches Wunder – hinterher sheep stealing vorhalten!

c) Wir dürfen staunen, wenn wir sehen, wie das Reich Gottes in postmodernen Kontexten Gestalt gewinnt und wirksam wird

Unsere Gesellschaft ist nur zu einem kleinen Teil bewusst unchristlich und kirchenkritisch eingestellt. Sehr viele Menschen suchen heute, innerhalb wie außerhalb der Kirchen. Und wie oft wenden sie sich frustriert ab, weil sie bei Christen auf eine Gestalt von Glaube und Gemeinde treffen, die nicht zu ihrer Lebenswelt passt, die ihnen den switch zu einer aus ihrer Sicht völlig unnatürlichen Lebensweise zumutet. Gott – ja, aber doch nicht dieser erstarrte, anachronistische, unbewegliche traditionsorientierte oder bürgerliche Glaube. Wie wird christlicher Glaube neu glänzen, welche enorme Dynamik wird er neu entfalten, wenn es – vor allem den Jüngeren unter uns – gelingt, das Evangelium in postmodernen Lebenswelten zu kontextualisieren und anschlussfähig zu machen! Und wie wird uns das ermutigen, wenn wir entdecken werden: Das Reich Gottes ist nicht zum demografisch bedingten Untergang verurteilt. Es ist nicht nur die Sache eines immer älter werdenden, schrumpfenden, kulturell immer mehr an Bedeutung verlierenden Segmentes. Es erobert die Pop-Kultur und die U-Kultur, es wird lebensrelevant im Milieu der Performer und der Expeditiven; es ist der heiße Tipp für adaptiv-pragmatische Eltern, und es gibt einen christlichen Hedonismus, der sich in puncto cooler Lebensstil von nichts und niemandem überbieten lässt.

Und dann werden wir dabeistehen und nur staunen über das, was der lebendige Gott tut – wenn wir ihn nur lassen.

Literaturhinweise zur Weiterarbeit:

– Heinzpeter Hempelmann: Gott im Milieu. Wie Sinusstudien der Kirche helfen können, Menschen zu erreichen, 2. erweiterte Aufl. Gießen 2013.

– Ders.: Das Kriterium der Milieusensibilität in Prozessen postmoderner Glaubenskommunikation. Religionsphilosophische, ekklesiologische und institutionelle Gesichtspunkte, in: Matthias Sellmann / Gabriele Wolanski (Hg.): Milieusensible Pastoral. Praxiserfahrungen aus kirchlichen Organisationen, Würzburg 2013, 13–52.

– Ders.: Milieusensibles Marketing für Kurse zum Glauben. Zur Bedeutung der SINUS-Milieuforschung für missionarische Bildungsangebote, in: Handbuch Erwachsen glauben. Missionarische Bildungsangebote. Grundlagen – Kontexte – Praxis, hg. von der Arbeitsgemeinschaft missionarischer Dienste (AMD) Berlin, 2. Aufl. Gütersloh 2013, 26–86.

– Vgl. Sie auch die Texte zum Thema Milieu, die Sie auf meiner Homepage heinzpeter-hempelmann.de finden.

Matthias Krieg

Lebenswelten – terra incognita im eigenen Land

Historiker wissen es: Eine Epoche zu verstehen und zu beschreiben, gelingt erst aus dem Abstand der zweiten nachgewachsenen Generation. Fotografen wissen es: Eine Struktur wahrzunehmen und festzuhalten, bedarf des sensiblen Austarierens von Distanz und Nähe, Licht und Schatten. Psychologen wissen es: Eigenes Verhalten und Entscheiden in der Tiefe zu verstehen, gelingt nur auf dem Umweg über den Spiegel. – Wie also kann ich Lebenswelten verstehen, die zu meiner eigenen Gegenwart gehören, die ich in meiner Biografie berühre und deren eine ich stets auch teile?

Nur durch Perspektivenwechsel! Er ist notwendig, gehört aber, so leicht er scheinen mag, wohl zu den schwersten Schritten des Individuums: Ich teile mich. Ein Teil bleibt, und mit dem anderen trete ich aus mir heraus. Ich versuche, zwar mit meinen eigenen Augen, aber durch die Augen anderer und möglicherweise Fremder zu sehen. Ohne Zensuren und Ausblendungen, ohne tote Winkel und blinde Flecken, ohne Brett und Splitter. Ich entdecke terra incognita im eigenen Land, unbekannte Stämme im vertrauten Terrain. Dabei verändert sich nicht nur das Gesehene, auch der Sehende wird verändert. Horizonte tun sich auf, Einsichten stellen sich ein. – Lebenswelten. Modelle Kirchlicher Zukunft1 heißt die Publikation zum Projekt KirchGemeindePlus, mit dem Zürcherinnen und Zürcher im scheinbar Vertrauten das andere und Fremde entdecken. Dieser Aufsatz ist quasi ein Reisebericht aus der fremden Heimat. Einsichten dank Sehhilfen.

kleiner, ärmer, älter

Im Herbst 2010 erschien in Zürich das Buch Die Zukunft der Reformierten von Jörg Stolz und Edmée Ballif. Es basiert auf einer Umfeldanalyse, die der Schweizerische Evangelische Kirchenbund beim Observatoire des religions en Suisse in Lausanne in Auftrag gegeben hatte. Die Studie stellt gesellschaftliche Megatrends dar und gibt einen Überblick über kirchliche Reaktionen auf sie. Die erste Reaktion auf das Buch war die übliche: schon wieder eine Kirchenstudie? Die zweite war eine ärgerliche, hatten doch die Journalisten aus der ersten Aussage im summary gleich eine headline und einen negativen claim gemacht: kleiner, älter, ärmer. Das sei die Zukunft der Reformierten. – Eine Anleitung zur Abwicklung war nicht bestellt worden. Auch wollte niemand die ekklesiogene Depression nähren, nur noch die Dekadenz veredeln zu können.

Ich vermute, dass nur wenige Journalisten weitergelesen haben. Nach dem summary der Einleitung geht es erst richtig zur Sache. Ich fürchte, dass auch nur wenige Kirchenverantwortliche weitergelesen haben. Wo das Buch zur Sache gekommen ist, werden auch viele ermutigende Unternehmungen aufgelistet. Für alle Teile der Kirche aber gilt die Beobachtung des Observatoire, dass kaum eine Kirchgemeinde weiß, welche Schritte ihre Nachbargemeinde macht, kaum eine Landeskirche, welche Zukunftsprojekte ihre Nachbarin plant, kaum ein nationaler Kirchenbund, was die Schwestern und Brüder im Nachbarland unternehmen. Gastfreundlich wollen alle sein, nachbarschaftlich denkt fast niemand. Eigene Provinz statt alle Welt (Mk 16,15).

näher, vielfältiger, profilierter

Im Herbst 2011 wurde den beiden Zürcher Auftraggeberinnen, der reformierten Landeskirche des Kantons und dem reformierten Gemeindeverband der Stadt, urbi et orbi also, die bestellte Sinusstudie vorgestellt. Das Sinus-Institut hatte sie unter Leitung von Silke Borgstedt in Zürich erarbeitet. An der vorgängigen Pressekonferenz ergriff ich die Gelegenheit, einen positiven claim zu formulieren, der von einer großen Tageszeitung auch in die headline gestellt wurde. näher statt kleiner, vielfältiger statt älter, profilierter statt ärmer. Keine Kampfansage an die Realität, die ist, wie sie ist, war gemeint, sondern eine Kampfansage an die Mutlosigkeit und Verzagtheit derer, die sich nur von derjenigen Realität beeindrucken lassen, die sie bisher sehen.

Die einzige statistikähnliche Aussage der Sinusstudie bestätigte nämlich die statistikbasierte Aussage der Umfeldanalyse: Wie die deutschen Katholiken sind auch die Zürcher Reformierten nur bei zweieinhalb von zehn angenommenen Lebenswelten in der Fläche präsent, während sie bei siebeneinhalb von zehn nur Stützpunkte haben, und zwar desto kleinere, je jünger die Lebenswelten werden. – Anders gesagt: Bleibt kirchliches Agieren, wie es ist, so wird Kirche tatsächlich unaufhaltsam kleiner, ärmer und älter, denn die beiden konservativ-traditionellen Lebenswelten, die sie erreicht, sind in der Regel über fünfzig, wenn nicht bereits über sechzig Jahre alt und vertreten ein vormodernes Kirchenbild des 19. Jahrhunderts. Wendet sich kirchliches Agieren aber auch den wenig erreichten und weitgehend unerreichten Lebenswelten zu, was nur geht, wenn sie näher, vielfältiger und profilierter denkt und handelt, so wird ein turnaround denkbar. Dieses Wort wird zwar vor allem in der Wirtschaft verwendet, gewiss, es hat aber eine biblische Urgroßmutter: metánoia, was fromm die Umkehr und beschreibend eine Kehrtwende ist.

 

Lebenswelten im Doppelpack

Im Herbst 2012 erschien unser Arbeitsbuch. Die Zwillingsbände bieten einerseits die unberührte Sinusstudie, die Insidern elektronisch seit einem Jahr bereits zugänglich war, und andererseits die Orientierungshilfe, die wir in Jahresfrist durch Mitarbeit vieler zusammenstellen konnten. Der Doppelpack hat sich gelohnt: In der Regel erscheint eine Studie für sich und wird von wenigen Sachverständigen wirklich gelesen, während Auslegungen und Anwendungen der Studie einige Jahre später auf den Markt kommen und von Praxisleuten gelesen werden, denen die Studie aber fremd geblieben war oder bereits wieder Schnee von gestern ist. Wir wollten beide Teile zusammen in die Gemeinden geben: die Beschreibungen der zehn Zürcher Lebenswelten und die Hilfestellungen, die von soziologischen Beschreibungen zu gemeindlichen Unternehmungen führen. Die Sehhilfe möge zu Einsichten führen und Aussichten eröffnen. Zuversicht statt Nachsehen!

Zur Vernissage des Doppelpacks beschloss die Kirchenleitung, allen 179 Zürcher Kirchgemeinden ein Gratisexemplar zu geben. Im Gegenzug sollte jede Gemeindeleitung eine(n) Lebensweltverantwortliche(n) benennen. Seit der Publikation reisen Roland Diethelm und ich, die beiden Projektleiter, mit dem Milieuteppich durchs Land, eingeladen von Kirchenleitungen oder Gemeindeleitungen, Pfarrkapiteln oder Diakonatskapiteln. Das Interesse wächst, der Mix aus Beschreibung und Hilfestellung motiviert. Explorative Reisen, Kurse zur Milieusensibilität und eine Intervision für Lebensweltverantwortliche sind ausgeschrieben.

Bekanntes und Unbekanntes

Eine eigene Sinusstudie lohnt sich nur, wenn spezifische Fragestellungen über das hinausführen, was das Sinus-Institut nach über dreißig Jahren eigener Forschung und externen Aufträgen ohnehin schon bestens weiß. Das Institut ist aus der Politikforschung und Sozialforschung der Universität Heidelberg herausgewachsen. Es lebt von Aufträgen aus dem Profit- und Non-profit-Bereich. Ausgewertet werden sämtliche öffentlich zugängliche Daten. Jeder Auftrag, zumal von politischen, publizistischen oder kirchlichen Institutionen, generiert neues Wissen, das stets untereinander verknüpft wird. Die Datenmenge muss inzwischen gigantisch sein. Die Möglichkeit, bis in Wohnquartiere hinein die Anteile der Lebenswelten zu wissen, verblüfft.

Zürich stellte vier spezifische Anforderungen: Die erste fragt, wo eine Lebenswelt Sinn bezieht, setzt also einen weiten Religionsbegriff voraus, der nicht erst den manifesten output einer Religion, den Heiligen Kosmos, als Religion versteht, sondern bereits den anthropologischen input, das individuelle Transzendieren aus Sehnsucht nach Sinnerfüllung. Die zweite Anforderung fragt, wo eine Lebenswelt sich regelmäßig verortet, dies mithilfe der Trias aus Eigenort-Idiotopie, Sehnsuchtsort-Heterotopie und Unort-Utopie, wo sie sich also oft, selten bzw. nie aufhält, dies auch im Blick auf real aufsuchbare Zürcher Kirchen. Die dritte Anforderung fragt, welche Zeitdramaturgie die Regelwoche einer Lebenswelt prägt, einerseits im Verhältnis von Arbeitszeit und Freizeit, andererseits im Umgang mit Zeitfenstern wie Eigenzeit, Paarzeit, Familienzeit und Sozialzeit, dies auch im Blick auf die real gegebene kirchliche Zeitlichkeit. Die vierte Anforderung schließlich variiert den Slogan Wir sind das Volk!, indem sie wissen will, wie eine Gemeinde aussähe, wenn eine Lebenswelt sagen dürfte Wir sind die Kirche!

Kirche und Kommerz

Die Hauptkritik an der Zürcher Sinusstudie war K.-u.-K.-Kritik: Kirche biedere sich dem Zeitgeist an, lasse sich wie alle nun auch ökonomisieren, hole sich naivlings und hinterrücks Denkvoraussetzungen ins Haus, die ihr theologisch verboten seien, und erwarte Remedur genau von der Seite, die sie in Wahrheit beschädige.

Ich kann die Sorge verstehen, teile aber die Kritik nicht. Die Sinusstudie ist eine Sehhilfe. Nicht theologische Argumentation bedient sich ihrer, sondern instrumentelle Vernunft. Niemand wird bestreiten, dass für die Renovation oder den Neubau einer Kirche besser eine Architektin gefragt wird als eine Pfarrerin, wenn auch die Architektin für Fragen der Expressivität besser eine Theologin zu Rate zieht als eine Werbeagentur. Die Studie hilft zu sehen, wie die Menschen sind, stellt aber nicht die anthropologischen Grundfragen des Menschseins. Kirche hat es in Jahrhunderten verstanden, sich verschiedene Zugänge zur Wirklichkeit nutzbar zu machen, ohne ihre raison d’être schon deshalb aus dem Auge zu verlieren. So auch hier!

Die Nutzung der Studie deckt allerdings die denkwürdige Situation auf, dass längst eingetreten ist, wovor Kritiker der Studie warnen: die Ökonomisierung des ganz normalen Verhaltens im kirchlichen Alltag. Längst ist sie auch kirchlich selbstverständlich: die stille Verwandlung von Leistungen in Waren, von Gelegenheiten in Angebote, von Gliedern in Kunden, von Erfahrung in Unterhaltung, von Beteiligung in Konsum. Oft wird Kirche veranstaltet statt gelebt, Wort konsumiert statt geglaubt, Gemeinde inszeniert statt gebaut. Kirche ist aber kein service public, auch wenn sie faktisch, etwa im Kasualbereich, oft so genutzt wird. Kirche ist keine Dienstleisterin, indem sie spirituelle Waren und diakonische Hilfe über ein dichtes Filialnetz distribuiert. Kirche ist kein Kulturbetrieb, der ein Programm bietet und nach Einschaltquoten gestaltet. All dies auch zu können, tut der Kirche gewiss gut, ist aber nicht ihre raison d’être. So ist es geradezu das Alleinstellungsmerkmal einer Sinusstudie, die von Profitorientierten wie Nonprofitorientierten gleichermaßen genutzt wird, dass sie die latente Profithaltung von vielen Nonprofitorientierten ebenso aufdeckt wie die latente Nonprofithaltung von wenigen Profitorientierten!

Anglikanische Entdeckungen

Im Sommer 2011 nahm mich der Verantwortliche für die Ausbildung der Pfarrschaft mit auf die Reise. Sein Vikariatskurs sollte mit einem Besuch diverser Fresh Expressions of Church in London, Sheffield, Manchester und Liverpool zu Ende gehen. Besuche und Lektüren führten zu einer überraschenden Nähe: Was der mental-habituelle, der ethnologisch und sozialwissenschaftlich basierte Ansatz der Sinusstudie nahelegt, nämlich die postmoderne Frage how people are zu stellen statt der vormodernen Frage where people are, und was dann die Antworten aus größtmöglicher Nähe zu den Leuten erbringen, genau das ist bei den Fresh Expressions bereits Praxis und daher gut zu studieren. Sie tun, was Sinusstudien nahelegen. Sie sind den Menschen so nahe und mit ihnen so unterwegs, wie man sein muss, wenn man verstehen will, wie sie ticken. Sie liefern Empirie und Anschauung, während die Studie die soziologische Verortung auf der mental-habituellen Karte der Region ermöglicht. Sie ermutigen, sich zu den unbekannten Stämmen der terra incognita aufzumachen, während die Studie sicherstellt, dass nicht nur gewisse, sondern alle Lebenswelten in den Blick kommen. Sie veranschaulichen, wie gründlich der Perspektivenwechsel von der vormodernen Institution zum postmodernen Individuum sein muss, während die Studie die Unumkehrbarkeit der Entwicklung vom 19. ins 21. Jahrhundert aufweist.

Die englische Reise hatte Folgen. Im Zwillingsband der Orientierungshilfe sind in Gestalt eines Reiseberichts die besuchten Fresh Expressions beschrieben und lebensweltlich gemäß der englischen Milieulandschaft verortet. Interviews mit ähnlichen Gruppierungen, die es in der Schweiz bereits gibt, stehen neben Interviews mit Verantwortlichen, die in ihrer Region mit Sinusstudien arbeiten und bereits lebensweltlich unterwegs sind. So entstand der dritte Teil mit dem Titel Erfahrungen. Er möge Gemeinden ermutigen, sich auf den Weg zu machen.

Milieusklerose

Der Befund der Sinusstudie wird von den Fachleuten freundlich und weich eine Milieuverengung genannt. Unfreundlich und hart kann man ihn auch als Krankheitsbild auffassen und als institutionelle Milieusklerose diagnostizieren. Die zweieinhalb traditionell-konservativen Lebenswelten sind handlungsleitend. Sie steuern alle Expressivitäten und Investitionen. Sie beanspruchen alle Ressourcen. Sie bestimmen und erhalten die Monokulturen in vielen Bereichen. One size fits all! Sie pflegen einen morphologischen Fundamentalismus, als habe der Heiland höchstselbst verfügt, was ihnen als Regelfall von Kirche gilt. Sie haben seit den Sechzigern des 20. Jahrhunderts eine unsichtbare Diktatur des ihnen Sichtbaren errichtet.

Um ein Beispiel zu bringen: In der Stadt Zürich stellen die beiden Lebenswelten der Postmateriellen und der Experimentalisten 57 % der Gesamtbevölkerung. Von 100 % Steuersubstrat und 100 % Staatsbeitrag, die dem Verbund der 34 Kirchgemeinden als Ressourcen zur Verfügung stehen, kommen aber mutmaßlich mindestens 75 % den beiden traditionell-konservativen Lebenswelten zugute, die in der Stadt nicht einmal 10 % der Gesamtbevölkerung ausmachen. Wen wundert es noch, dass Menschen austreten? Wer nicht vorkommt, ist eigentlich schon gegangen.

Milieuinkongruenz ist der zweite bedenkliche Befund der Fachleute: Wer einen kirchlichen Beruf ausübt, gehört in der Regel zur Lebenswelt der Postmateriellen. Diese Dissoziation kann bedeuten, dass er Kirche für Fremde veranstaltet statt mit Eigenen Kirche zu sein, dass er Angebote für eine Lebenswelt produziert, die ihm eigentlich wesensfremd ist. In jedem Fall fördert Milieuinkongruenz die stille Ökonomisierung der Kirche. Die Standardfragen jeder naiven Umfrage entsprechen dem: Wie finden Sie uns? Was hätten Sie denn gerne von uns? Zudem führt Milieuinkongruenz die Berufsperson in die Zerreißprobe: Macht sie es milieusensibel und lebensweltlich sehr gut, riskiert sie, sich selbst expressiv zu verlassen und selbst spirituell zu verhungern. Würdest du in deinen eigenen Gottesdienst gehen?, ist dafür die Gretchenfrage.

Freikirchen leiden übrigens ebenso an Milieusklerose, nur in einem anderen Milieu: Sie erreichen gut die Lebenswelt der Bürgerlichen Mitte, kommen aber mit ihrer Expressivität und trotz ihren Investitionen kaum über ihren Einzugsbereich hinaus. Die englischen Fresh Expressions, von denen sich mindestens 50 % evangelikal gebärden und verstehen, also zur Lebenswelt des Quiet Peaceful Britain zu zählen wäre, müssen sich, lebensweltlich betrachtet, daher fragen lassen, ob sie die Mission-shaped Church tatsächlich mit allen Lebenswelten verwirklichen oder nur einmal mehr alle anderen für Quiet Peaceful Britain erwecken und bewegen.