Buch lesen: «Geist & Leben 1/2017»

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Inhalt

Heft 1 | Januar-März 2017

Jahrgang 90 | Nr. 482

Notiz

Wenn der Geist wählt

Stefan Kiechle SJ

Nachfolge

Altern in Würde

Medard Kehl SJ

Bestätigung durch Gott. Entscheidungen im Pilgerbericht des Ignatius

Kevin Leidich SJ

Heilige Gastfreundschaft. Louis Massignon als Prophet des islamisch-christlichen Dialogs

Carol Cooke Eid dmm

„Kirche des Islam“. Zur Theologie Paolo Dall’Oglios

Eva-Maria Lika

Nachfolge | Kirche

Lectio Divina. Ein Werkstattbericht

Egbert Ballhorn

Kuba und Kreta. Beobachtungen zur geistlichen Ökumene

Daniel Galadza

Die Mathematik der Güte. Zur Logik der Barmherzigkeit

Oliver Tanzer

Nachfolge | Junge Theologie

Die gekreuzten Blicke. Ikone und Gebet bei Jean-Luc Marion

Daniela Feichtinger

Reflexion

Ungedeckte Schecks. Ist es klug, auf die Wahrheit des Naturalismu zu wetten?

Martin Breul

Arnheimer Mystik. Katholische Reform zu Beginn des 16. Jhs.

Kees Schepers

Beten mit Geist und Verstand. Tagungsbericht AGTS 2016

Katharina Karl

Lektüre

Das walte Gott. Luthers Morgensegen

Alex Stock

Was ist beten? Ein Literaturbericht

Hilda Steinhauer

Buchbesprechungen

Hinweis des Herausgebers:

Frau Prof. Dr. Saskia Wendel ist zum

31.12.2016 auf eigenen Wunsch aus

dem Beirat der Zeitschrift ausgeschieden.

Als neue Mitglieder begrüßen wir:

Pfarrerin Andrea Richter (Berlin) und

Jörg Nies SJ (Rom).

Impressum

GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik

Erscheinungsweise: vierteljährlich

ISSN 0016–5921

Herausgeber:

Deutsche Provinz der Jesuiten

Redaktion:

Christoph Benke (Chefredakteur)

Anna Albinus (Lektorats-/Redaktionsassistenz)

Redaktionsbeirat:

Bernhard Bürgler SJ/Wien

Margareta Gruber OSF/Vallendar

Stefan Kiechle SJ/München

Bernhard Körner/Graz

Simon Peng-Keller/Zürich

Jörg Nies SJ/Rom

Andrea Richter/Berlin

Klaus Vechtel SJ/Frankfurt

Redaktionsanschrift:

Pramergasse 9, A–1090 Wien

Tel. +43–(0)1–310 38 43–111/112

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Artikelangebote an die Redaktion sind willkommen. Informationen zur Abfassung von Beiträgen unter www.geistundleben.de. Alles Übrige, inkl. Bestellungen, geht an den Verlag. Nachdruck nur mit besonderer Erlaubnis. Werden Texte zugesandt, die bereits andernorts, insbesondere im Internet, veröffentlicht wurden, ist dies unaufgefordert mitzuteilen. Redaktionelle Kürzungen und Änderungen vorbehalten. Der Inhalt der Beiträge stimmt nicht in jedem Fall mit der Meinung der Schriftleitung überein. Für Abonnent(inn)en steht GuL im Online-Archiv als elektronische Ressource kostenfrei zur Verfügung. Registrierung auf www.geistundleben.de.

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Jahresabonnement € 42,00 (D) / € 43,20 (A)

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Diesem Heft liegt folgender Prospekt bei:

Lebendige Seelsorge, Echter Verlag

Wir bitten um Beachtung.

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

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Stefan Kiechle SJ | München

geb. 1960, Dr. theol, Exerzitienleiter, Autor, Provinzial der Deutschen Provinz der Jesuiten

stefan.kiechle@jesuiten.org

Wenn der Geist wählt

Im Oktober und November 2016 fand in Rom eine Generalkongregation (GK) des Jesuitenordens statt. Eine GK berät über den Stand und die zukünftige Ausrichtung des Ordens, und in den meisten Fällen wählt sie – auf Lebenszeit – einen Generaloberen für den Orden. Weil der bisherige „General“ P. Adolfo Nicolás aus Altersgründen zurücktrat, wurde diese 36. GK der Ordensgeschichte einberufen. Sie hatte den 31. Nachfolger des hl. Ignatius von Loyola zu wählen. Die Findung des geeigneten Mannes ist ein geistlicher Prozess. Im Hören auf den Geist versucht man, den für dieses Amt geeignetsten Mitbruder zu identifizieren. Wie geht das?

215 „Elektoren“ (Wähler) kommen aus aller Welt zusammen; 70 von ihnen sind die Provinziäle, die übrigen werden von den Provinzen gewählt. Sie kennen sich kaum und sprechen keine gemeinsame Sprache. Jeder hat eine Stimme; jeder ist wählbar; jeder muss wählen; der Gewählte muss die Wahl – im Gehorsam – annehmen. Es gibt keine Kandidaten, die der Versammlung präsentiert würden und keine Diskussion über mögliche Kandidaten. Es gibt keine Parteien oder Fraktionen. Niemand darf „Kampagnen“ machen: weder für noch gegen sich selbst, weder für noch gegen einen anderen, sonst müsste er angezeigt und von der dafür zuständigen Kommission aus der Versammlung entfernt werden.

Was wird stattdessen gemacht? Vier ganze Tage lang wird „gemurmelt“: In einer Atmosphäre des Gebets und des Fastens verabredet man sich mit Mitbrüdern zu Einzelgesprächen: Man fragt über Dritte, die jener Gesprächspartner gut kennt, nach deren Stärken und Schwächen. Anfangs hat jeder einige Ideen, wer geeignet sein könnte. Diese persönliche Liste erweitert sich im Lauf der Tage, weil man von anderen Kandidaten hört, die man noch nicht kannte; zugleich kürzt sie sich, weil einige bei genauerem Zusehen doch nicht in Frage kommen. Die Einzelgespräche sind anstrengend, doch sie finden in einer brüderlichen und geistlichen, wertschätzenden und offenen, dabei zutiefst ehrlichen Atmosphäre statt.

Am fünften Tag feiert die GK morgens ein Hochamt zum Heiligen Geist. Danach versammeln sich alle Wähler in der Aula, die dafür ganz abgeschottet wird.Ein älterer und weiser Mitbruder hält eine kurze Exhorte über die Weise der Wahl. Danach beten 215 Männer schweigend 45 Minuten lang in der Aula – nach Ignatius sollen die Wähler sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht festgelegt haben! Dann schreibt jeder einen Namen auf einen Zettel. Öffentlich werden die Namen verlesen. Die Stimmen konzentrieren sich auf wenige Mitbrüder. In der Geschichte wurde immer spätestens im zweiten Wahlgang ein Mitbruder mit absoluter Mehrheit gewählt – jener ist am meisten überrascht, denn er wird ja im „Gemurmel“ am wenigsten befragt. Daraufhin wird der Name – heutzutage geht das per Handy – dem Papst mitgeteilt. Nun tritt jeder Elektor vor und begrüßt den neuen General persönlich. Danach wird das Te Deum gesungen und der Name weltweit veröffentlicht. Am nächsten Tag gibt es eine feierliche Dankmesse mit der ersten Predigt des Gewählten, woraufhin die GK unter Führung ihres neuen Oberen mit der Arbeit an den Regularien fortgesetzt wird.

Voraussetzung für diesen Wahlprozess ist – ignatianisch gesagt – die Indifferenz aller Teilnehmer: Niemand hat eine Vorliebe oder ein persönliches Interesse, das er durchsetzen möchte. Es gibt keine „Richtungen“, keine nationalen, kulturellen oder theologischen Vorbehalte. Gewählt wird derjenige, der nach den Kriterien der Satzungen des Ordens der geeignetste ist: Er soll mit Gott verbunden, kommunikativ und brüderlich sein, er soll von Eigeninteressen frei sein und führen können, er soll das rechte Alter, gute Gesundheit und Energie haben. Während der Murmelphase macht man sich betend immer wieder neu indifferent: frei von einseitigen Ab- oder Zuneigungen; in den Gesprächen macht man niemanden schlechter oder besser, als man ihn in Wahrheit empfindet. Und alles bleibt diskret: Am Ende wird nur der Name des Gewählten veröffentlicht, nichts dringt nach außen über andere Kandidaten, die in die engere Wahl kamen, über die Stimmverteilung oder gar über Inhalte des Gemurmels.

Alle Beteiligten haben die fünf Tage der Generalswahl als ein bewegendes geistliches Ereignis erlebt. Der Richtige kristallisierte sich heraus, wie von Geisteshand bestimmt. Der Eindruck ist: Nicht wir haben gewählt, sondern wir haben dem zugestimmt, der gewählt ist. Und man fragt sich, warum es in der Kirche nicht öfters solche geisterfüllten Wahlprozesse gibt …

Am 14.10.2016 wurde mit P. Arturo Sosa (67) aus Venezuela erstmals in der Geschichte ein Nichteuropäer zum Generaloberen der Jesuiten gewählt. P. Sosa war Provinzial und Präsident einer Universität. In seiner vom Chaos zerrissenen Heimat engagierte er sich für Frieden und Gerechtigkeit. Seit 2014 wirkte er in Rom als Generalsberater und als Delegierter des Generals für die römischen Häuser und Hochschulen des Ordens. Er ist mit Papst Franziskus befreundet. Möge ihm der Geist, der ihn so überraschend ins Amt geschoben hat, die nötigen Einsichten und Kräfte geben. Möge sein Einsatz der größeren Ehre Gottes gereichen und den Menschen und der Kirche dienen.



Medard Kehl SJ | Frankfurt a.M.

geb. 1942, Priester, Seelsorger,

Prof. em. für Dogmatik

Altern in Würde

Als es sich bei uns in St. Georgen vor einiger Zeit herumsprach, dass ich zu diesem Thema sprechen würde1, meinte ein deutlich älterer Mitbruder: „Du bist doch noch gar nicht so alt! Was verstehst du denn schon davon?“ In der Tat, eine gute Frage, die gleich zum Thema hinführt: Wer ist eigentlich alt? Wann gilt man als alt? Gibt es klare, generelle Kennzeichen des Alters? Bloß eine bestimmte Zahl von Lebensjahren dürfte wohl nicht hinreichend sein. Auf diese Frage geht der erste Teil meines Vortrags ein. Er erläutert die beiden Begriffe „alt sein“ bzw. „alt werden“ und „in Würde“. Im zweiten Teil möchte ich einige geistlich-praktische Anregungen für dieses In-Würde-Altern geben. Manches davon ist mir v.a. in den letzten drei Jahren durch zwei ziemlich schwere und langwierige Erkrankungen zuteil geworden. Der dritte Teil bietet einige theologische Überlegungen, worin die besondere Chance des Alters als eigene Lebensphase liegt.

Alt sein – Alt werden – das Alter

Für diese Worte gibt es keine eindeutigen Definitionen, die auf alle „alten“ Menschen gleichermaßen zutreffen. Es handelt sich um ausgesprochen relative Begriffe, die ganz verschieden bestimmt werden können. Dies hängt im Einzelnen von sehr vielen Faktoren und Umständen ab2, z.B. vom Alter dessen, der jemanden als alt bezeichnet. Kinder und Jugendliche verstehen unter „alt“ etwas völlig anderes als ihre vierzigjährigen oder fünfzigjährigen Eltern.

Die individuelle Lebenssituation, wie lange man gesund und fit ist (oder auch nicht), färbt auf das Lebensgefühl ab. So sagte P. Nell-Breuning SJ, der mit 101 Jahren starb und bis zuletzt sehr gesund war, mit 96 Jahren, als er ein paar Tage ins Krankenhaus musste: „Jetzt bin ich definitiv alt geworden …“. Auch die sich verändernden sozialgeschichtlichen Verhältnisse nehmen Einfluss auf die Defini tion „alt sein“. Als die drei Generationen Großeltern – Eltern – Kinder noch viel enger und dauerhafter beisammen lebten, begann das Altsein damit, dass sich die Großeltern auf ihr „Altenteil“ zurückzogen und die Verantwortung abgaben.

Demographische Veränderungen („Alterspyramide“) führen zu geänderten Sichtweisen: Wenn die über Sechzigjährigen immer mehr, die unter Dreißigjährigen dagegen immer weniger werden, verschiebt sich das gesellschaftliche Bewusstsein von „alt“ in Richtung auf eine immer höhere Zahl von Lebensjahren. Hinzu kommt, dass die Lebenserwartung aufgrund besserer Ernährung, gesünderem Lebensstil und guter medizinischer Versorgung ständig steigt.

Darum bestimmt man heute weitgehend das Alter eines Menschen weniger nach der Zahl der Lebensjahre, sondern stärker nach der prägenden Lebensphase, in der ein Mensch steht: Der Zeit der Kindheit, des Heranwachsens und der Ausbildung (1) folgt die lange Phase der beruflichen Tätigkeit und der Verantwortung in Familie und Gesellschaft, wenn ein Mensch in der „Vollkraft“ seines Lebens steht (2). Die sog. „jungen Alten“ stehen am Ende der beruflichen Tätigkeit. Im Ruhestand besitzen viele Menschen noch genügend Zeit, Kraft, Vitalität und Gesundheit, um sich in den verschiedensten Bereichen zu betätigen: Reisen, Hobbys, soziale, kirchliche oder andere ehrenamtliche Engagements. Diese Altersstufe, die zehn bis zwanzig Jahre und mehr dauern kann, trägt heute großteils das Leben der Pfarrgemeinden, bei den Laien wie bei den Priestern (3). Schließlich spielen sich körperliche, seelische und geistige Beeinträchtigungen, Erkrankungen und Schmerzen so in den Vordergrund, dass der Abschied von vielen gewohnten Tätigkeiten ansteht. Die Sorge um ein einigermaßen gutes oder zumindest erträgliches Leben – bis hin zur Pflegebedürftigkeit – tritt zunehmend in den Vordergrund. Das Leben insgesamt wird mühsam (4).

Ausgehend von meiner eigenen Lebenssituation konzentriere ich mich auf die Zeit des Übergangs von der dritten zur vierten Lebensphase: Wie lässt sich diese Zeit geistlich-menschlich so gestalten, dass ein Altern in Würde möglich wird? Damit kommen wir zu diesem zweiten Begriff, der zu klären ist: dem Altern „in Würde“. Heute wird dieser Begriff meist im Zusammenhang mit dem Sterben gebraucht: in Würde sterben. Gemeint ist in der Regel ein Sterben in Selbstverantwortung und Selbstbestimmung. „Menschenwürdig“ heißt, „das Heft selbst in die Hand zu nehmen und sein Ableben möglichst mit Hilfe eines kompetenten Dienstleisters eigenständig zu organisieren“.3 Kein Wunder, dass eine bekannte Schweizer Sterbehilfeorganisation sich den Namen Dignitas (Würde) zugelegt hat. Ein Beispiel für dieses Verständnis von Würde gibt Hans Küng. Im dritten Band seiner Autobiografie berichtet er (inzwischen über 85 Jahre alt), dass er an Parkinson erkrankt ist und ihm Erblindung droht. Dazu bemerkt er: „Ein Gelehrter, der nicht mehr schreiben und lesen kann? Was dann? Der Mensch hat ein Recht zu sterben, wenn er keine Hoffnung mehr sieht auf ein nach seinem ureigenen Verständnis humanes Weiterleben.“4 Offensichtlich ist das humane Leben für Küng und viele andere Menschen heute nicht mehr gegeben, wenn sie nichts mehr in ihrem gewohnten Metier leisten können, wenn ihre Kräfte deutlich nachlassen und sie obendrein mehr und mehr von anderen abhängig werden. Humanes, menschenwürdiges Leben als Leben weithin in Gesundheit und ohne größere Einschränkungen – ein enger und elitärer Begriff von Würde! Demnach ist das Leben sehr vieler Älterer, Kranker oder Behinderter nicht menschenwürdig. Es wundert darum nicht, dass nach einer Umfrage etwa 50 % unserer Bevölkerung den assistierten Suizid einem Alter vorziehen, in dem sie mehr oder weniger bettlägerig sind.

In früheren Zeiten haben Christen bewusst eine ars moriendi kultiviert, die „Kunst des guten Sterbens“: Sie bedeutete, gut vorbereitet und im Kreis geliebter Menschen, die für einen beten, zu sterben. Zusätzlich bräuchten wir heute eine ars senescendi, eine „Kunst des Altwerdens“. Diese dürfte bewusst nicht am jeweiligen Grad der Leistungsfähigkeit, der Unabhängigkeit und der Selbstbestimmungsmöglichkeit ihr Maß nehmen. Sie müsste sich vielmehr an einem Menschenbild orientieren, das die Würde jedes Menschen begründet sieht in dessen Gottebenbildlichkeit: Er oder sie ist und bleibt in allen Lebensphasen ein geliebtes und wertgeschätztes Kind Gottes, dem er oder sie das eigene Leben als Leihgabe verdankt, um es ihm am Ende zurückzugeben (aber nicht in einem Akt der Vernichtung).5

Häresie des Leistenmüssens

Eine Kunst des Altwerdens hat einen zentralen Gesichtspunkt: das Selbstwertgefühl, zumal wenn die vierte Lebensphase spürbar näher rückt oder man schon voll in ihr steht. Wovon nährt sich mein Selbstwertgefühl, wenn ich nicht mehr (wie viele Jahre lang) so arbeiten und so viel leisten kann? Wenn ich nicht mehr so gefragt bin wie früher und ich auch keine besondere Verantwortung mehr übernehmen kann?

Hier könnte uns die Aktualisierung einer Bibelstelle inspirieren, nämlich eine Dämonenaustreibung Jesu im Neuen Testament: Welche Dämonen würde Jesus hier bei uns, in unseren Gemeinschaften austreiben? Einen vor allem, den Dämon Arbeit! Dreht sich bei uns nicht doch fast alles um ihn? Auch Ordensleute sind Kinder ihrer Zeit. Und da gilt v.a. das Motto: „Man ist, was man leistet.“ Es geht dabei keineswegs darum, unsere wissenschaftliche oder pastorale Arbeit, unseren Willen, etwas Gutes leisten zu wollen, generell zu dämonisieren. Arbeit undLeistung sind jedoch oft so dominant, dass wir uns fast zur Gänze von daher definieren und unser Selbstwertgefühl beziehen – und darin liegt das „Dämonische“. Anderes, zumindest genau so Wichtiges, wenn nicht Wichtigeres, verkümmert allmählich darunter: zwischenmenschliche Beziehungen; die Zeit und die Aufmerksamkeit, die wir für die Pflege unserer Beziehung zu Gott und zu unserem Nächsten, der uns braucht, aufwenden; der ganze musisch-kulturelle Bereich unserer Freizeit (Lektüre, Musik, Kunst etc.); die notwendige Sorge für Erholung, entspannende Bewegung etc. Mit der „Häresie des Leistenmüssens“ (H. Rotter SJ) bleibt so vieles auf der Strecke!

Darum ist die Frage umso bedeutsamer: Wie reagiere ich als Christ darauf, wenn Arbeit und Leistung (beruflich, privat, ehrenamtlich) alters- oder krankheitsbedingt nicht mehr so im Vordergrund stehen können? Wozu bin ich eigentlich noch nütze? Wo kann man mich noch brauchen, – im Maße meiner Kräfte, ohne mich zu überfordern?

Ein Jesuswort eröffnet hier eine Perspektive: „Als du noch jung warst, hast du dich selbst gegürtet und konntest gehen, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst“ (Joh 21,18). Alt werden in Würde – das geht nicht ohne um das Vertrauen zu beten und zu ringen, dass „der andere“ eben Jesus ist, die menschliche Gestalt der Liebe Gottes, die uns gürten und führen wird, wohin wir nicht unbedingt von uns selbst aus gehen würden.

Nehmen wir noch andere Jesusworte hinzu – etwa die Abschiedsreden (Joh 14–17), wo auch er Abschied nimmt von seinem irdischen Wirken und seinen Freunden; das Fruchtbringen der Reben am Weinstock (Joh 15,1–17); das Weizenkorn, das in die Erde fällt und stirbt (Joh12,25f.) –, so zeigt sich: Nicht Leistung und Erfolg stehen bei Jesus im Vordergrund, sondern das Fruchtbringen für das Reich Gottes; und das ist unabhängig von Gesundheit und Alter. Pater Arrupe, der frühere Generalobere der Gesellschaft Jesu, lebte dies in seiner langen, schweren Krankheit vor. Am 3. September 1983 richtete er an die versammelte Generalkongregation des Ordens folgende Botschaft: „Liebe Patres, wie sehr hätte ich mir gewünscht, mich für diese Begegnung mit Ihnen in besserer körperlicher Verfassung zu befinden. Wie Sie sehen, kann ich nicht einmal direkt zu Ihnen sprechen. Aber meine Assistenten haben verstanden, was ich jedem von Ihnen sagen will. Mehr denn je befinde ich mich jetzt in Gottes Hand. Das habe ich mir mein ganzes Leben lang von Jugend auf gewünscht. Nun gibt es allerdings einen Unterschied: Heute liegt die Initiative ganz bei Gott. Mich so völlig in seinen Händen zu wissen und zu fühlen, ist wahrhaftig eine tiefe geistliche Erfahrung“.6

Wie kann man zu einer solchen Einstellung gelangen? Denn sie ist auch Pater Arrupe nicht einfach in den Schoß gefallen. Was kann man in der langen oder kurzen Zeit davor tun, um allmählich in eine solche Haltung hineinzuwachsen? Ich nenne drei Verhaltensweisen. Sie klingen selbstverständlich, ja geradezu banal; werden sie jedoch real eingefordert, sind sie gar nicht so einfach.

Die eigene Situation wahrnehmen und annehmen

In der Tat, es ist nicht einfach, die eigene Lage mit all den zunehmenden Einschränkungen und der wachsenden Hilfsbedürftigkeit Schritt für Schritt und realistisch wahrzunehmen und sie anzunehmen. Man wäre vielleicht geneigt, die Si-tuation zu überspielen und so zu tun, als ob es mit größerer Willenskraft in etwa so weitergehen könnte wie bisher („Reiß dich doch zusammen!“). Man wäre vielleicht geneigt, der Versuchung zur Verzagtheit und Mutlosigkeit nachzugeben, zumal in Zeiten schwerer Krankheit oder sich leicht resigniert mit der Situation abzufinden („Ich muss es halt so nehmen, es bleibt mir eh nichts anderes übrig“). Demgegenüber ist das bewusste Annehmen, das Ja-Sagen ein entscheidendes Mehr. Warum? Die Kirchenväter helfen da weiter. Sie haben einst in Bezug auf die Menschwerdung des Wortes Gottes in Jesus Christus das Wort geprägt: „Was nicht angenommen ist, kann nicht erlöst, nicht geheilt werden.“ Die Väter der Kirche meinten damit, dass der Mensch in seiner Sündigkeit nur deswegen erlöst, zu seiner wahren Menschlichkeit befreit werden konnte, weil das ewige Wort Gottes in Jesus ganz und gar, durch und durch Mensch geworden ist, weil er unser Menschsein mit allen Konsequenzen (Krankheiten, Scheitern, Sterben) angenommen und durchgestanden hat. C.G. Jung hat dieses Wort in die Psychologie übertragen – mit großem Erfolg. Dass unsere Seele auch in den schwierigsten Phasen heil bleibt oder wird, hängt eben von dem Maß und der Wahrhaftigkeit unseres Annehmens ab.

Dieses Annehmen zeigt und bewährt sich auch nach außen in kleinen Dingen, z.B. in der Bereitschaft, sich helfen zu lassen und damit offen einzugestehen: „Ich schaffe es nicht mehr allein.“ Das kann ganz schön schwierig sein, nicht erst im Alter! Wer bittet schon gerne um Hilfe, zumal wenn es nicht so vertraute Menschen sind? Aber zur Würde im Altwerden gehört auch eine gute Portion Demut.

Loslassen

Der Kirchenhistoriker P. Klaus Schatz SJ sagte einmal ironisch, als sein Pensionsalter langsam näher rückte: „Dass wir einmal sterben müssen, damit wird man sich abfinden, das trifft ja alle. Aber dass es nach einem in seinem Fachgebiet weiter geht, und möglicherweise noch besser, das ist ein schwer zu ertragender Gedanke!“ Das Loslassen von Verantwortung und von Tätigkeiten (beruflichen oder ehrenamtlichen), die Jahre, ja mitunter ahrzehntelang gut gelungen sind, an denen das Herz hängt, die mir Ansehen bei den Menschen eingebracht haben, ist eine gewaltige menschliche und geistliche Herausforderung. Dieses Sich-Zurücknehmen, um anderen Raum und Chancen zu geben, ist ein gutes Übungsfeld für das umfassende Loslassen am Ende unseres Lebens. Wo das nicht so gut gelingt und man über die Zeit hinaus an bestimmten Aufgaben festhält, ist es für die Umwelt doch eher peinlich oder sogar Mitleid erregend. Man muss mitansehen, wie jemand bei allem guten Willen seine körperlichen und geistigen Kräfte überschätzt und sich Dinge zutraut, die nicht mehr wirklich gut gelingen. Darum: Eine gewisse Souveränität im Loslassen, verbunden mit einem selbstkritischen Blick und der Bereitschaft, einen guten Rat anzunehmen, auch wenn er mir zunächst gar nicht gefällt, gehört sicher zur Würde des Alters.

Dran bleiben

Vieles im Leben hat zwei Seiten. So hat auch das Loslassen ein Gegenüber: Sich immer wieder ausdrücklich bewusst machen, was alles noch gut geht, welche Möglichkeiten ich noch habe, um Frucht zu bringen für das Reich Gottes und mich so nützlich zu machen für die anderen. Es ist wichtig, sich weiterhin zu fordern, Alter und Beschwerden nicht als Vorwand zur Trägheit oder zum vorzeitigen Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben zu nehmen. Kurz: Wir sollten dran bleiben, wo es unseren Kräften angemessen ist.

Dieser Dienst am Reich Gottes kann sich vielfältig konkretisieren: z.B. dass ich (auf Wunsch) in meinem früheren Tätigkeitsbereich noch ein wenig mithelfe, etwa durch schlichte Präsenz oder Beratung. Dies gilt gerade auch in unseren Gemeinden und Gemeinschaften. Ist es nicht eine besondere Aufgabe des Alters, Brücken zwischen den Generationen zu schlagen, etwa in der unaufdringlichen Weitergabe von Traditionen und Gebräuchen? Oder, dass ich mir Zeit nehme und Geduld aufbringe, manche vereinsamenden Altersgenoss(inn)en zu besuchen, ihnen zuzuhören (auch wenn es immer wieder die gleichen Krankheitsgeschichten sind …) und sie etwas aufzumuntern? Oder anderen bestimmte Erledigungen abnehmen, wo ich mich auskenne? Oder mir mehr Zeit für die Pflege meiner Beziehung zu Gott, für das Gebet nehme, zumal das Fürbittgebet für Menschen in Not, für Kranke und für alte Menschen etc.?

All diese kleinen Dienste können zur Zufriedenheit und zur Versöhnung mit der eigenen, oft schwierigen Lebenssituation beitragen. Fassen wir kurz zusammen: In gläubiger Sichtweise gründet das Selbstwertgefühl im Alter auf der Verheißung Jesu vom Fruchtbringen im Reich Gottes. Drei Voraussetzungen wären im Blick zu behalten: Realistisch die eigene Situation wahrnehmen und versuchen, sie bewusst und bejahend anzunehmen; das Loslassen lernen und dabei selbstkritisch und offen für Beratung sein; sich positiv auf neue, bescheidenere Möglichkeiten im Dienst am Reich Gottes und damit an den Menschen einlassen und dadurch zufriedener sein Alter leben zu können. Werfen wir nun einen Blick auf die christliche Philosophie und Theologie, um unsere Überlegungen zum „Altern in Würde“ zu vertiefen. Was können sie zum Wesen und zum Sinn des Alters sagen?

Hat das Alter (s)eine Theologie?

Der Jesuit Karl Rahner war 78 Jahre alt und stand zwei Jahre vor seinem Tod, als er 1982 den Aufsatz Zum theologischen und anthropologischen Grundverständnis des Alters verfasste.7 Dabei fällt auf: Rahner tut sich nicht leicht mit diesem Thema. Denn der zentrale Aspekt seines philosophischen und theologischen Menschenbildes ist die Freiheit. Für ihn und die neuere katholische Theologie ist Freiheit die einzigartige Fähigkeit wie auch die wesentliche Aufgabe des Menschen, seinem Leben eine ganz persönliche Gestalt, eine Form, ein Profil zu geben. Im Unterschied zu allen anderen Lebewesen ist der Mensch sich selbst gegeben und aufgegeben: „Mach was aus dir, aus deinem Leben!“ Dies gilt für jede Lebensphase, wenn auch für jede auf je eigene Weise.

Freilich: Sein Leben in Freiheit gestalten oder entwerfen trifft auf viele Vorgaben, die wir vorfinden und kaum verändern können: Natur, Leib, Veranlagungen, Familie, Sprache, Kultur, Umwelt, die jeweilige geschichtliche und gesellschaftliche Situation, in der wir leben etc. Die ganze Lebenskunst besteht darin, in dieser Spannung zwischen der je eigenen Freiheit und den vielen Vorgaben eine ganz individuelle, persönliche Lebensgeschichte und -gestalt zu formen. Diese Spannung wird v.a. im Alter deutlich und zuweilen auch schmerzlich spürbar. Hier zeigen sich manche Vorgaben, also meine Natur, mein Leib, mein Verstand, auch die Bewältigung des Alltags usw. als zunehmend widerspenstig. Vieles geht nicht mehr, wie wir es wollen und uns vorstellen: „Wir sind Natur, d.h. wir haben uns auch als die biologisch Alternden anzunehmen, mit all dem, was damit schon als Abnahme unserer Vitalität, auch unserer geistigen Kräfte unerbittlich gegeben ist, ohne sinnlosen Protest gegen Gott und die von ihm gewollte Natur“.8

Was bleibt im Alter also noch von der viel gepriesenen Freiheit? Geht es damit auch zu Ende? Keineswegs! Abgesehen von der Aufgabe, gerade diese Einschränkung der Freiheit selbst wiederum in Freiheit anzunehmen, sieht Rahner eine spezifische Chance und Aufgabe des Alters: sich bewusst und ausdrücklich mit der eigenen Vergangenheit und Zukunft auseinanderzusetzen, sich beidem zu stellen. Ausgangspunkt ist die unleugbare Tatsache, dass wir im Alter den größten Teil unseres Lebens „hinter uns gebracht haben“.9 Aber ist dieses „hinter uns gebracht haben“ nicht missverständlich? Suggeriert es nicht, dass wir unser Leben einfach in die Vergessenheit absinken lassen könnten, um dann ungestört weiter in den Tag hinein zu leben und uns allenfalls ab und zu an einige erfreuliche Begebenheiten zu erinnern? So einfach dürfen wir es uns nicht machen! Denn das in der Vergangenheit gelebte Leben sind wir schließlich selbst, so wie wir geworden und jetzt sind. Es hat zu der bleibenden Gestalt geführt, „die aus unserer Freiheitsgeschichte hervorgegangen ist“.10 Wir sind das Resultat unserer Vergangenheit.

Darum lässt sie sich auch nicht so einfach „hinter uns bringen“. Rahner sieht im Alter die einmalige Chance, unser Leben, unser Selbst, so wie wir geworden sind, ausdrücklich „vor uns zu bringen.“ Konkret: Wir sollten mit zunehmendem Alter unser vergangenes Leben in Ruhe anschauen, in unserer Erinnerung wachrufen. Es geht darum, sich öfter mal Zeit zu nehmen für eine Rückschau auf unser Leben insgesamt, also eine Art révision de vie. Sie wäre dazu da, unser Leben in seinen Grundlinien und verschiedenen Phasen, seinen Grundentscheidungen, mit den wichtigsten zwischenmenschlichen Beziehungen, in seinem Gelingen und Scheitern „vor uns zu bringen“, vor unser inneres Auge. Und warum das? Weil unsere Lebensgestalt auch im Alter noch nicht fertig ist!11 Sie ist noch immer unserer Freiheit aufgegeben. Sie ist ja durchaus noch veränderbar. Das ist so gemeint: Ich schaue die Lebensgestalt – vom Ende her – mit anderen Augen an, deute dabei das eine oder andere anders und gebe ihm einen neuen Sinn.

Das Leben mit den Augen Gottes anschauen

Dies alles gilt im besonderen Maße für den gläubigen Menschen, der das Leben auch mit den Augen Gottes anschauen darf, den Augen seiner vergebenden, heilenden Liebe. Wir können im Alter, wenn der Tod nicht mehr so weit von uns weg liegt, Momente des Gerichtes Gottes an uns vorwegnehmen, der Läuterung vom Bösen in uns und der Versöhnung mit dem vielen Fragmentarischen und Ungelebten, dem Schmerzlichen in unserem Leben. Wer so auf das Leben blickt, „kann Verbitterung, die sich in ihm wie ein Bodensatz angesammelt hat, ausscheiden.

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