Buch lesen: «Gamer»
fantastic episodes XIII
Gamer
© 2016 Begedia Verlag für diese Ausgabe
© der Geschichten bei den Autoren
Titelgrafik – Tim Eckhorst
Covergestaltung – Frank Hebben
Korrektur und Lektorat – Armin Rößler
Radaktion – Armin Rößler, Frank Hebben, André Skora
Satz und ebook-Bearbeitung – Harald Giersche
ISBN – 978-3-95777-071-4 (epub)
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Vorwort
Wir! Wir machen das mit dem Balken! Mama, guck mal! Unglaublich. Wenn man hier am Rädchen dreht, geht der weiße Balken im Fernseher hoch und runter. Einfach so. Wir machen unser eigenes Programm! Nicht Kulenkampff, Lembke, Carrell – wir! Und dieser flache graue Kasten da auf dem Teppich, der mit UNIVERSUM drauf. Der muss echt aus einem anderen Universum kommen. Von der Mondbasis Alpha 1 oder so.
Heiligabend in der alten BRD, kurz vor der geistig-moralischen Wende. Ein Reihenhaus in der Satellitenstadt, ein Kokon aus orangeroten Polstermöbeln. Alles ist warm, beige, sozial-liberal kuschelig, als ob man den Mutterleib nie verlassen hätte. Noch zwei Jahre, dann würden die Achtziger kommen und alles plattmachen. Die Korkdecken würden rausfliegen, die schwarzweißen Kacheln kämen rein, die Neonsonne würde aufgehen. Doch noch regieren die schwülen Siebziger.
Telespiele. Klar hatten wir davon gehört. So ein neumodischer Kram aus Amerika, wie diese Rollbretter. Doch plötzlich steht so ein Zukunftsding bei uns, in der Vorstadt. Papa streicht sich grinsend durch den Schnäuzer. Unsere Augäpfel sind an die Mattscheibe genagelt. Ein kleines Viereck flitzt an unseren weißen Balken vorbei, verschwindet aus dem Bild. Bieeep! Das gibt‘s ja nicht! Die Kiste macht sogar Töne. Unsere verschwitzten Hände umklammern die weißen Plastikstangen mit den Rädchen. Noch mal vorsichtig drehen … Da! Der weiße Balken bewegt sich! Und das Viereck prallt davon ab. Es ist wie Tennis.
Es ist ein Spiel.
Wir robben uns zur Nordmende-Röhre vor. Plötzlich ist die Ehrfurcht weg. Wir hämmern auf allen Knöpfen rum. Okay, wenn man die Taste mit dem Pfeil drückt, rast das Viereck doppelt so schnell. Nein, mach das wieder weg, brüllt die Schwester. Besser schnell gehorchen, bloß nicht auffallen, sonst merkt Mama, was hier gerade passiert, und kommt auf die Idee, es könnte »gewalttätig« sein. So wie »Bonanza«. Das wäre das Ende vom Spaß.
Wir rasen durch unser neues Universum. Und lernen. Alle Lektionen, die in den kommenden Jahren und Jahrzehnten überlebenswichtig sein werden. Zum Beispiel, dass zwei Controller nie total gleich sind. Bei meiner Schwester wackelt der weiße Balken immer so rum. Sie flennt deshalb fast los, weil sie nur jeden zweiten Ball trifft. Also tauschen, Reset, und wieder von vorne. Papa legt die Platte mit diesem schrecklichen Kinderchor auf. Bestimmt sind es Rotbäckchen-Wangen-Streber, die niemals ein Telespiel angefasst haben. Doch von der Musik kriegen wir nichts mit, eigentlich nichts von unserer Umwelt. Wir stecken im Tunnel, bis uns Mama ins Bett steckt. Papa drückt mir einen nach Pfeifentabak riechenden Kuss auf die Stirn. Jetzt schlaf mal schön, Kleiner. Alles klar. Was er wirklich meint ist: Jetzt bin ich dran. Wir liegen noch lange mit offenen Augen in unseren Etagenbetten und hören aus dem fernen Wohnzimmer im Sekundentakt das »Bieeep« des Telespiels. Wie das Signal eines Sputniks, der sich aus einem fernen Universum meldet.
Die Basis für eine vor dem Bildschirm verschwendete Jugend ist gelegt.
Das erste Mal digital. Bei uns war es das UNIVERSUM, bei anderen vielleicht der Commodore 64, ein Gameboy oder – dank Gnade der späten Geburt – ein NES. Doch egal, ob Donkey Kong auf dem endcoolen Nintendo Game & Watch mit Doppelbildschirm oder Doom auf dem Steinzeit PC mit Turbo-Taste: Das erste Game war wie ein Erdbeben. Es war – frei nach Obi-Wan Kenobi – »der erste Schritt in eine neue Welt«.
Doch die war böse, zumindest für alle Erwachsenen. Für Mama und die alten Säcke in der Bundesprüfstelle. Die wussten sofort: Videospiele machen die Kinder süchtig, gewalttätig, sozial inkompatibel. Und krank. Wer ständig den Joystick rührt, kriegt eine Sehnenscheidenentzündung (später hieß das Angst-Szenario »Nintendo-Daumen«). Nur US-Präsident Ronald Reagan sah die Sache positiv: Games seien doch das beste Ausbildung für die Kampfpiloten von morgen. Da lerne Amerikas Jugend, ihre Auge-Hand-Koordination zu verbessern. Irgendwie sollte der Cowboy im Weißen Haus sogar recht behalten. Heute diskutiert seine Luftwaffe, ob sie eine Medaille für besonders mutige Dronen-Piloten einführen soll. Interne Bezeichnung: Nintendo Medal.
Bis Games nicht mehr böse waren, sollten viele Prozessorgenerationen vergehen. Erst Ende der Neunziger passiert etwas: Die Generation Commodore 64 hat ihren Gang durch die Institutionen absolviert, das Internet ist da. Und plötzlich dämmert es vielen: Hey, die Jugend vorm Bildschirm war doch nicht total verschwendet. In einer Welt, die von Nerds regiert wird, hilft es, wenn man den Rechner nicht als feindliches Elektronenhirn kennengelernt hat, sondern als Spaßmaschine, als Freund.
Seltsame Dinge passieren: Sich als Gamer zu outen, ist nicht mehr ein Karrierekiller, sondern fast ein Pluspunkt im Lebenslauf. Manager lesen Ratgeber, die ihnen erklären, wie sie mit diesen merkwürdigen Wesen umgehen sollen, die ihre Freizeit vor der Playsi verbringen. Gleichzeitig rollt die erste Welle digitaler Nostalgie an. Auf einmal stehen Konsolen im Museum. Games sind Geschichte, Games sind Kultur.
Und Inspiration.
Wie sehr, zeigt diese Anthologie. Frank Hebben und seine Truppe sozial deformierter Bildschirmsportler tritt den Beweis an, dass die Geschichte manchmal weitergeht, wenn der Endboss besiegt ist. Sie wagen den literarischen Respawn – mit einer Sammlung von Kurzgeschichten, die von Games inspiriert sind. Von alten Games, von pixeligen Sprites, ruckeligen Animationen, lächerlich kleinen Farbpaletten.
Retro ist das Leitmotiv. Doch hier wird nicht platte Digitalnostalgie serviert, nach dem Motto »Weißte noch? Pac-Man? Wacka Wacka …«. Es geht um Sex, Tod, Liebe, Abgründe, Zukunftsvisionen. So wie bei Andreas Winterer, der den Hobbykeller der Achtziger zur Tentakelhölle macht. World of Warcraft? Wohl eher World of Lovecraft … In »Start New Game?« entwirft Melanie Junge eine Zukunft, in der das Zocken alter Spieler der letzte verbliebene Thrill in einer hoffnungslosen Welt ist. Und Christian Lange greift in »War Games« den gleichnamigen Filmklassiker der Achtziger auf. Allerdings hat sein Held David den steinzeitlichen Imsai-Rechner gegen eine Gedankensteuerung ausgetauscht, er kämpft sich als Profi-Gamer durch perfekt simulierte Realitäten. Ähnlich wie der Protagonist in Peter Hohmanns »Cornstalk wird ewig leben« lebt er in einer Zukunft, in der das wahr geworden ist, was die Electronic Sports League seit Jahren propagiert: Zocken als medienwirksamer Massensport.
Auch Autor Hebben dosiert die Digitalnostalgie bewusst homöopathisch. Mit »Kaleidoskop« liefert er eine klassische Cyberpunk-Dystopie, in der Arcade-Automaten nur als Requisiten in der Ecke vorkommen. Träumen Roboter von breitschultrigen Pixelmutanten? Michael K. Iwoleit erforscht in »Das Netz der Geächteten” den Horror vacui eines jeden Gamers: eine Leben ohne Spiele. Schlimmer noch: eine Welt, in der Computerspielen als gefährliche Sucht geächtet ist, in der sich quasi Mutters Einschätzung durchgesetzt hat.
Klar, mit Mainstream hat das nichts zu tun. Die Autoren huldigen ohne Kompromisse dem »was wäre, wenn«. Was wäre, wenn das Computerspiel zur Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in der Form eines Text-Adventures erscheint, fragt Armin Rößler in »Katar 2022«? Wie sieht die Apokalypse in einem fiktionalen deutschen Wiedervereinigungs-Setting aus? In »Beschluss 4/7/90« von Uwe Post jedenfalls fahren die Zombies Wartburg. Und Sven Klöpping lässt es zünftig bladerunnern, wenn er in »50 % Shootout – jeder Zweite wird gelöscht!« die Abenteuer eines bayrischen Dreiviertel-Androiden erzählt.
Muss man die Achtziger oder Neunziger erlebt haben, um das gut zu finden? Sicher nicht. Aber es hilft. Weil es Spaß macht, den Autoren dabei zuzusehen, wie sie ihr Referenz-Feuerwerk abbrennen. Wenn zum Beispiel die Protagonistin mit Nachnamen Wozniak heißt, wie in »Butterfly« von Christian Günther, eine wunderbare Suche nach der verlorenen Internet-Zeit. Oder wenn die Helden in ein (reales) Uridium-Raumschiff steigen, wie in »Emukalypse« von Niklas Peinecke. Wer nur HD-Flatscreens kennt, wird kaum verstehen, wie bizarr die Idee ist, Floppy-Laufwerk und Datasette direkt mit einem menschlichen Hirn zu verbinden. Doch genau solche Details machen »Die Dritte Stadt« von Mike Kryzwik-Groß so lesenswert.
Den berühmten gemeinsamen, meistens viel zu kleinen, Nenner gibt es nicht. Alles verschwimmt, alles ist im Fluss, von der Genregrenze bis zur Erzählperspektive. »Friedensleere« von Jan-Tobias Kitzel zum Beispiel liest sich, als ob man sich durch eine Box mit alten Games zockt. Mal blickt man durch die Augen eines Wachmanns, mal durch die eines archaischen Kriegers oder Familienvaters. Das Einzige, was alle Autoren vereint, beschreibt ein Satz aus »MetaGamer« ganz gut, den Thorsten Küper seinem gebrochenen Helden in den Mund legt: »Sie ist eine von uns. Nerd.« Was hier – und eigentlich überall – als Kompliment zu verstehen ist.
Darf man am Ende eines Vorworts im Jahr 2016 wirklich noch schreiben SPIELER EINS BEREIT? Man darf, wenn das, was folgt, wirklich ein neues Spiel ist. Und das ist hier der Fall.
RUN
Constantin Gillies
Köln, Januar 2016
LEVEL 1
LEVEL 1
Start New Game?
Melanie Junge
Wie eine undurchdringliche Grenze baut sich die rote Metalltür vor mir auf, die Farbe bereits abgeblättert, nur der Schriftzug Private party ist noch deutlich erkennbar, aufgesprüht von irgendeinem Amateur, wahrscheinlich von Croc persönlich: der Chef der Spiele, der einem Krokodil ähnelt, mit seinem riesigen Maul aus spitzen Zähnen und den tiefsitzenden Augen, und sich deswegen den Spitznamen gegeben hat. Damit sich niemand über sein Aussehen lustig machen kann, heißt es. Ich persönlich glaube eher, dass er seine gefährliche Ausstrahlung unterstreichen will. Nicht umsonst sagen die Leute, er könne einen Menschen mit einem einzigen Bissen verschlingen.
Trotzdem klopfe ich drei Mal. Das Geräusch hallt im Untergrund wieder. Von weiter unten ist das Rattern der U-Bahn zu hören. Die neue Anlage gleich unter der alten: Die alten Tunnel und Bahnhofsstationen wurden an den Meistbietenden verhökert.
Hinter der Tür regt sich nichts, ich schlage noch mal dagegen, diesmal lauter. Wobei man es eigentlich nicht müsste, ist eine alte Gewohnheit. Die Sensoren vor der Tür schicken Croc sofort eine Meldung aufs Handy, von dem er auch Zugriff auf die unauffällig versteckten Kameras hat.
Es ist halb sieben. Die Spiele beginnen erst um acht. Aber eigentlich ist immer einer da.
»Komm schon, ich bin’s, Cat. Mach auf«, sage ich, mehr aus Trotz als an ihn gerichtet. Er weiß genau, dass ich es bin. Das mit dem Spitznamen habe ich mir von Croc abgeschaut. Ich weiß, Cat ist jetzt nicht unbedingt besonders originell, aber als ich damals in die Retro-Battles eingestiegen bin, fiel mir nichts Passenderes ein. Besser als Miriam, das klingt einfach zu normal. Noch schlimmer: Mimi. Viel zu lieb, zu brav. Ich brauchte was Kurzes, Prägnantes, um bekannt zu werden. Je mehr Leute dich kennen, desto mehr Leute laden dich ein, ergo: mehr Spieler, mehr Einsätze, mehr Geld – oder mehr Verluste, je nachdem. Ich war mal ganz gut.
Von innen sind jetzt Bewegungen zu hören, Schritte. Dann ein Rattern, die automatischen Türsperren werden abgefahren. Kurz darauf springt die Tür auf, nur einen Spalt. Croc verzieht die Nase. »Was willst du hier, Cat? Hast du nicht bereits genug Schulden?«
»Gib mir nur noch eine Chance. Ich bekomm’s wieder rein.«
»Das hast du die letzten Male auch gesagt.«
»Komm schon, du kennst mich. Was geht denn heute Abend so?«
Er mustert mich. Ich schaue ihn mit flehendem Blick an.
»So schlimm?« Er grinst, zeigt die gelben Zähne.
»Ich brauch das mal wieder.«
»Okay«, meint er, lässt mich eintreten und aktiviert die automatische Verriegelung. Die Balken schieben sich wieder vor die Tür. »Heute sind ein paar Anfänger mit dabei.«
»Und wie komm ich an die ran?«
»Ich regle das, pack dich in die richtige Liste. Lass sie erst gewinnen und dann mach sie fertig.«
»Ich soll sie also abzocken?«
»Deine Entscheidung.«
Ich nicke. So fängt man Junkies. Gib ihnen das Gefühl, ganz oben zu sein, alles unter Kontrolle zu haben, und dann saug ihnen das Geld aus. Wenn sie einmal den Kick gespürt haben, werden sie wieder kommen. Immer wieder. So wie ich. Egal, ob sie gerade flüssig sind oder nicht.
Croc geht voran, durch einen schmalen Gang, der auf der einen Seite aus rustikalen Holzbrettern besteht und auf der anderen aus einer dicken Steinmauer, von der aus einige schwere Metalltüren abgehen. Diverse Privaträume, die nur mit elektronischen Erkennungsmarken zu öffnen sind.
Und dann führt der Gang weiter in den Hauptraum: eine riesige Halle, auch hier rundherum die dicken Steinmauern, zugeklebt mit Plakaten, und an den Seiten hängen riesige Monitore. Mitten in der Halle die Liegen, alle neben- und hintereinander geordnet, mit VR-Helmen, Tastatur, Joystick, Maus und weißen Anzügen ausgestattet, für ein besseres Spielgefühl. Letztere sind keine Pflicht, helfen aber enorm bei der Körperregulierung. Kleine Sensoren messen Puls und Temperatur. Sinkt der Wärmegrad, heizt sich die Kleidung auf; steigt er, fällt sie in eine kühlende Wirkung. So auch beim Herzschlag. Am Handgelenk sitzt eine kleine Drüse, die bei Bedarf Mittel gegen Herzrasen direkt in die Blutbahn spritzt. Passiert öfter, als man glaubt.
Seitlich in der Halle ist eine Bar, in der es von alkoholhaltigen Drinks bis zu Tee alles gibt, und vorne eine kleine Bühne, aus ebenso alten Holzbrettern zusammengeschraubt wie die Grenze zwischen Haupthalle und Gang. Darüber hängt eine Leinwand, jetzt noch weiß und nichtssagend. Später werden vereinzelte Spiele darauf zu sehen sein, zum Anfixen für andere Spieler. Zuschauer gibt es nicht. Leute, die sagen, sie wollen sich das nur mal anschauen, sitzen früher oder später auf einem der Liegestühle und zocken ebenfalls um ihre Points, digitales Geld. Hier läuft nichts bar. Jeder besitzt einen Account mit einem eigenen Konto. Ein Spieler zahlt so viel ein, wie er will. Es gibt auch die Möglichkeit, zusätzlich sein normales Konto mit dem Spieleraccount zu verbinden. So habe ich es getan. Dann bekommst du deinen Gewinn sofortüberwiesen. Und verlierst im Pechfall leider auch alles, bis hin zu dem Geld, das eigentlich für die Miete gedacht ist. Weil du weiter zockst, auch wenn du nichts mehr hast, und überziehst. Im Endeffekt macht es zwar keinen Unterschied, denn der Wert ändert sich nicht. Aber echtes Geld bleibt auch in diesen Zeiten sicherer als digitales.
»Startkapital hast du?«
Ich zucke mit den Schultern, versuche, es beiläufig klingen zu lassen: »Nun ja, wäre nett, wenn du mir was leihen könntest.«
»Ich überweis dir was. Im Gegenzug, dass du mir Spieler anlockst.«
Ich nicke, sage nicht »Danke«, weil es nur ein Deal ist. Er macht es nicht, um mir zu helfen, sondern um mich bei der Stange zu halten. Eigentlich unnötig. Außerdem wird er es sowieso von den Neuen zurückbekommen, hat seine ganz eigenen Profis in der Halle sitzen, die Bares eintreiben. Vielleicht werde ich eine von denen. Es gibt miesere Jobs.
Croc schaut auf sein Handy, nickt mir zu und verschwindet dann wieder Richtung Gang, tippt gleichzeitig etwas.
Ich setze mich kurz an die Bar und checke meinen Account: Er hat bereits dreihundert Points überwiesen. Ich bestell mir ein Bier und halte dem Barkeeper den Strichcode auf dem kleinen Bildschirm hin, er scannt ihn und sofort werden drei Points abgebucht. Heute mal kein Wasser. Ich hab gerade zum zweiten Mal die Flasche angesetzt, da kehrt Croc schon wieder zurück. Zwei bekannte Gesichter dackeln ihm hinterher, die Gier in den Augen, das Streben nach dem Kick und der Gedanke, dass es heute endlich mal wieder klappt. Sie kommen zur Bar, sehen mich wie mitleidige Hunde an. Croc winkt mir mit dem Kopf zu, ich stehe vom Barhocker auf und gehe zu ihm.
»Du spielst in einem der Privatzimmer.«
»Warum?«
»Stell keine Fragen, komm mit«, faucht er mich an.
Ich laufe ihm hinterher und hake trotzdem ein weiteres Mal nach.
»Stimmen wurden laut, ich würde betrügen, die Leute ausnehmen.«
»Was du auch tust«, werfe ich ein.
»Nur so, dass sie es nicht merken.«
»Scheinbar ja schon.«
»Die meisten kennen dich. Wenn jemand mitkriegt, dass du gegen Neulinge spielst ...«
»Kann dir das nicht egal sein?«
»Damit die Leute einem anderen ihren Kies schenken?« Er öffnet eine der Metalltüren im Gang, dahinter ein kleines Kabuff mit einer einzelnen Liege. Ich trete ein, und bevor ich noch etwas erwidern kann, fällt die Tür hinter mir zu. Ich atme aus. Merke erst jetzt, dass ich die ganze Zeit viel zu flach geatmet habe. Ich verliere keine Zeit, ziehe mich aus und den Anzug an, der mit der Liege verbunden ist, und setze mich. Danach den VR-Helm. Das Programm startet, ich werde in die virtuelle Welt gezogen, merke einzig und allein meine Hand auf der Maus, die Tastatur vor mir. Der Joystick direkt daneben. Battles immer erst ab acht. Sein Geld alleine verzocken kann man aber bereits vorher. Ich sollte es nicht vor den eigentlichen Spielen einsetzen, kann es aber nicht lassen. Zu groß die Versuchung. Und es ist ja nur zum Warmzocken. Dann starte ich mein Lieblingsspiel. Mit Greifarmautomaten. Eine reine Glückssache, dabei zu gewinnen. Ich setze einen Point: lieber nicht zu viel riskieren. Nur je geringer der Einsatz, desto geringer auch die Gewinne. Ich lege meine Hand auf den Joystick, wie auf die Schaltung im Auto, wenn du die ganze Kraft des Motors spürst. Die Kuscheltiere liegen direkt vor mir, keine Plastikwand, die mich von ihnen trennt. Ich kann die schlechte Verarbeitung in den Nähten sehen, einen Faden, der herausschaut, und den Staub an den Seiten: die Realität in der Virtualität.
Ich visiere ein Zehn-Point-Kuscheltier an: ein kleiner lilafarbener Hund. »Bereit, wenn Sie es sind«, zitiere ich einen meiner Lieblingsfilme, und drücke meine Hand sachte noch vorne, bis sie auf gleicher Höhe mit dem Hund ist. Einatmen, ausatmen – und nach links weiter. Der Haken stoppt, öffnet sich, fährt langsam hinunter, legt seine metallenen Arme um das Kuscheltier und schließt sich. Er ist drin! Ich juble innerlich. Mein ganzer Körper tobt vor Glücksgefühlen. Als könnte ich fliegen. Und nur der Himmel ist die Grenze. Der Greifarm fährt nach vorne zum Ausgabefach, öffnet sich wieder, das Kuscheltier fällt hinunter und verhakt sich an einem vorstehenden Affen, liegt nun knapp auf der Kante. Ich fluche. Aber mein Ehrgeiz ist geweckt, noch mal diesen Kick zu spüren. Und ich weiß ganz genau, dass es beim nächsten Mal klappen wird. Also setze ich erneut einen Point. Visiere diesmal einen blauen Elefanten an, mit einem Wert von vier Points. Danach einen Sieben-Point-Elefanten. Beide verfehlt! »Nur noch einmal«, sage ich zu mir. Versuche es mit dem Zwei-Point-Hund. Der Greifarm nimmt das Kuscheltier auf, zieht es hoch, fährt zum Schacht, und lässt es fallen. Mitten auf den lilafarbenen Hund von zuvor. Das Gewicht drückt beide hinunter und ich höre ein »Ping«. Zwölf Points wandern auf mein Konto. Ich lächle selig.
Dann reißt mich plötzlich ein scharfes Klingeln aus der virtuellen Umgebung. »Scheiße«, fluche ich, nehme den Helm ab und greife nach meinem Handy. Schon wieder vergessen, lautlos zu machen.
»Ja?«
»Ich warte immer noch auf die Miete.« Die wöchentliche Warnung vom Vermieter. Ich seufze.
»Ich hab das Geld fast zusammen. Wirklich.«
»Nächste Woche. Sonst fliegst du.«
Und schon wieder aufgelegt. Diesmal meint er es ernst, daran hege ich keine Zweifel mehr. Oder er hetzt mir seine Geldeintreiber auf den Hals. Kommt davon, wenn man in irgendeiner Absteige ein kleines Apartment nimmt. Obwohl die Wohnung den Begriff nicht wert ist: nur ein winziger Raum mit Kochnische und angrenzendem Bad. Barzahlung. Dafür stellt niemand Fragen. Nicht mal die Nachbarn, die haben ihre eigenen Probleme. Kein Small Talk in den Gängen, nur die Hoffnungslosigkeit der Verlorenen trieft von den Wänden.
Ich stelle mein Handy lautlos, lege es beiseite und kehre zurück: Sofort schiebt sich die schillernde Welt vor meine Augen, so viel bunter als die Wirklichkeit. Nicht so trist, so grau, keine Wolken, die nicht mal die Sonne vertreiben kann. Ich seufze erneut. Schalte den Greifarmautomaten weg und rufe die Liste der Spielernamen auf. Die Halle scheint voll zu sein. Es ist kurz vor acht. Die Kategorien kann niemand einsehen, aber bei meiner ersten Einladung erkenne ich bereits, dass es sich um einen Neuen handelt. Pong. Jeder Anfänger denkt, bei diesem einfachen Spiel könne man nichts falsch machen. Mein Gegner wettet einen Point, ich tue es ihm gleich. Dann beginnt es. Der quadratische Ball setzt sich in Bewegung, und lange Zeit hört man nur das Aufprallen auf die Paddel. Dann lasse ich den Ball einige Male durch. Mein Gegner wird sich freuen, hat er doch gerade einen Point gewonnen. Bei der nächsten Runde setzt er fünf Points, fühlt sich sicherer. Und ich setze drei, um ihn nicht zu verstören. Denn jetzt lasse ich den Ball nur zweimal durch und setze dann zum Gegenschlag an. Bewege die Paddel schneller, sodass auch der Ball rast. Er kommt nicht mit. Kurz darauf hab ich seine fünf Points. Und er fordert mich ein weiteres Mal heraus. Ich achte auf die Zahlen, aber irgendwann wird es mir zu langweilig. Und ich gewinne einige Male hintereinander, bis mein Gegner die Lust verliert und sich wahrscheinlich einem anderen Spiel widmet.
Dann lade ich einen Spieler zu Pacman ein. Es gibt zwei Pacmans und nur zwei Gespenster, vor denen wir ausweichen müssen. Wir jagen uns gegenseitig. Wenn alle Punkte im Labyrinth weg sind und beide noch leben, gewinnt der, der die meisten Punkte eingesammelt hat. Ich spiele fünf, sechs Runden, und auch das wird mir dann langweilig. Versuche es mit weiteren Spielen, erst Froggy, dann Bomberman. Man spielt wieder gegeneinander. Es gibt aber auch generell die Möglichkeit, alle Spiele allein zu spielen, nur stehen bei Battles die Gewinnchancen höher. Wenn du gut bist – und dein Gegner schlecht.
Mein Konto zeigt schließlich fünfhundertdreiundsechzig Points an, aber es war zu einfach. Mir fehlt der Kick, den ich bei den Greifarmautomaten habe. Und ich strebe nach etwas, das neuer und riskanter ist. Lebendiger. Um mich selbst lebendig zu fühlen. Ich beobachte die Spielerliste: Es werden wieder weniger. Die Uhr zeigt nach Mitternacht. Ich überweise das Geld auf mein richtiges Konto und logge mich aus. Kurz überlege ich, noch etwas am Greifarmautomaten zu verprassen. Aber die Vernunft siegt. Oder die letzte Warnung vom Vermieter.
»Hast dich gut geschlagen.« Croc kommt in den Raum, als ich gerade meinen VR-Helm abnehme. Er grinst. »Die Jünglinge sind ganz wild darauf, wieder zu kommen.« Ich lege den Helm beiseite und steige aus dem Anzug. Im vollen Bewusstsein, dass ich dann in Unterwäsche vor ihm stehe. Ziehe extra langsam meine Jeans über und lasse ihn dabei nicht aus den Augen. Alles nur ein Spiel. Croc mustert mich, meinen Körper. »Sag mal, wie alt bist du eigentlich?«
Sofort fühle ich mich unwohl, sehe zwar mit meinen vierunddreißig Jahren noch viel jünger aus und bin recht gut in Form geblieben, trotzdem falle ich bei der Frage sofort in mich zusammen und schlüpfe schneller als gewollt in mein Oberteil.
»Bleib locker«, meint er und grinst anzüglich, wird dann ernst: »Hast du damals auch schon gezockt?«
»Als Kind? Klar.«
»Bock auf einen richtigen Retro-Battle?«
Ich schaue ihn fragend an.
»So ähnlich wie jetzt auch. Man wettet, wie weit man kommt. Nur mit alten Konsolen und so. Ich werfe einen Jackpot von viertausend Points ein.«
»Bin dabei!« Und denke sofort daran, meine Schulden abbezahlen zu können, mein Zimmer zu behalten. Endlich wieder vernünftig essen. Mal wieder mehr als eine Platte für Industriedosen zu verwenden. Richtig kochen, mit frischem Gemüse, das immer teurer wird.
»Und du brauchst einen Partner. Dann noch der Vertrag.«
Ich winke ab. »Bekomm ich hin.«
»Nächsten Freitag, 16 Uhr.« Er schaut mich kurz von oben bis unten an, bleibt an meiner Oberweite hängen, grinst, dreht sich dann um. »Dirk lässt dich raus.« Dann verschwindet er, grinst immer noch, und in meinem Bauch macht sich ein unwohles Gefühl breit. Aber ich schiebe es beiseite.
Ich laufe durch den Gang hinaus, die Tür steht offen, und ich nicke Dirk zum Abschied zu, dränge mich an den anderen vorbei und schleiche aus dem Untergrund, die Treppen hinauf zur Oberfläche, nicht weiter hinunter zur U-Bahn. Ich wähle den Weg zu Fuß, auch wenn es länger dauert. Vorbei an Leuten, die sich gerade zu Partys aufmachen oder spät noch aus dem Büro kommen, Überstunden sind in. Aufgehübschte Hühner auf der einen Seite, Arbeitszombies auf der anderen. Und ich dazwischen, wische mir die verschwommene Wimperntusche von den Augenrändern, als ich mich in einem der Schaufenster spiegle, und würde am liebsten gleich noch die Falten mit wegwischen. Ich gehe weiter, langsam. Kein Wecker, der morgen klingelt. Wenn du zu risikobereit bist, hast du im Bankengeschäft nichts mehr verloren. Sowieso ein Wunder, dass ich es dort so lange ausgehalten habe. Mein Weg sollte ein anderer werden. Aber wo ist der Kick, jeden Morgen aufzustehen, sich aus dem Bett zu quälen, zur Arbeit zu gehen und abends wieder ins Bett zu fallen? Ich brauche einen Partner, ist alles, an das ich denke.
*
»Komm schon. Du hast doch früher auch immer rauf und runter gezockt.«
Meine Schwester sieht mich kopfschüttelnd an. Bei ihrem vorwurfsvollen Blick merke ich erst, wie sehr sie unserer Mutter ähnelt. »Vergiss es, Miriam. Ich mach bei deinen komischen Sachen nicht mit.«
»Das sind keine komischen Sachen.«
Sarah schüttelt wieder den Kopf, sieht mich traurig an, fast schon mitleidig, und ich ertrage es kaum. Aber an wen soll ich mich sonst wenden? Meine Freunde habe ich aus den Augen verloren, mit der Zeit wurden es immer weniger Anrufe, weniger Nachrichten, ab und zu mal ein Like, ein Kommentar unter einem Bild, und dann nur noch virtuelle Leichen, die man nicht löschen will, weil man mal eine Verbindung zueinander hatte. Und eigentlich ist es nur ein Warten darauf, dass sie einen zuerst aus der Liste löschen, aber niemand traut sich, weil die scheinbare Verpflichtung siegt. Schließlich war es mal Freundschaft, auch wenn man sich schon lange nichts mehr zu sagen hat.
»Hast du eigentlich endlich wieder mit Mama und Papa geredet?«
Diesmal bin ich es, die den Kopf schüttelt. Sarah spricht ein Thema an, das ich auf keinen Fall weiter vertiefen will. Ich trau mich auch nicht, zu fragen, wie es ihnen geht.
»Miriam.« Ihr Vorwurf hängt im Raum und würde sich nicht mal durch einen Turboventilator vertreiben lassen.
»Bist du jetzt dabei oder nicht?«
»Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder, keine Zeit für deine Spielchen.«
»Das ist deine Ausrede für alles.« Ich stehe auf. Warum noch länger meine Zeit vergeuden?
»Jetzt warte.« Ich zögere. »Wie läuft es denn gerade so bei dir? Schon einen neuen Job in Aussicht? Du wolltest doch gerne noch im zweiten Anlauf studieren. Was ist damit?«
»Das war vor sieben Jahren.« Oder noch länger her, füge ich in Gedanken hinzu. »Grüß die Kinder.« Ich gehe zur Tür und erwarte nicht, dass sie mir folgt. Erwarte nicht, dass sie den Kindern von dem nächtlichen Besuch erzählt, geschweige denn sie von der unbekannten Tante grüßt, die nur alle paar Monate mal vorbeikommt.
Ich laufe an den kleinen Häuschen mit ihren perfekten Gärten vorbei, in denen das Spielzeug vom Tage liegt, bis es irgendwann verfault, der Rasen welkt und es nur noch eine einsame Erinnerung an eine längst vergangene Zeit ist. Vorbei an dunklen Fenstern, weil hier alle schon schlafen. Oder mit matten Lichtern ganz leise im Wohnzimmer sitzen oder in den Schlafzimmern und lesen, damit die Kinder nicht aufwachen. Vielleicht hier und da noch eine liegen gelassene Arbeit am Schreibtisch nacharbeiten, bis das schlechte Gewissen ruft, man sich zum Partner ins Bett legt und trotzdem an die Arbeit denkt. Sex als Ausgleich. Wilder, wenn die Kinder nicht da sind, und irgendwann nur noch als Routine. Leidenschaft vorgaukeln, Lebendigkeit. Was unterscheidet mich von ihnen, wenn wir alle nur nach dem Falschen streben, das gar nicht wirklich existiert?
*
Croc sieht an mir vorbei, als ich die Woche darauf wieder vor ihm stehe. »Du brauchst einen Partner, sagte ich doch.«
»Aber wofür denn unbedingt?« So langsam verliere ich die Nerven, bei all diesen Regeln. Wenigstens hier will ich nicht nachdenken, sondern einfach machen.
»Als Joker. Als zweites Leben.«
»Ich zieh das allein durch.« Lasse mich von Croc nicht beirren, trete geradewegs an ihm vorbei und gehe in die Halle. Bin erstaunt, wie sie sich verändert hat. Statt der Liegen stehen dort nun alte Sofas und Sessel in allen möglichen Variationen. Mal aus braunem Leder, mal aus rotem Stoff. Auch einfache Holzbänke an den Seiten.
Ich steuere ein blaues Sofa an, mit bunten Blümchenmustern. So eins hatten wir damals auch. Ich stelle meinen Rucksack auf dem Fußboden vor mir ab und klemme ihn mit den Beinen fest. Das Geld vom letzten Mal bar in der Tasche, habe direkt alles vom Konto geräumt. Damit keine Behörde oder sonst eine Institution auf die Idee kommen kann es abzubuchen und die Schulden damit auszugleichen. Beim Vermieter war ich noch nicht, hab vorerst meine wichtigsten Sachen, die noch übrig geblieben sind in meinen Rucksack gepackt und bin weg.