Buch lesen: «FILM-KONZEPTE 64 - Andreas Dresen»

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FILM-KONZEPTE

Begründet von Thomas Koebner

Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz

Heft 64 · Dezember 2021

Andreas Dresen

Herausgeber: Jörg Schweinitz

Print ISBN 978-3-96707-580-9

E-ISBN 978-3-96707-582-3

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: © Christel Peters in Andreas Dresens Sommer vorm Balkon (2005), © X VERLEIH AG

Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Abbildungen aus den Filmen um Screenshots.

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021

Levelingstraße 6a, 81673 München

www.etk-muenchen.de

Inhalt

Jörg Schweinitz Der Dresen-Ton. Zur Einführung

Selina Hangartner / Jörg Schweinitz Andreas Dresen im Interview

Stefanie Mathilde Frank »Diese Ausweglosigkeit – wo findet die statt? In den Köpfen oder in den Umständen?«. Theater als Verhandlungsraum in Andreas Dresens Spielfilmdebüt STILLES LAND

Daniel Wiegand »Nicht so einfach herzustellen«. Montage-Konstruktionen in NACHTGESTALTEN und DIE POLIZISTIN

Hans J. Wulff Vom Spiel mit doppelten Böden. Axel Prahl in den Filmen von Andreas Dresen

Selina Hangartner Frischer Wind. Ironie in HERR WICHMANN VON DER CDU

Andreas Kötzing Besser scheitern. Die Inszenierung der Nachwendezeit in ALS WIR TRÄUMTEN

Biografie

Filmografie

Autor*innen

Jörg Schweinitz

Der Dresen-Ton

Zur Einführung

Wer über das Kino von Andreas Dresen schreiben und es übergreifend charakterisieren möchte, sieht sich vor eine Schwierigkeit gestellt: So kohärent sein Filmwerk erscheint, so ist es doch nicht einfach, diese Kohärenz zu greifen. Auffällige und rasch ins Auge fallende Gemeinsamkeiten in Hinsicht auf Stilistik, Genrevorliebe, Erzählweise oder auch engere thematische Übereinstimmungen, die das Gros seiner Filme verbinden, sind auf den ersten Blick kaum auffindbar, zu unterschiedlich erscheint all dies.

Während etwa DIE POLIZISTIN (2001) oder HALBE TREPPE (2002) mit sichtbaren Vorlieben für eine instabile Handkamera zu dynamischen grobkörnigen Bildwelten tendieren, die etwas Flüchtiges, Improvisiertes, Reportagehaftes haben, erscheinen andere Filme viel stärker auf visuell sorgfältig komponierte, länger stehende Einstellungen zu setzen, die stabile Bildrahmen bieten und klare Raumordnungen für das Geschehen schaffen – so etwa in SOMMER VORM BALKON (2005), HALT AUF FREIER STRECKE (2011) oder auch WOLKE 9 (2008). Gelegentlich werden auch beide Stile miteinander kombiniert. Dresen selbst sagt dazu im Interview zu diesem Band, er sei kein Regisseur, »der eine ästhetische Monstranz vor sich herträgt. Die Stilistik ergibt sich aus dem Stoff.« Entsprechend variantenreich fällt sie aus.

Ähnliches gilt auch für die dramaturgische Anlage. Die Konzepte reichen von der episodischen Auflösung der Handlung mit einem damit einhergehenden polyzentrischen Figurenensemble in NACHTGESTALTEN (1999) bis hin zur eher klassischen Dramaturgie eines Biopics, wie sie GUNDERMANN (2018) prägt – ein Film, der freilich zugleich die üblichen Erwartungen an das Genre überschreitet. Andere folgen anderen Genres. So bietet etwa DER TAUSCH (1997) einen Kriminalfilm, TIMM THALER ODER DAS VERKAUFTE LACHEN (2017) einen modernisierten komödiantischen Märchenfilm oder WHISKY MIT WODKA (2009) eine Komödie im Stile Woody Allens. Wieder andere lassen sich kaum sinnvoll auf ein dominierendes Genre zurückführen, sondern pflegen, trotz eines vielfach verfremdeten Bezugs auf einzelne Elemente, ihrem Grundgestus nach gerade die Differenz zum Genrekino.

In thematischer Hinsicht verhält es sich nur wenig anders. Im Lichte von Produktionen aus dem letzten Jahrzehnt wie ALS WIR TRÄUMTEN (2015) oder GUNDERMANN und vor allem auch früherer Arbeiten wie dem Spielfilmdebüt STILLES LAND (1992) und den bekannten Erfolgsfilmen HALBE TREPPE und WILLENBROCK (2005) sowie einer Reihe von Dokumentarfilmen denkt man gern an Andreas Dresen als an einen Beobachter und Erzähler ostdeutscher Entwicklungen, beginnend mit der Endzeit der DDR, dann der ›Wendezeit‹ und den sich anschließenden Jahren des gesellschaftlichen Wandels. Tatsächlich verleiht der biografische Hintergrund des in der DDR aufgewachsenen Regisseurs, der in der Perestroika-Zeit bis hinein in den radikalen Umbruch von 1989/90 an der Babelsberger Filmhochschule studierte, um danach im neuen Filmbetrieb erfolgreich Fuß zu fassen, ihm eine besondere Kompetenz für das Erzählen ostdeutscher Geschichten. Darin beobachtet und reflektiert er die Brüche und Entwicklungen jener Jahre. Auch im eigenen Leben ist er seinem Standort treu geblieben, wohnt und arbeitet nach wie vor im Land Brandenburg, in Potsdam. Hier engagiert er sich über das Kino hinaus – so nimmt er etwa als juristischer Laie das Ehrenamt eines Richters am Landesverfassungsgericht wahr. Es ist klar, auch in diesem Band werden ostdeutsche Themen von Bedeutung sein.


Andreas Dresen mit Meltem Kaptan bei Dreharbeiten zu RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH 2021 in Ankara

Dennoch, Dresens thematisches Spektrum ist viel breiter. Obschon Filme wie NACHTGESTALTEN und SOMMER VORM BALKON oder auch WOLKE 9 ihren Handlungsort eindeutig in Berlin, vielfach im Osten, haben und viel vom Alltag der Stadt in ihnen spürbar wird, sind sie doch darauf nicht thematisch fokussiert. Es sind keine ›Ostgeschichten‹. Sie greifen Themen und Konflikte auf, die nicht primär an diesem Ort hängen, sondern von viel allgemeinerer Bedeutung sind. Das trifft allerdings letztlich auch auf die zuvor genannten Beispiele zu. Und dann: Filme wie TIMM THALER, WHISKY MIT WODKA oder – noch einmal ganz anders – die aktuelle Produktion RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH (2022)1 sprengen die Schublade endgültig.

Dennoch, wer an das Kino von Andreas Dresen denkt, hat der Vielfalt zum Trotz das berechtigte Gefühl, seine Filme verbinde viel. Es ist wohl eine bestimmte ›Tonlage‹, die dafür sorgt. Gemeint ist damit auch ein visueller ›Ton‹, also eine gewisse Art und Weise die Menschen und ihre Welten zu betrachten, sich zu ihnen zu verhalten und sie sich filmisch anzueignen. Zur Einleitung in den vorgelegten Andreas-Dresen-Band der Film-Konzepte sei darum der Versuch unternommen, einige solcher Affinitäten – schlaglichtartig – zu skizzieren.

Beobachtung und Konstruktion

Was an Filmen von STILLES LAND bis zu GUNDERMANN auffällt, ist die Genauigkeit der Beobachtung. Rasch macht sich bemerkbar: Dresen weiß, wovon er erzählt. Dies betrifft die Motivationen, die seine meist in ihrem Alltag verankerten Figuren antreiben, ebenso ihre Verhaltensweisen bis hin zur Art, wie sie sprechen. Schon STILLES LAND entwirft ein Spektrum des Verhaltens und Reagierens auf die Situation und die Entwicklungen in der DDR während des Spätsommers und Herbsts 1989. Die Figuren sind als tatsächliche Individuen gezeichnet, obwohl klar mit einer komödiantischen, teils satirischen Note akzentuiert, die auch manche Situationen betrifft, in die sie sich gestellt sehen. Trotz ihrer Individualität stehen sie gleichzeitig für charakteristische Handlungs- und Denkweisen, für die Art der Debatten, Positionen und Aktionen, für Mut, Übermut, Bedenken, Taktieren, Zaudern und Handeln in jener aufregenden Zeit der radikalen Veränderung, die für eine ganze Generation im Osten lebensprägend und zum Grunderlebnis wurde. Das betrifft natürlich auf erster Ebene die von dem Film thematisierte Konstellation eines Ensembles an einem Provinztheater (gedreht wurde am Theater in Anklam), verweist aber zugleich auch auf allgemeinere Erfahrungen. Wer jene Zeit – auch wenn es außerhalb eines Theaters war – miterlebt hat, fühlt sich an vieles Ähnliches erinnert. Zugleich gewinnt man einen Eindruck vom Unspektakulären, vom Alltäglichen innerhalb der spektakulären großen Bewegung. Und die Dialoge, der ganze Gestus, mit dem die Figuren miteinander reden und umgehen, stimmt – bis in die Wortwahl hinein.

Wie wunderbar etwa Kurt Böwe als Intendant des Theaters eine seiner Rolle entsprechende Diktion und Umgangsweise der Zeit trifft und dabei doch eine ganz eigene Figur schafft, mag manchem heute vielleicht nicht mehr sonderlich auffallen (zu Unrecht!), wie gut es aber fast 30 Jahre später auch Axel Prahl in seiner Rolle eines Stasi-Offiziers in GUNDERMANN gelingt, den patriarchalen und zugleich kumpelhaft anbiedernden Gestus zu treffen, der in der Funktionärssphäre herrschte, und dabei mit einer subtilen Verschiebung gleichzeitig verblüffend an das inzwischen durch seine TATORT-Rolle weithin bekannte ›Prahl-Image‹ anzuknüpfen, das fällt auf.

Solche aus Beobachtung resultierende Genauigkeit, wie die des sozialen Habitus der Figuren, prägt viele andere Aspekte des Kinos von Andreas Dresen. Sie reicht bis ins Dekor hinein. So passt, um bei Prahls Auftritt zu bleiben, etwa die Ausstattung des Wohnzimmers seines Ex-Stasi-Offiziers ebenso präzise zu dieser Figur im damaligen historischen Moment wie die Art, mit der er seinen Gast mit dem rituellen Schnaps einzugemeinden versucht. Selbstverständlich spitzt Dresen bei der Figurenzeichnung zu und manch komödiantischer Überschuss kommt ins Spiel, aber nirgends in seinen Filmen wird über jene Zeit ausgehend von vorgefassten narrativen Typenkonstruktionen erzählt, nirgendwo top down, sondern von der Beobachtung und Erfahrung her. Nie stellt sich darum der Eindruck ein, es mit ›ausgedachten‹ Charakteren zu tun zu haben.

Dresen verzichtet in Filmen, die Alltag und Geschichte reflektieren, nicht nur in Hinsicht auf die Figurenwelt auf Stereotype des medial geprägten Alltagsdenkens, sondern auch auf Stereotype filmischer Imagination, und er verzichtet auf ästhetische Klischees – etwa, wenn es um die DDR geht, auf das leicht graue Kolorit der Dekorationen und Kostüme, wie man es heute häufiger sieht. Oder, wenn städtische Räume eingeführt werden, fehlen die üblichen touristischen und medialen landmarks, an denen zum Beispiel Fernsehserien kaum je vorbei kommen. Stattdessen lässt er etwa in WOLKE 9 die S-Bahn unmittelbar am Kleingarten der Tochter vorbeifahren, auch ansonsten ist sie in der Handlungswelt durchgängig präsent, häufig nur als nahes oder ferneres Fahrgeräusch. Das trägt nicht nur zur berlinischen Atmosphäre bei, sondern auch dazu, ein transitorisches Moment zu betonen. Einmal wird auch die psychische Bedrängnis und innere Konfliktlage der Protagonistin – durch das geräuschvolle Vorbeiziehen der S-Bahn – in ihrer Wirkung auf uns akzentuiert.

Was das Schauspiel betrifft, verhält es sich ähnlich. Ein Spiel, das die eigene Qualität oder auch die Imago eines Stars ostentativ hervorkehrt, interessiert Dresen nicht, jedenfalls viel weniger als gelungene Momente einer alltagsnahen Improvisation, die ihre Kunstfertigkeit gleichsam unterhalb der Schwelle bewusster Wahrnehmung entfaltet. Mit anderen Worten: Er baut seine Welten – um Siegfried Kracauers Sprachgebrauch aufzugreifen – »von unten nach oben«, von der konkreten Erfahrung ausgehend.2 All dies und einiges mehr hinterlässt dann den berechtigten Eindruck, etwas von der Realität, vom Alltag der erzählten Zeit mitzuerleben. Das hat Dresen das – nicht völlig unberechtigte – Lable ›sozialer Realismus‹ oder sogar ›authentisch‹ eingebracht. Doch geben seine Filme selbstverständlich nicht einfach nur gut beobachtete Realität pur wieder. Sie sind sorgfältig konstruiert, entfalten und plausibilisieren mit vielfältigen Kunstgriffen und voller Spielfreude ihre jeweils eigenen Imaginationswelten, sie funktionieren nach einer durchdachten Dramaturgie, emotional rhythmisiert, und sie kreieren auch utopische Momente.

Wenn am Ende von HALBE TREPPE in Uwes Imbissbude einige prekäre Gestalten, die hier bei einem Bier letzten Halt finden, zusammenkommen und von Uwe, der beginnt, seine Trennung zu verdauen, ebenso wie die musizierenden 17 Hippies eingeladen werden zu feiern, so versetzt dieser musikalische Schluss auch das Kinopublikum in gute Stimmung und lässt zugleich einen Funken Utopie überspringen. Natürlich ist die Szene nicht einfach ›authentisch‹, im Alltag wäre sie so kaum wahrscheinlich. Sie ist vielmehr wohlbedacht gewählt, inszeniert, musikalisch und visuell konstruiert. Sie ist Kino! Ein Kino, das weit von der konventionellen Formel des Happy End entfernt ist, und dennoch sein Publikum mit einem Moment der Hoffnung ausgestattet entlässt – melancholisch, doch zugleich beschwingt. Hier wird Realität in der Imagination aufgehoben. Und das ist Kino.

Ironische Blicke

Noch im Rahmen seines Studiums drehte Andreas Dresen an der Babelsberger Filmhochschule zwei Dokumentarfilme, die wie einige andere Arbeiten aus jener Zeit heute auch auf DVD3 zugänglich sind: WAS JEDER MUSS … (1988) über einen jungen Mann, der zum Wehrdienst bei der NVA eingezogen und vom Filmteam dorthin begleitet wird, und JENSEITS VON KLEIN WANZLEBEN (1989), eine Art Gruppenporträt einer »Brigade der Freundschaft«, die, vom FDJ-Zentralrat nach Afrika entsandt, in Simbabwe ein Ausbildungscamp aufbauen soll. Beides Themen, die politisch erwünscht waren, weshalb die Dreharbeiten sowohl von der NVA als dann auch vom FDJ-Zentralrat gefördert wurden, was dem Filmteam Möglichkeiten und Zugänge öffnete. In beiden Fällen entstand aber letzthin etwas, das die Erwartungen der Auftraggeber substanziell unterlief.

Dabei entsprach die Grundlinie der jeweiligen Vorgänge im Grunde dem, was erwartet wurde. WAS JEDER MUSS … ließe sich in diesem Sinne so nacherzählen: Der Film zeigt den Protagonisten, der Härten des Armeelebens auf sich nimmt, einrückt, weil »jeder muss«, und sich dann sogar dazu bekennt, dass es in der Welt der Militärblöcke wohl kaum ohne Armee gehe. Er nimmt am militärischen Training teil und gehört dazu, als die Vereidigung geprobt und vollzogen wird; er erträgt den Kasernenalltag sowie die Trennung von seiner Freundin und dem gemeinsamen Baby und begeht schließlich in der Kaserne das von der FDJ-Leitung gestaltete Weihnachten, mit dem der Film endet. Und JENSEITS VON KLEIN WANZLEBEN ließe sich entsprechend so umreißen: Der Film berichtet davon, wie 120 km südwestlich von Harare im Busch aus dem Nichts ein Camp errichtet, mit Trinkwasser und Energie versorgt wird, die Mitglieder der Brigade die ersten Häuser beziehen und wie im Zuge des Camp-Aufbaus als learnig by doing eine Gruppe einheimischer junger Männer ausgebildet wird. Wer beide Filme aber sieht, bemerkt bald, dass diese Art der Zusammenfassung nicht das trifft, was sie ausmacht. Denn das Geschehen wird mit einem ironischen Blick, einer ironischen Konstruktion und Materialauswahl unterlaufen.

In WAS JEDER MUSS … geschieht das schon dadurch, dass mehrfach Szenen beim ›Training‹ gezeigt werden, in denen der Protagonist den wiederholten Kommandos »Tempo 1, Tempo 2, Tempo 3 und Tempo 4« folgend den immer gleichen Bewegungsablauf im Umgang mit der Waffe in vier Phasen nachvollziehen muss – einen Ablauf, der zudem bereits in der jeweiligen Szene mehrfach repetiert wird. Allein schon diese auffällige Wiederholung des banalen Drills auf Kommando, der ein Moment von Entwürdigung in sich trägt, setzt – fast einem Leitmotiv gleich – den Ton für die Ödnis des Ganzen.

Gesteigert wird der entsprechende Eindruck dann über mehrere Stationen hinweg, vor allem in einer Sequenz, die zeigt, wie die Truppe die anstehende Vereidigung trainiert. In einer von hinten aufgenommenen Reihe Uniformierter, drücken diese auf das Kommando »Stillgestanden« – visuell höchst skurril – einheitlich den Hintern heraus. Schon hier mögen einem Bergsons Ideen über Komik in den Sinn kommen: Komik entstehe durch »mechanische Starrheit« des Lebendigen,4 dysfunktionale Routinen eingeschlossen. »Stellungen, Gebärden und Bewegungen des menschlichen Körpers sind in dem Maße komisch als uns dieser Körper dabei an einen bloßen Mechanismus erinnert.«5


WAS JEDER MUSS … Körper als Mechanismus

Der entsprechende Eindruck wird in der Sequenz weiter forciert mit Aufnahmen, die von den angetretenen jungen Männern nur noch ausgerichtete Reihen von Stiefeln oder Helmen zeigen, dazwischen lediglich eine Spur des Lebendigen: das vertraute Gesicht des Protagonisten seitlich von hinten in einer nahen Aufnahme, jedoch visuell eingezwängt zwischen Helm, Riemen und Uniformteilen; einmal auch eine kleine abweichende Fußbewegung in der ausgerichteten Reihe. Dazu ertönt eine dröhnende Kommandostimme. Sie spricht die befohlenen Gruß- und Eidesformeln vor; die Soldaten haben sie solange zu wiederholen, bis das Ergebnis befriedigt, immer wieder unterbrochen vom Kommando »einheitlicher und lauter!«. Nachdem die ungeheuerliche Abschlusszeile des Eids »… und mein Leben zur Erringung des Sieges einzusetzen« nach mehrfacher Probe hinreichend lautstark deklamiert wurde, kippt die Offiziersstimme in einen Klang fast schon ziviler Routine: »wir lassen es dabei bewenden«. Die Ironie der visuellen Perspektivierung und der Bild-Ton-Montage der Sequenz, die mit bitterer Komik das Groteske des gesamten Rituals hervortreibt, ist offensichtlich. Vom Pathos des Eides bleibt durch die offengelegte Mechanik der Wiederholung, die vor allem auf Lautstärke und Einheitlichkeit aus ist, nichts übrig. In der ironischen Akzentuierung von WAS JEDER MUSS … entsteht damit eine Metapher: »das politische Bekenntnis als Lippenbekenntnis, bei dem es nur noch um die Formel ging«. »Dieses stupide Training war plötzlich ein trauriges, entlarvendes Gleichnis auf die Entleerung der sozialistischen Idee. Überall nur öde geistlose Rituale und sinnlose Disziplin«,6 so hat es Dresen selbst formuliert.

JENSEITS VON KLEIN WANZLEBEN zeugt ebenfalls von Ironie, wenn auch einer etwas anders gearteten Form. Bereits der Titel ist dafür ein Indiz, denn natürlich spielt er – in Umkehrung der Jenseits-Richtung – auf den Kinohit JENSEITS VON AFRIKA (OUT OF AFRICA, 1985) an. Zwar stammt einer der Brigadeteilnehmer tatsächlich aus Klein Wanzleben, aber der sprechende Name des zu Filmbeginn sogar kurz besuchten, eher trist ins Bild gesetzten Börde-Ortes steht im Titel natürlich für die Enge der DDR.

Die Erzählung des Films geht dann von der Interview-Auskunft eines der parteischulvorgebildeten Protagonisten, von dem aus Klein Wanzleben, aus. Er erklärt wortreich, ihn und seine Frau habe es gereizt, einmal die Sicherheit, das Geregelte und Geborgene des DDR-Lebens auf Zeit hinter sich zu lassen und das Abenteuer, Ungewissheit und das nicht Vorprogrammierte zu suchen. Was Dresens Film dann aber gleichsam zum Haupterzählstrang macht, ist zu beobachten, wie die Gruppe dabei ist, in den aufgebauten Häusern des Camps die üblichen DDR-Wohnzimmer mit den vom FDJ-Zentralrat entsandten Schrankwänden, Polstergarnituren, individuell ergänzt durch Häkeldeckchen, einzurichten. Mitten im Busch suchen sie eine genaue Replik ihres DDR-Lebens herzustellen. Die mitgereisten Kinder werden von einer Teilnehmerin nach heimatlichem Schema unterrichtet, für die Kamera legen sie sogar die Pionierhalstücher an, und noch das gehortete Klopapier kommt aus dem Zentralrats-Container. Die Welten der DDR-Familien und der afrikanischen Bauarbeiter mit ihrem Umfeld bleiben außerhalb weniger Arbeitsszenen und selbst bei einer organisierten abendlichen Freiluftvorführung eines Films über die DDR-Hauptstadt eher getrennt. Man bleibt unter sich. Auf den filmisch akzentuierten Widerspruch des Ganzen zu der Idee, den Alltag und die engen Regeln der DDR zu verlassen, angesprochen, reagieren alle irritiert und verlegen um Antworten bemüht, die in den Augen des Zentralrats noch als politisch korrekt gelten könnten; eine der Frauen beharrt auf ihrem Recht auf Gemütlichkeit. Die Ironie liegt hier auch darin, dass das von den ›Abenteurern‹ duplizierte DDR-Leben in der Verfremdung durch die afrikanische Umgebung besonders bizarr wirkt. Irgendwie erscheint der hier und da teils in kontrastierenden Montagen ins Bild kommende Alltag derer, denen die Solidarität gelten soll, deutlich lebendiger als der Alltag jener, die Solidarität bringen wollen, aber vor allem mit ihrer eigenen Lage beschäftigt sind.


JENSEITS VON KLEIN WANZLEBEN: Ein DDR-Wohnzimmer im Busch von Simbabwe

Obwohl noch studentische Arbeiten, die zudem mit ihrer Zeitzeugenschaft die Realität der sich bald darauf auflösenden DDR reflektieren, setzen die beiden frühen Dokumentarfilme bereits für einiges den Ton, das für Dresens Filmarbeit folgenreich werden sollte. Das betrifft schon die Teams. Mit Andreas Höfer, dem Kameramann beider Filme, arbeitete und arbeitet Dresen bis heute bei einer Vielzahl seiner Projekte immer wieder zusammen. Das gleiche gilt für Laila Stieler, die bereits zu WAS JEDER MUSS … und seither bis hin zu RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH (2022) mindestens acht Drehbücher für Dresen-Filme schrieb oder mitschrieb. Und – wie Andreas Dresen erzählte – habe er schließlich bei der JENSEITS-VON-KLEIN-WANZLEBEN-Premiere an der Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche seinen Produzenten, Peter Rommel, kennengelernt, mit dem sich dann eine ebenfalls bis heute andauernde fruchtbare Zusammenarbeit anbahnte.7


HERR WICHMANN VON DER CDU: Visuelle Ironie – der Protagonist im Kreis der Werbeträger

Auch die Techniken des ironischen Erzählens treten in Dresens späteren Filmen immer wieder hervor, eher punktuell in Spielfilmen. Im Dokumentarfilm greift er sie aber wiederholt auf, vor allem in seinen beiden Filmen über den Brandenburgischen Lokalpolitiker Wichmann. Unter den neuen Bedingungen der demokratischen Gesellschaft ringt Dresen nicht mehr mit der versteinerten Realität, wie sie die Endzeitjahre der DDR prägte, dennoch provoziert ihn beim Blick auf Wichmanns Wahlkampf ebenfalls manches zur Entleerung tendierende Ritual und der Leerlauf konventioneller Formeln. Auch daran akzentuiert er dann gern mit ironischem Blick Bizarres.

€19,99

Genres und Tags

Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
186 S. 28 Illustrationen
ISBN:
9783967075823
Rechteinhaber:
Bookwire
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