Dimensionen schulischer Qualität im Fokus: Was macht "gute Schule" aus?

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Offene Lernumgebungen verlangen nach passgenauen Medien

Wenn man der derzeitigen öffentlichen Diskussion Glauben schenkt, dann sind die Digitalisierung der Schulen, das schnelle Internet, sind iPad- Klassen das Mittel der Wahl, um Schule zukunftsfähig zu machen. Dass Schulen digitaler werden müssen, das ist unbestritten. Die milliardenschweren Förderprogramme von Bund und Ländern stellen aber meistens die technische Ausstattung in den Mittelpunkt. Der unterrichtlich sinnvolle Einsatz, die digitale Dividende, von der Prof. Olaf-Axel Burow so gerne spricht, bleibt außen vor.

Wenn die Touchscreens, an der die Lehrkräfte ihre Dateien ablaufen lassen, an die Stelle der Tafeln rücken, wenn sie unter dem Slogan Ende der Kreidezeit angepriesen werden, wenn die Schüler an ihren Tischen mit Tablets arbeiten, deren Ergebnisse dann nach vorne übertragen werden, dann erleben wir einen gewaltigen und teuer erkauften Rückschritt in Richtung lehrerzentrierten Unterrichts. An der Grund- und Mittelschule haben digitale Medien und SMART-Boards seit nunmehr über 15 Jahren ihren festen Platz. Zusammen mit den altbekannten, bewährten analogen Medien sind sie in einem Unterricht, dessen Merkmal die Differenzierung ist, unersetzlich geworden. Deshalb stehen bei uns Heft und Buch, sorgfältig ausgewählte Lernsoftware, Stift und Laptop, SMART-Boards und Schuldruckerei gleichwertig nebeneinander. Damit Schülerinnen und Schüler für ihre jeweilige Lernsituation das richtige Medium auswählen können, müssen sowohl sie als auch die Lehrkräfte über die notwendige Medienkompetenz verfügen.

Im Laufe der Jahre haben wir uns auf einige wenige digitale Lernprogramme festgelegt, die in hohem Maße das eigenaktive Lernen unterstützen und mit denen am PC oder im gesamten Schulhaus über Laptops gearbeitet werden kann.

Dass eine Schule, die den Einsatz digitaler Medien überall im Haus als konzeptionell wichtig erachtet, über eine ausreichende digitale Infrastruktur verfügen muss, ist einleuchtend.

Offene Lernumgebungen bleiben auch zukünftig eine Herausforderung

Die Ausweitung offener Unterrichtsformen, eine Öffnung der Klassenzimmer, die Schaffung offener Lernumgebungen verändern eine Schule insgesamt. Sie verändern das Gebäude und die in ihm arbeitenden Menschen. Eine solche veränderte Schule bildet Schülerinnen und Schüler aus, die eigenverantwortlich(er) entscheiden, die eigenaktiv(er) lernen, für die das Neben- und Miteinander von Jüngeren und Älteren, von welchen mit und ohne Handicap selbstverständlich ist. Sie übernehmen Verantwortung für das eigene Lernen und das der anderen.

Die Mutter eines Schülers unserer Schule sagte einmal: „Ihr seid eine Schule der offenen Türen und der offenen Herzen.“ Mit Gedanken zur Corona-Pandemie begann dieser Artikel. Mit einer Befürchtung soll er enden. Die Kultusministerien sprechen vom Regelbetrieb an Schulen, der trotz Corona gut funktioniere. Amtlich verordnet sieht es in den Klassenzimmern derzeit so aus: Abstand im Unterricht, keine Mischung von Schülergruppen, frontale Sitzordnung, kein Austausch von Unterrichts- bzw. Arbeitsmaterialien der Schülerinnen und Schüler untereinander, keine Gruppenarbeiten. Regelbetrieb? Was sagt diese Wortwahl über das Bild von Schule in den Kultusministerien? Ich fürchte, dass durch so eine Wortwahl all die Kräfte wieder Aufwind bekommen, die schon immer dem lehrerzentrierten Frontalunterricht das Wort geredet haben.

Nach Corona ist zu befürchten, dass die offenen Unterrichts- und Raumkonzepte, ihre Berechtigung und Notwendigkeit an vielen Schulen, in vielen Kollegien wieder neu begründet, erkämpft und zurückerobert werden müssen. Dann erhalten die anfangs schon zitierten Veröffentlichungen von Prof. Dr. Schönig zur Gestaltung und Nutzung von Schulräumen nochmals eine wichtige Bedeutung. Schul- und Unterrichtsentwicklung ist ein mühsamer Prozess, der allzu oft der Echternacher Springprozession ähnlich ist. Für unsere Industriegesellschaft ist es existentiell notwendig und unsere Schülerinnen und Schüler haben es verdient, dass es weiterhin Menschen gibt, die hartnäckig für die Veränderung von Schule kämpfen, trotz all der Enttäuschungen und Niederlagen. Aber wahrscheinlich muss man sich, um es mit Albert Camus zu sagen, Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen.

Potentiale von Lernwerkstätten für Schulentwicklung

Dr. Petra Hiebl

Die Lernwerkstattbewegung zeigt, dass Lernwerkstätten mit ihren zugrunde liegenden pädagogischen Konzepten als Raum für alternative Lernerfahrungen und Probehandeln aufgegriffen werden, um Schule und Unterricht neu zu denken. Im Zentrum stehen Bestrebungen um eine Veränderung der Lernkultur und damit um eine lernerzentrierte Sichtweise pädagogischer Bemühungen. Gemeinsam ist den Lernwerkstätten die Anstrengung, aktuellen Erkenntnissen der Forschung zum Lernen und deren Einfluss auf die Unterrichtsgestaltung gerecht zu werden. Die Potentiale von Lernwerkstätten für Lernende, aber auch für Lehrende und Institutionen sind zahlreich: Lernwerkstätten bieten den Lernenden Möglichkeit, ihre Kompetenzen selbstbestimmt zu entwickeln, Lehrende erfahren einen Schonraum, in dem sie alternative Konzepte ausprobieren können und Institutionen machen sich durch Lernwerkstätten auf den Weg, aktuellen Herausforderungen der Bildungslandschaft zu begegnen (Hiebl 2014).

Der vorliegende Beitrag beschreibt Potentiale von Lernwerkstätten für (Schul-) Entwicklung. Hierzu wird zunächst als theoretische Rahmung das Phänomen Lernwerkstatt im Kontext von Reformmaßnahmen und (Schul-) Entwicklungsprozessen aus schulpraktischer und empirischer Sicht dargestellt. Anschließend werden die Ausführungen durch wissenschaftlich begleitete Förderprogramme der HERMANN GUTMANN STIFTUNG veranschaulicht.

1. Das Phänomen „Lernwerkstatt“ – Bestimmungsmerkmale und Darstellung ausgewählter Definitionsansätze

Lernwerkstätten als Orte selbstgesteuerten und individualisierenden Lernens sind in den letzten Jahren wieder stark in Mode gekommen. Diese gestalteten Lernumgebungen, die „das Lernen […] bewusst zur Sache der Schüler machen“ (Rupprecht 2008, S. 12), werden mit der Hoffnung auf eine Qualitätsverbesserung der Lernkultur von Bildungsinstitutionen verbunden.

„In den letzten Jahren hat sich der Begriff ´Lernwerkstatt´ rasend schnell als Umbrella-Begriff (Bolland 2007) für unterschiedlichste Lernangebote verbreitet“ (VeLW 2009, S. 5). Jedoch verwirrt der inflationäre Gebrauch des Begriffs eher als er engagierte Pädagog*innen zum Handeln einlädt, denn was genau unter diesem Begriff zu verstehen ist, scheint nicht (mehr) eindeutig fassbar und teilweise wenig mit der ursprünglichen Intention dieses Konzepts zu tun zu haben: „Diese Entwicklung hat eher zu Missverständnissen und Fehldeutungen der Begriffe ´Lernwerkstatt´ und ´Lernwerkstattarbeit´ geführt und dies insbesondere dann, wenn Instruktion, vorgefertigte Arbeitsmaterialien und eingeschränkte Möglichkeit der Konstruktion eigenen Wissens vorherrschende Arbeitsformen der so bezeichneten ´Lernwerkstätten´ sind“ (ebd., Herv.i.O.). Eine Erörterung der (ursprünglichen) Bestimmungsmerkmale der Lernwerkstatt-idee ist demzufolge notwendig.

Aus der vorzufindenden vielfältigen Praxis von Lernwerkstätten lassen sich gemeinsame zentrale Merkmale und Prinzipien der Lernwerkstattarbeit herauskristallisieren.

Holtappels (1995) formuliert folgende Bestimmungsmerkmale: „Sie sind: (1) materialreiche Stationen mit Lernmittelsammlungen und Materialdepots: Lernmittel, Medien, Dokumente, Karteien, Bücher, Spiele, Kreativmaterial, Werkmaterial. Experimentiermaterial sowie Hilfsmittel wie Geräte, Stellwände, Werkzeug etc., (2) modellhafte Lernumgebungen mit didaktischen Zonen und Funktionsecken, die zu Selbsttätigkeit und praktischem Handeln anregen, zum Entdecken, Forschen, Experimentieren und Produzieren einladen, zu Fantasie und Probehandeln animieren, offene Lernabläufe und projektförmige Vorhaben in Gang setzen, (3) Räume zur Selbsterfahrung, in denen sich die Nutzer als Lernende selbst erfahren, eigene Kräfte für das Lernen entfalten, individuelle Lernzugänge und Lernwege finden, eigene Lernspuren entwickeln können, (4) Räume zur Kompetenzerweiterung […], (5) Orte des kommunikativen, kooperativen und solidarischen Handelns, in denen Kontakte geknüpft, Beratung gefunden und über Lernen kommuniziert […] werden kann und (6) Informationssysteme und Servicestationen der Dokumentation und des Wissenstransfers […]“ (Holtappels 1995, S. 3 ff.).

Müller-Naendrup (1997, S. 148 ff.) stellt folgende „dominante Prinzipien“ für die Lernwerkstattarbeit an Hochschulen heraus, welche auf Lernwerkstätten an Schulen übertragbar erscheinen: (1) Das „Prinzip des Entdeckens und der Handlungsorientierung“, (2) das „Prinzip der Reflexion“, (3) das „Prinzip der Autonomie und Kooperation“ sowie (4) das „Prinzip der Innovation“.

Lernwerkstätten verstehen sich nach diesen Prinzipien selbst als alternative, innovative Formen der traditionellen Lernkultur. Weg von referentenorientierten (Lehrerbildungs-)Konzepten bieten sie vor allem teilnehmerorientierte Lernarrangements an, die dem Lernenden eine aktive, weitestgehend autonome Rolle übertragen und ihn im Sinne des Partizipationsgedankens den eigenen Lernprozess selbst gestalten lassen (vgl. Pallasch & Reimers 1990, S. 97). Gleichzeitig haben die Lernenden die Möglichkeit zur Kooperation. „Die entdeckenden Lernprozesse beziehen sich zum einen auf den kognitiven Erkenntniszuwachs, zum anderen ermöglichen sie im Sinne des ganzheitlichen Lernverständnisses auch Lernerfahrungen im emotionalen und motorischen Bereich“ (Müller-Naendrup 1997, S. 151, Herv.i.O.). Das Prinzip der Reflexion meint nicht nur die Einordnung der gewonnenen Erkenntnisse, sondern insbesondere „die bewusste Erfahrung und Verarbeitung des eigenen Lernprozesses“ (ebd., S. 152). Somit wird einer reflexiven Grundhaltung Raum und Zeit gegeben, bei der eigene Fragen sowie Fehler und Umwege im Lernprozess bedeutende Schritte sind (vgl. ebd., S. 153).

 

Neben den Bestimmungsmerkmalen zu Lernwerkstätten sind eine Reihe von Definitionen zu „(Lern-) Werkstatt“ sowie zu „Werkstattunterricht“ in der Literatur zu finden. Diese Vielfalt scheint der Idee Lernwerkstatt nachzukommen: „Die Heterogenität und Vielfalt der Lernwerkstättenbewegung ist ein entscheidendes Merkmal der zugrundeliegenden Idee“ (Müller-Naendrup 1997, S. 309, Herv.i.O.).

Aus diesen Definitionen wurden drei ausgewählt, weil sie nach Auffassung der Verfasserin das Spezifische von Lernwerkstatt (-arbeit) besonders gut widerspiegeln:

Erstens wird die Lernwerkstatt als „Alternativer Lernort“ beschrieben: „Lernwerkstätten sind eigentlich per Definition Arbeitsumgebungen, die nach dem Prinzip der anregenden Lernlandschaft gestaltet sind und so alternative Lernorte darstellen – in Schule, Lehreraus- und –fortbildung [...] In Ermangelung geeigneter Lernumgebungen gab es vielerorts Versuche, das Lernwerkstattkonzept ohne seinen stationären Rahmen zu realisieren“ (Hagstedt o.J.).

Zweitens versteht man darunter einen „Ort für Erfahrungen in subjektbezogenen Zeitrhythmen“: „Werkstätten sind Orte, an denen […] in subjektbezogenen Zeitrhythmen gearbeitet und Erfahrung nicht nur simuliert […] wird. Werkstätten sind […] zufällige oder inszenierte Zusammenkünfte von Lebenszeit, Ort und Subjekt in produktiven Situationen und Prozessen, wobei Werkstatt ein vieldeutiger, individuell interpretabler Begriff zwischen Realität und Fiktion, sinnlicher Präsenz eines Raumes und imaginativer Utopie eines Gedankens sein kann“ (Selle 1992, S. 40).

Letztlich sind in Lernwerkstätten „strukturierte Lernangebote“ vorzufinden (vgl. Reichen 1991, S. 56). Eine Lernwerkstatt ist damit in der Regel ein speziell vorbereitetes und zusammengestelltes Angebot verschiedener Aufgaben, die von den Schüler*innen erarbeitet werden.

Auf der Suche nach klaren Beschreibungen und grundlegenden Merkmalen für Lernwerkstätten und Lernwerkstattarbeit verfasste der Verbund europäischer Lernwerkstätten e.V. (VeLW)1 im Jahr 2009 ein Positionspapier mit dem Ziel, zur Klärung und Beschreibung der Begriffe beizutragen und Qualitätsmerkmale2 zu benennen.

Zwei Begriffe wurden hierbei als zentral angesehen und zum besseren Verständnis festgelegt: „Lernwerkstattarbeit ist die durch konkrete Kriterien beschriebene pädagogische Arbeit. Lernwerkstatt ist ein in seiner Funktion als ´Lernwerkstatt´ längerfristig festgeschriebener real vorhandener Raum. In der Lernwerkstatt wird in der Regel Lernwerkstattarbeit geleistet. Lernwerkstattarbeit kann allerdings auch außerhalb des Raumes Lernwerkstatt geleistet werden“ (VeLW 2009, S. 4). Die angeführten Begriffe beschreiben zum einen Lernwerkstätten als anregungsreiche Lernräume (vgl. VeLW 2009, S. 9). Hagstedt (1998) führt dafür auch den Begriff der „gestalteten Lernlandschaft“ ein.

Die Lernwerkstattarbeit wird zum anderen als eine pädagogische Interaktion zwischen Lernenden und Lernbegleitung gekennzeichnet3 (vgl. VeLW 2009, S. 7 f.).

Im Folgenden werden die Bestimmungsmerkmale in Zusammenhang mit der Lernwerkstattidee als Reformmaßnahme zum Zwecke einer Qualitätsverbesserung von Lehren und Lernen gebracht. Die „Innere Schulreform“ in Deutschland durch die Gründung von Lernwerkstätten steht im Zentrum der Darstellung. Auf internationale Vorbilder wird Bezug genommen. Ebenso werden Ziele und Ideen der Lernwerkstätten an Schulen im Kontext ihrer Entstehung und Entwicklung an Hochschulen erläutert.

2. Lernwerkstätten im Kontext von Reformmaßnahmen

Ursprünglich stammt der Lernwerkstattgedanke aus der Reformpädagogik und ist mit Pädagog*innen wie Georg Kerschensteiner, Celestin Freinet und Maria Montessori verbunden. Mit den englischen Teachers´ Centers wird er weiter aufgegriffen. Im Zuge der Reformbemühungen für eine Öffnung des Unterrichts in der Grundschule kommt die Idee der Lernwerkstätten auch nach Deutschland.

Die ersten Lernwerkstätten in Deutschland entstanden Anfang der 1980er Jahre an der Technischen Universität Berlin, an der Gesamthochschule in Kassel4 und an der Pädagogischen Hochschule Reutlingen5. Als gemeinsames Ziel der Lernwerkstätten an Hochschulen könnte man die Überwindung der Kluft zwischen Theorie und Praxis nennen (vgl. Franz 2012, S. 21). Diese ersten Lernwerkstätten an Hochschulen orientierten sich an Konzeptionen der früheren „Teachers´ Centers - Bewegung“ in England und den USA, den Konzepten der „open plan schools“ und teilweise auch an den Plänen zur Einrichtung von „Regionalen Pädagogischen Zentren“, die Anfang der 1970er Jahre vom Deutschen Bildungsrat empfohlen wurden (vgl. Müller-Naendrup 1993, S. 34). Diese Konzeptionen hatten zur Grundlage, „dass Erwachsene selbst anders lernen müssen – aktiv, forschend, entdeckend kreativ, offen – um mit Kindern auf andere Weise Schule machen zu können“ (Ernst 1993, S. 18). Die Idee des entdeckenden Lernens im Kontext von gestalteten Lernräumen inspirierte weitere Pädagog*innen, die auch auf der Suche nach neuen Lehr- und Lernformen waren und breitete sich in den folgenden Jahren in Schulen und Hochschulen aus: „Die Faszination des erlebten eigenen Lernprozesses, die dabei empfundene Freiheit und zugleich erfahrene Widerstandsfähigkeit, die sich aus der Konfrontation mit der eigenen schulischen Sozialisation ergab, begeisterte und wirkte wie ein Virus, das sich langsam ausbreitete und neues pädagogisches Denken provozierte“ (Wedekind 2011, S. 6).

Als ein Modell mit Vorbildfunktion, an der sich viele weitere Lernwerkstätten orientierten, ist hier die Grundschulwerkstatt an der Universität Kassel, die von Ariane Garlichs und Herbert Hagstedt initiiert wurde, zu nennen. Diese 1981 konzipierte Lernwerkstatt ist bis heute für innovative Entwicklungsprozesse innerhalb der Grundidee Lernwerkstatt bekannt, deshalb soll sie an dieser Stelle als ein Beispiel im Sinne weiterer genauer betrachtet werden. Hier konnten (und können heute noch immer) Kolleg*innen allein oder auch mit ihren Schüler*innen in einem durch Materialangebot inspirierenden Raum forschen und entdeckend lernen.

Die Entstehung dieser Lernwerkstatt reicht nun 30 Jahre zurück. Damals skizzierte Ariane Garlichs ein neues Raumkonzept für den Ausbildungsbereich der Grundschulpädagogik an der Hochschule. Ein Komplex sollte entstehen, der zugleich Seminarraum, Kinderarbeitsraum, Mitarbeiter*innenraum und Archivraum mit Flurbereich und anschließender Freizone bereitstellten könnte. Schon in der Ausbildungsphase sollten sich die Studierenden mit innovativen Unterrichtskonzepten auseinandersetzen können. Bei der konkreten Arbeit mit Kindern in der Lernwerkstatt sollten nicht übliche Unterrichtsstunden im Mittelpunkt stehen, sondern gerade „alternative“ Projekte, um den Studierenden Gelegenheit zu geben, ein mögliches Erfahrungsdefizit an dieser Stelle auszugleichen. „Wer Kindern und Jugendlichen später entdeckende Lernformen in allen Variationen ermöglichen möchte, soll ihre Wirkkraft bei sich selbst erfahren können: Kann ich selbst noch staunen? Wie finde ich mein Thema? Helfen mir Studienportfolios und Lernjournale, meine Lernspuren zu rekonstruieren?“ (Hagstedt 2011, S. 5 ff.)

Offiziell wurde für diese reformorientierte Lernwerkstatt damals die Benennung „Pädagogisches Labor“ gewählt, um die Forschungsaktivitäten im Didaktikbereich innerhalb des hochschulinternen Diskurses besser darstellen zu können. Für die Wahrnehmung nach außen und die Gewinnung von schulischen Kooperationspartnern wurde dann der Begriff „Grundschulwerkstatt“ hinzugefügt. Dieser Begriff „Grundschulwerkstatt“ setzte sich bald schon im Kontext anstehender Schulentwicklungsaufgaben mit dem Ziel einer inneren Schulreform durch und war vor allem mit zwei Assoziationen verknüpft:

 „Schule kann und sollte es sich leisten, ihre institutionellen Möglichkeitsräume von Zeit zu Zeit neu zu justieren: Sie braucht einen Ort, und sei es eben an einer Hochschule, wo sie eine kritische Instanz findet, um z.B. in die Jahre gekommene Schulprogramme auf den Prüfstand stellen zu können oder mit externen Kooperationspartnern an neuen Profilbausteinen zu arbeiten (´Schule in der Werkstatt´).

 Schule kann und sollte sich eine eigene Entwicklungsabteilung für schulorganisatorische und didaktische Innovationen zulegen. Sie braucht vor Ort – für das Kollegium wie für die Schülerinnen und Schüler – experimentelle Spielräume und Gelegenheiten zum Probe-Handeln in geschützten Zonen (´Werkstatt in der Schule´)“ (ebd., S. 8).

Auch in den 1990er Jahren erfuhr die Lernwerkstattbewegung Ausbreitung. Dies nicht zuletzt durch die Veröffentlichung internationaler Vergleichsstudien und den daraus abgeleiteten Herausforderungen für Schule, Aus- und Fortbildung. Nicht unkritisch formulierte Hagstedt 1998: „[…] Die Lernwerkstätten […] sind als neue Hoffnungsträger entdeckt worden: zuerst von den Reformkräften der Grundschulen, dann von der Lehrmittelindustrie und jetzt auch von Schulaufsicht und staatlicher Fortbildung“ (Hagstedt 1998, S. 49).

Anhand des Lernwerkstattportraits des Grundschulpädagogischen Arbeitsbereichs (GPA) der PH Heidelberg zeigt Müller-Naendrup in den 1990er Jahren in ihrer Forschungsarbeit die spezifischen Verflechtungen von Lehre & Studium, Forschung und Schulpraxis auf. Die verschiedenen Wirkungsfelder und Beiträge von Lernwerkstätten an Hochschulen verweisen auf ihr Potential und ihre Bedeutung für Innovations- und Reformprozesse. In komplementärer Weise tragen Lernwerkstätten zu einer zukunftsorientierten Lehrerbildung bei und unterstützen damit gleichermaßen die innere Schulreform. Lernwerkstätten geben Raum, Zeit und Anlass für Kooperation und Kommunikation. Dadurch wird Schulpraxis neu gedacht, gestaltet und weiterentwickelt (vgl. Müller-Naendrup 1997, S. 320; vgl. Pallasch & Reimers 1990, S. 115).

Lernwerkstätten spielen als „Raum für Probehandeln“ bis heute eine große Rolle, was die momentane zahlreiche Entstehung von Lernwerkstätten an Schulen unterstreicht. In diesem Begründungszusammenhang „Lernwerkstätten als Ort, aktuellen pädagogischen Herausforderungen gerecht zu werden“ sind die Lernwerkstätten an Schulen zu verstehen. Der Aufbau von Lernwerkstätten an Schulen ist demzufolge generell im engen Kontext mit den Reformbestrebungen der Schulpraxis zu sehen.

Anzufügen ist, dass auch das Konzept Lernwerkstatt an Schulen seine Wurzeln im Kontext der Entstehungsgeschichte von Hochschullernwerkstätten hat. Auf Initiative der New Yorker Hochschullehrerin Lillian Weber (Workshop Center, New York) wurde Ende der 1960er Jahre ein Projekt zur Schulentwicklung gestartet, das weder durch die Schulaufsicht noch durch kollegiumsinterne Prozesse in Gang gebracht wurde. Inspiriert durch einen Forschungsaufenthalt in England, verändert sie danach das Praxisjahr der Absolvent*innen gravierend, indem diese nicht mehr in Klassen eingesetzt werden und somit in Versuchung kommen, konventionellen Unterricht zu übernehmen. Diese Student Teachers wurden somit auf den Korridoren der amerikanischen Grundschulen als Corridor-Teacher eingesetzt. Drei Mal die Woche wurden auf den Korridoren Experimentiertische, Bauteppiche, Konstruktionsmaterial etc. aufgebaut und Kinder der Klassen konnten dort freiwillig an diesen Aktivitäten teilnehmen. Die Student Teachers begleiteten dieses entdeckende Lernen der Kinder, den Klassenlehrer*innen war somit die Möglichkeit gegeben, die Kinder aus einer weiteren Perspektive wahrzunehmen und gleichzeitig das Lernen in Workshops kennen zu lernen (vgl. Hagstedt o.J., S. 8 f.). „Das Forschungsprojekt Kind aber, das wurde immer wieder deutlich, verträgt keine punktuellen, auf wenige Stunden befristeten Unterrichtsepisoden. Für Langzeitbeobachtungen, für das Studium von Entwicklungsverläufen, für die didaktische Erprobung mit stabilen Lerngruppen sind die Möglichkeiten einer hochschulinternen Lernwerkstatt begrenzt. Der Standortvorteil einer schuleigenen Werkstatt ergibt sich deshalb schon allein aus der wesentlich höheren Nutzerkontinuität“ (Hagstedt o.J., S. 5).

 

Zunächst an Hochschulen angesiedelt, etablierten sich Lernwerkstätten im Kontext von Reformmaßnahmen auch an Schulen.

Die Weiterentwicklung der „historischen Hochschullernwerkstätten“ bis zur Gegenwart wird an dieser Stelle abschließend durch die drei Formen von heutigen Hochschullernwerkstätten beschrieben, welche Franz (2012) innerhalb ihrer Forschungsarbeit als sogenannte „Prototypen“ der Hochschullernwerkstätten (Franz 2012, S. 18) folgendermaßen voneinander abgrenzt: „Zum einen gibt es Lernwerkstätten, die einem Modell folgen, welches mit „Erwachsene lernen zu lernen wie Kinder“ zu umschreiben wäre. Die Adressaten dieser Lernwerkstätten sind Erwachsene – Studierende, Referendar*innen, Lehrer*innen. Als Beispiel hierfür sei die Grundschulwerkstatt der Humboldt-Universität in Berlin angeführt. Andere Lernwerkstätten, wie beispielsweise die Regionalen Didaktischen Zentren der PH Sankt Gallen, bieten primär attraktive Dienstleistungen an, indem sie Lehrer*innen mit ihren Schulklassen zu attraktiven Workshops einladen und dann in einem zweiten Schritt auf die Effekte der Beobachtung der eigenen Schüler*innen bauen, wie es die Lernwerkstatt in Kassel praktiziert. Eine dritte Gruppe von Lernwerkstätten setzt auf die ebenfalls in Kassel vorgelebte Produktion von Unterrichtsmaterial, welches in der Lernwerkstatt entliehen werden kann. Hier sei als Beispiel die Lernwerkstatt RÖSA in Oldenburg genannt“ (Franz 2012, S. 18 f., Herv.i.O.).6

Die Gemeinsamkeit der reformorientierten Einrichtungen besteht darin, „über neue Konzepte und Lernorte der Lehreraus- und –fortbildung die Lehrer als Schlüsselfiguren im Reformprozeß in ihrer Arbeit zu unterstützen und an der schulischen Weiterentwicklung zu beteiligen. […] Es geht nicht um die bloße Übernahme von ´Unterrichts-Rezepten´, sondern um aktive, selbständige Teilnahme an […] Workshops. […] Ziel aller Einrichtungen ist es, eine Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen“ (Müller-Naendrup 1997, S. 106, Herv.i.O.).