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Gundolf S. Freyermuth & Lisa Gotto (Hg.)

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Visualität in der digitalen Medienkultur

FUEGO

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht auf Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung von Fuego oder den Autoren in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2012 by Gundolf S. Freyermuth & Lisa Gotto

www.bildundbit.com

Die Druckausgabe ist erschienen imm

transcript Verlag

ISBN 978-3-8376-2182-2

Für die vorliegende ePub-Edition

© 2016 FUEGO

www.fuego.de

eISBN 978-3-86287-126-1

Alle Rechte vorbehalten!

v_1.0

Editorial

Die interdisziplinäre Reihe Bild und Bit versammelt Positionen zu einem neuen Forschungsfeld: den medientheoretischen und medienästhetischen Konsequenzen digitaler Produktion, Distribution und Rezeption audiovisueller Werke. Im Zentrum des Interesses stehen dabei zwei Prozesse, die den aktuellen Medienwandel dominieren: einerseits die Ausbildung neuer nonlinearer (oder zumindest nicht-so-linearer) Formen audiovisueller Narration, wie sie sich vor allem in Computer- oder Videospielen vollzieht, andererseits die parallele digitale Transformation linearen audiovisuellen Erzählens, insbesondere in den Bereichen Spielfilm und Fernsehserie. Gerade in ihrem spannungsreichen Mit-, Gegen- und Zueinander prägen beide Prozesse den epochalen Übergang von industrieller zu digitaler Medienkultur. Kulturelle Formen werden dabei nicht nur dar-, sondern überhaupt erst hergestellt - in einem komplexen Wechselspiel technologischer und sozialer, ästhetischer und epistemologischer Faktoren.

Neben dem ästhetischen Wandel audiovisuellen Erzählens umfasst das inhaltliche Spektrum der Reihe die konstitutive Beteiligung digitaler Medienkultur an der Herausbildung neuer künstlerischer Formen und Praxen. Wichtige Themen sind u.a. Fragen der Autorenschaft, die sich aus der Demokratisierung der audiovisuellen Produktionsmittel und Distributionsmöglichkeiten ergeben, die Audiovisualisierung nonfiktionalen Wissenstransfers, medientechnologische Innovation sowie die medienästhetisch instruktive Eskalation von Inter- und Transmedialität.

Der skizzierte Wandel kulminiert gegenwärtig in der Emergenz einer historisch neuen Medienkultur, die in nahezu allen Bereichen audiovisueller Produktion die Reevaluierung etablierter Praktiken und medientechnische wie medienästhetische Neuorientierung einleitet. Die schwierige Aufgabe, diesen tiefgreifenden Wandel audiovisueller Kultur gewissermaßen in statu nascendi zu begreifen, kann und soll wesentlich durch die Verbindung wissenschaftlicher und künstlerischer Perspektiven und Forschungsergebnisse gelingen.

Die Reihe wird herausgegeben von Gundolf S. Freyermuth und Lisa Gotto.

Inhalt

Vorwort

Gundolf S. Freyermuth und Lisa Gotto

Bild und Bit: Umbruch

Sich ein Bild machen oder »Im Bilde sein«

Jochen Hörisch

Die »Rückkehr« der 3D-Bilder

Thomas Elsaesser

Stehendes Bild: Statische Visualität

Der Beweis, das Schweigen, der Gebrauch und der Tod

Jörn Glasenapp

»Being There!«

Wolfgang Hagen

Bewegtes Bild: Dynamische Visualität

Weiß werden

Lisa Gotto

Bildlichkeit und Televisualität

Angela Keppler

Augen im Fenster

Stefan Münker

Zur Chemie des Bildes

Lorenz Engell

Virtuelles Bild: Interaktive Visualität

Uncharted

Thomas Hensel

Die All-Null

Ulrike Bergermann

Bit und Bild: Aufbruch

Symbiosis yet?

Frank Hartmann

Der Big Bang digitaler Bildlichkeit

Gundolf S. Freyermuth

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Gundolf S. Freyermuth und Lisa Gotto

Wir sind Zeitgenossen des epochalen Übergangs von der industriellen zur digitalen Kultur. Neue Medien entstehen, aber sie entstehen nicht aus dem Nichts. Sie bilden sich allmählich aus, in einem komplexen Wechselspiel von technologischen und sozialen, ästhetischen und epistemologischen Faktoren. Auch die älteren Medien bleiben dabei nicht, was und wie sie einmal waren. Im frühen 20. Jahrhundert veränderte der Film alle anderen Künste, von der Malerei über die Musik bis zur Literatur. Nun, im frühen 21. Jahrhundert, wandeln sich die älteren industriellen Bildmedien – neben dem Film auch Fotografie und Fernsehen – unter dem Einfluss neuer digitaler Ausdrucks- und Erzählformen, insbesondere digitaler Spiele. In nahezu allen Bereichen audiovisueller Produktion lässt sich die Reevaluierung etablierter Praktiken und medientechnische wie medienästhetische Neuorientierung beobachten. »Bildwerte«, der erste Band in der neuen Schriftenreihe »Bild und Bit«, reflektiert, gegliedert in fünf Schritte, diesen Prozess der Digitalisierung aus einer Vielzahl medienhistorischer und medientheoretischer Perspektiven.

Im ersten Abschnitt wird eine Bestimmung der Veränderungen unternommen, denen die visuelle Kultur im Übergang von analogen zu digitalen Medienpraxen unterliegt (I Bild und Bit: Umbruch).

Einleitend reflektiert Jochen Hörisch die technische Überwindung des »altehrwürdigen Binarismus von Sprache und Bildern«1: Wenn unter analogen Bedingungen Hören und Sehen, so nah sie einander waren, auf Grund ihrer medientechnologischen Trennung nicht zusammenkommen konnten, was sind dann die kulturellen Konsequenzen der digitalen Aufhebung eben dieser analoger Medientrennung, die nicht zuletzt auch über die Jahrhunderte philosophisches Denken fundierte? (»Sich ein Bild machen oder ›Im Bilde sein‹. Die guten alten Bilder und die digitale Bildrevolution«)

Thomas Elsaessers Beitrag demonstriert, nicht zuletzt im Rückblick auf die jahrhundertelange (Vor-) Geschichte stereoskopischer Bildlichkeit und vor allem die vielfältige Opposition zum monokularen Bild in der Bildenden Kunst und den Filmavantgarden des 20. Jahrhunderts, digitales 3D als Element eines umfassenderen Wandels – als »nur eine von mehreren neuen Offensiven, die bestimmen, wie wir uns zukünftig in simultanen Räumen, in multiplen Temporalitäten sowie datenintensiven simulierten Umgebungen verorten«2 (»Die ›Rückkehr‹ der 3D-Bilder. Zur Logik und Genealogie des Bildes im 21. Jahrhundert«).

Der zweite Abschnitt befasst sich dann mit diskursiven und technologischen Änderungen der Fotografie im Übergang von analoger zu digitaler Bilderzeugung (II Stehendes Bild: Statische Visualität).

Jörn Glasenapp wirft einen Blick zurück auf die fotografische Theorie-Debatte und stellt dabei jene Bestimmungsversuche vor, die »die Fotografie gegenüber den anderen Bildformen als distinkt ausweisen«.3 Seine Ausführungen zeigen, dass der Status der Fotografie ontologisch weder eindeutig noch stabil ist, sondern kontinuierlicher Aushandlung unterliegt (»Der Beweis, das Schweigen, der Gebrauch und der Tod. Vier Streifzüge durch die Fototheorie«).

Die in der Materialität begründete Eigenart des fotografischen Bildes wird durch seine digitale Erzeugung radikal revidiert. Wolfgang Hagen setzt sich mit diesem kategorialen Wechsel auseinander, um entlang einer Betrachtung der Smartphone-Fotografie die Spezifik des digitalen Bildermachens als ästhetische Praxis und mediale Wissensform zu diskutieren (»Being There! Epistemologische Skizzen zur Smartphone-Fotografie«). Deutlich wird dabei, dass die »kulturellen Verschiebungen und sozietalen Repositionierungen des Fotografierens und des Fotografierten«4 nicht nur alte Blickverschränkungen hinterfragen, sondern auch neue Erkenntnisprozesse in Gang setzen.

 

Im Mittelpunkt des dritten Abschnitts steht die Auseinandersetzung mit Umbildungen, denen die tradierten Bewegtbildmedien im Zeitalter des Digitalen einerseits unterliegen und die sie andererseits selbst hervorbringen (III Bewegtes Bild: Dynamische Visualität).

Lisa Gotto betrachtet das filmische Schneebild als eine kinematographische Reflexionsform, in der sich Gestaltbildung und Gestaltauflösung verschränken. »Wenn der Film sich ins Weiß begibt, dann beschäftigt er sich mit seiner eigenen Medialität«5: Er kann durch den Rückgriff auf seine materiellen und ästhetischen Grundlagen nicht nur die Veränderungen seiner dispositiven Verfasstheit erkennen, sondern durch die Auseinandersetzung mit anderen Medien auch sich selbst neu begreifen (»Weiß werden. Filmische Schneebilder«).

Angela Kepplers Beitrag befasst sich mit der medialen Spezifik des Fernsehens. Er untersucht »die besondere Form des Bildlichen und zugleich die besondere Form einer Ästhetik des Bildes, die dieses Medium erzeugt«6. Vom statischen Bild über die filmische Bildbewegung bis zu send- und schaltbaren Bildern entwickeln sich nicht nur je eigene Prozeduren und Praxen der Bildgenerierung, sondern auch neue Möglichkeiten der Dynamisierung von Bildräumen (»Bildlichkeit und Televisualität«).

Mit den durch die Digitalisierung eingeleiteten Veränderungen der televisuellen Bildproduktion, -distribution und –rezeption setzt sich Stefan Münker auseinander. Er stellt fest, dass die Integration von kommunikativen und ästhetischen Praktiken der Internet-Kultur »zu einer Rekonfiguration der dem Fernsehen eigenen Medialität im Medium Fernsehen selbst führt«7 – zu einer Neuausrichtung, die durch intermediale Verflechtungsverfahren gekennzeichnet ist (»Augen im Fenster. Elemente der intermedialen Rekonfiguration des Fernsehens im Kontext digitaler Öffentlichkeiten«).

Lorenz Engell diskutiert das Entstehen von Neuem aus dem Bekannten über die Serienform und die Serienformate des Fernsehens. Er geht davon aus, »dass Fernsehserien zumindest in gewissen Fällen Neues nicht nur emergieren lassen, sondern diese Produktion des Neuen zugleich beobachten, erkunden, der Variation aussetzen und sie sogar reflektieren können«.8 Am Beispiel der Serie Breaking Bad zeigt er, welche Funktion dem televisuellen Bild nicht nur als Träger oder Vermittler, sondern auch und vor allem als Bewusstseinsform des Wandlungsprozesses zukommt (»Zur Chemie des Bildes. Bemerkungen über Breaking Bad«).

Der vierte Abschnitt analysiert den Umstand, dass mit der Software-Werdung der Bilder ihre Rezeption von mehr oder minder passiver Wahrnehmung zu aktiver Nutzung fortschreiten kann, zu bewusster Steuerung oder gar Modifikation (IV Virtuelles Bild: Interaktive Visualität).

Thomas Hensels Beitrag untersucht die – in der bisherigen Forschung vernachlässigte – Bildlichkeit digitaler Spiele. Über die Interpretation doppelter Bildakte in Uncharted und einer Vielzahl weiterer Games gelingt es ihm, Ikonizität neben Narrativität und Ludizität als drittes konstituierendes Merkmal von Computerspielen zu begründen und damit sie selbst als »ein künstlerisches Bildmedium, das seine eigene Bildlichkeit ausstellt und reflektiert«9 (»Uncharted. Überlegungen zur Bildlichkeit des Computerspiels«).

Interaktiv und in Echtzeit generiert werden auch die Computerbilder, die Google Earth bietet. Ulrike Bergermann rekonstruiert die neuzeitliche Bildgeschichte des Horizonts, als deren Erbe sie Google Earth begreift. Indem sie beschreibt, wie der »Fluchtpunkt der Perspektivkonstruktion [...], der auf der Horizontlinie sitzt, [...] mit dem digitalen Weltbild in Bewegung (gerät)«10, zeigt sie eine erneute Rekonfiguration des Verhältnisses von Ästhetischem und Dokumentarischem auf, das Entstehen eines »multiplen digitalen Dokumentarismus«11 (»Die All-Null. Vorgeschichten des digitalen Horizonts bei Google Earth«).

Im fünften Teil werden aus der Kenntnis des gegenwärtigen Wandels medientheoretische wie medienpraktische Perspektiven auf die Zukunft digitaler Visualität entworfen (V Bit und Bild: Aufbruch).

Ausgehend von der »Verknüpfung von Bild (Visualität) und Bit (Information) im zwanzigsten Jahrhundert«12 verfolgt Frank Hartmann das Verhältnis des Menschen und seines Körpers zu den in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten Interfaces digitaler Maschinen. Dabei erkennt er eine Relation zwischen der Unsichtbarkeit digitaler Prozesse und ihrer zunehmenden Visualisierung in den Praktiken der Interaktion und befürwortet in der Konsequenz »eine zur Ästhesiologie gewendete Interface-Theorie, die Begriffsarbeit hinsichtlich piktographischer Zuwendungsweisen zur Technik leistet«13 (»Symbiosis yet? Koevolution der Grenzfläche Mensch/Medium«).

Mit Blick auf die gegenwärtige Dekonstruktion des analogen, in medialer Separation konstituierten 2D-Bildraums durch 3D- und Touch-Technologien skizziert Gundolf S. Freyermuth die Emergenz eines digitalen, auf Fusion basierenden Mediendispositivs. Zu dessen zentralen Elementen zählt er zum einen medientechnisch 2D- und 3D-Hyperrealismus, Multi- und Nonlinearität sowie durch Graphical und Natural User Interfaces (GUI / NUI) gesteuerte Interaktion, zum zweiten medienästhetisch Transmedialität, mediale Augmentierung des Realen und Steigerung von Immersion. Abschließend stellt sich ihm die doppelte Frage nach der divergierenden Weiterentwicklung linearer und nonlinearer Audiovisualität (»Der Big Bang digitaler Bildlichkeit. Zehn Thesen und zwei Fragen«).

Das Konzept des vorliegenden Bandes geht zurück auf die im Wintersemester 2010/11 an der ifs internationale filmschule köln durchgeführte Ringvorlesung »Bild und Bit«, deren inhaltliche Ausrichtung für dieses Buch erheblich erweitert wurde. Wir danken unseren Autoren für ihre Vortrags- und Textarbeit, der Geschäftsführerin der ifs Simone Stewens für die Unterstützung und Förderung des Projekts von der Vortragsreihe bis zur Publikation, den Studierenden der Jahrgänge Film-D und Film-E, Editing Bild und Ton-A und Kamera-A für ihre Fragen und Anregungen sowie unseren studentischen Mitarbeitern Lino Rettinger und Fabian Wallenfels für ihren Einsatz bei der Erstellung der Vorlage für die Druckausgabe. Diese E-Book-Ausgabe wurde von Leon S. Freyermuth und Utz Stauder besorgt.

Weitere Informationen zu diesem Band und der Schriftenreihe »Bild und Bit. Studien zur digitalen Medienkultur« finden sich unter www.bildundbit.de.

1 In diesem Band S. 20 (in der Druckausgabe).

2 S. 38 (in der Druckausgabe).

3 S. 73 (in der Druckausgabe).

4 S. 106 (in der Druckausgabe).

5 S. 136 (in der Druckausgabe).

6 S. 167 (in der Druckausgabe).

7 S. 189 (in der Druckausgabe).

8 S. 196 (in der Druckausgabe).

9 S. 215 (in der Druckausgabe).

10 S. 242 (in der Druckausgabe).

11 S. 251 (in der Druckausgabe).

12 S. 259 (in der Druckausgabe).

13 S. 282 (in der Druckausgabe).

Bild und Bit: Umbruch

Sich ein Bild machen oder »Im Bilde sein«

Die guten alten Bilder und die digitale Bildrevolution

Jochen Hörisch

Es gibt irritierend viele Redewendungen um das deutsche Four-Letter-Word »Bild«. Schon die geläufige Formel »im Bilde sein« (ich bin, wir sind im Bilde) ist hintersinnig. Besagt sie doch zumindest zweierlei: dass wir erstens glauben, uns ein angemessenes Bild der Lage gemacht zu haben, und dass wir, die wir uns ein Bild machen, zweitens selbst Element eines Bildes sind, das andere sich gemacht haben. Wer auch nur elementar gebildet ist, ist sich im Zeitalter des Konstruktivismus bewusst, dass es eine falsche Einbildung wäre (schon deshalb, weil Einbildungen per se jenseits der Wahr-Falsch-Unterscheidung prozedieren), zu glauben, es könne ein objektives Bild der Lage geben. Man muss nicht Magrittes Gemälde Ceci n'est pas une pipe oder Der Verrat der Bilder vor Augen haben, um zu begreifen, dass ein Bild nun eben ein Bild ist und dass es einen Unterschied macht, ob man ein materiales Bild (Öl auf Leinwand etc.) vor Augen hat oder ob man das Bild meint, das man sich imaginiert und das andere sich von uns machen. An subtilen bildlichen Manifestationen des Problems und an theoriegeleiteten Reflexionen zur Frage »Was ist ein Bild?« herrscht kein Mangel. Epochale Bilder wie die Hoffräulein (Las meninas) von Velazquez, die Gesandten von Holbein, zahlreiche Bild-im-Bild-Bilder (etwa Atelierszenen oder Gemälde von Bildbetrachtern in Ausstellungen), aber auch Filme wie The Draughtman's Contract von Peter Greenaway beziehen ihren spezifischen Reiz aus den Verweisungsverweisungsstrukturen ihrer Blicklenkung, die kein sicheres Letztfundament für Letztbeobachtungspositionen wahrzunehmen erlauben. Wir sind im Bilde, wenn wir wahrnehmen, dass sich andere ein Bild davon machen, wie wir uns ein Bild (von ihnen) machen.

Es gibt ein 1951 entstandenes und seit 1962 in der Kunsthalle Mannheim ausgestelltes Bild von Francis Bacon (1909-1992), das den Titel Schreiender Papst trägt (Öl auf Leinwand, 198x137 cm). Es verweist deutlich auf andere berühmte Bilder wie den Schrei von Edvard Munch oder das Porträt des Papstes Innozenz X, das Velazquez 1665 malte. Aufmerksamkeit verdient und erhält Bacons Gemälde, zu dem er Dutzende von Varianten malte, stets erneut, weil es im klassischen Medium der Malerei eindringlich vor Augen führt, wie es um die Logik von Bildern und Weltbildern steht bzw. eben nicht steht. Denn Francis Bacon rückt einen Papst ins Bild um den sich alles dreht und der selbst von einem Drehschwindel erfasst ist. Bacons Papst sitzt auf einem stabilen Thron in einem Glaskasten. Mit seiner linken Hand klammert er sich am Knauf der Armlehne fest; offenbar bedarf er des Halts. Seine rechte Hand sucht tiefer als die linke an der Verstrebung der rechten Lehne Zuflucht. Der Mann, der doch der Fels ist, auf dem die Kirche ruhen soll, steht seinerseits nicht auf festem Fundament. Seine Füße schweben über dem Grund bzw. dem Abgrund, so dass sein Körper eigentümlich gestaucht erscheint. Der stabil scheinende Thron, auf dem er sitzt, ist, wenn der Betrachter recht im Bilde ist, in vielfacher Hinsicht labil und fragil. Denn er schwebt über dem Boden auf einem gläsernen Sockel, und er wird durch eine kühne runde Linie durchschnitten, die in eigentümlichem Kontrast zu den ansonsten geraden und eckig zueinander konfigurierten Linien steht – so wird aus dem Thron ein Gebilde, das einem Schaukelstuhl ähnelt. Auf diesem nun sitzt der Papst, von dem es in den berühmten Worten des Matthäusevangeliums heißt, dass Jesus ihm für die Zeit seiner irdischen Abwesenheit das Stellvertreteramt und die Kirchenleitung anvertraut hat.

 

Abbildung 1: Francis Bacon: Schreiender Papst 1951


Quelle: Kunsthalle Mannheim

Mit den Jesusworten an Petrus, den ersten Papst, hat es eine eigentümliche Bewandtnis. Denn sie sind offenbar nur an diese eine Person und nicht an eine lange Namensliste möglicher Stellvertreter des ersten Stellvertreters des Gottessohnes = Gottesstellvertreters auf Erden gerichtet, an ein Individuum, mit dessen Eigennamen Jesus Christus ironisch spielt: Petrus Simon. »Ich aber sage dir: Du bist Petrus und auf diesen Felsen (griech. petra) werde ich meine Kirche (ecclesia) bauen und die Mächte (pulae, wörtlich Tore) der Unterwelt (hades) werden sie nicht überwältigen.« (Mt 16,18) Der Gottessohn erlaubt sich, wenn er seinen Stellvertreter auf Erden einsetzt, einen erhabenen Kalauer bzw. ein abgründiges Namensspiel. Der Fels, auf dem die Kirche ruht, ruht seinerseits auf einem heiklen Eigennamen, also einem Namen, der seinem Namen wenig Ehre macht – benennen sich die Benannten doch eben nicht selbst aus eigener Macht und Souveränität, ist der Taufakt, der Akt der Namensverleihung doch eine Urszene semantischer Fremdbestimmung. Bacon hat sich die Pointe nicht entgehen lassen, den Inhaber des Petrusamtes auf schwankendem Boden, über den Mächten der Unterwelt schwebend und schaukelnd darzustellen. Sein Papst schreit auch deshalb, weil er, der Fels, in diesen Abgrund zu stürzen droht.

Die Worte, mit denen nach katholischer Lehre das Amt des Papstes gestiftet wird, stammen aus dem Munde eines Menschen, der im Bilde ist, der durchblickt, weil er eben nicht nur Normalsterblicher, sondern zugleich Gottessohn ist, der bald sterben, aber eben auch aus dem Reich des Todes und der Unterwelt wieder auferstehen wird. Unabsehbar viele Bilder werden den lebenden, sterbenden, gekreuzigten und wieder auferstandenen Jesus Christus darstellen. Aus dem, der im Bilde ist, wird somit einer, der gleichfalls im Bilde ist – nämlich von anderen beobachtet wird. Sein Stellvertreter auf Erden, so wie Francis Bacon ihn ins Bild gebracht hat, ist sich dieser und weiterer Paradoxien bewusst. Weil er im Bilde ist, schreit er. Er, der nach Gottvater, Gottessohn, Heiligem Geist und erstem Papst Nachrangige ist nicht etwa aufgrund dieser seiner Nachrangigkeit narzisstisch gekränkt, sondern fundamentaltheologisch und bildstrukturell verwirrt. Er stellt im Glashaus sitzend und durch Brillengläser schauend fest, dass er, der Fromme, frevelt, wenn er den Letztbeobachter Gott, der universell im Bilde ist, seinerseits beobachtet. Unterhalb dieses Paradoxieniveaus ist Theologie nicht zu haben. Den schreienden Papst überkommt offenbar die bange Ahnung, dass diese Paradoxie nicht die einzige ist, die den göttlichen Letztbeobachter trifft und betrifft. Ob der allmächtige Gott auch so wie der Stellvertreter seines Sohnes ins Reich des Todes versinken kann? Wäre es nicht eigenartig, wenn sterbliche Menschen etwas vermögen, was dem allmächtigen Gott versagt ist – eben sterben zu können? Sollte das Geheimnis des Glaubens an Jesus Christus darin liegen, einen gestorbenen und eben deshalb allmächtigen Gott(-essohn) zu beglaubigen? Francis Bacons Papst hat viele Gründe zu schreien – auch darüber, dass ein Bild mehr (und eben zugleich auch deutlich weniger!) sagt als tausend Worte.

Gemälde schweigen, auch wenn sie geöffnete Münder zeigen, aus denen sich Schreie und Flüstertöne, kluge und dumme, liebevolle und aggressive Äußerungen ergießen würden, wenn denn ein Gemälde sprachfähig wäre. Gesprochenes kann man nicht sehen; selbst wer sich auf die Kunst versteht, Laute von den Lippen abzulesen, sieht eben sich bewegende Lippen, nicht aber den Sinn, den sie artikulieren. Es gibt ein altes Theologumenon, demzufolge sich zeigt bzw. offenbart, was sich nicht sagen lässt. Mit der Tradition des Bilderverbots, wie es die jüdische, christliche und islamische Religion in unterschiedlichen Ausprägungen kennt, liegt dieses Theologumenon in einem latenten Konflikt. Wir sollen uns kein Bildnis von Gott machen, denn mit dem von uns verfertigten Bildnis würden wir dem blendenden Schein erliegen, über Gott, den Abgebildeten zu verfügen. Gott kann sich zeigen und offenbaren, wir aber können ihn nicht angemessen darstellen und schon gar nicht über ihn bestimmen. Dieses Motiv hat noch in Kreisen der analytischen Philosophie Autorität. Heißt es doch in Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus in ergreifender Schlichtheit: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.« (6.522)1 Das Mystische, Mysteriöse, Geheimnisvolle gehört der visuellen Sphäre zu. Es wird entschleiert, es soll sich als nackte Wahrheit offenbaren, es bedarf der Enthüllung, es kann in Evidenz übergehen, es kann aber auch blenden und blind machen – zu viel Offenbarung, zu viel strahlende Illumination vertragen wir offenbar nicht. Es sei denn, wir halten dem Gewicht von Sein und Zeit sprachlich stand. Dann bewegen wir uns aber nicht mehr in der visuellen Sphäre der Bilder, sondern in der Sprache. Das Rätsel ist im Medium der Sprache, was das Geheimnis im Medium der Bilder ist. Wem es gelingt, das Enigma zu lösen und den rätselhaften Code zu dechiffrieren, wem das Losungswort über die Lippen kommt, hat das Rätsel des Sinns gelöst und muss doch feststellen, dass das Mysterium des Seins bleibt. Das gilt vice versa auch für den Enthüller des Mysteriums: er sieht, was der Fall ist, ist also im Bilde, ohne damit schon den Sinn dessen entschlüsselt zu haben, was sich ihm darbietet. Er sieht und durchschaut alles, ihm offenbart sich das Geheimnis, und dennoch oder eben deshalb bleibt alles rätselhaft. Rätsel und Geheimnis können so wenig zueinander kommen wie die beiden Königskinder – und wie Bilder und Sprache. Und doch sind sie einander ganz nahe.

»Ein a priori wahres Bild gibt es nicht.« (2.225)2 Aber es gibt diesen Satz, der offenbar wahr sein soll und der davon zeugt, dass sich ein kluger Kopf wie Wittgenstein ein Bild der Lage hat machen können. Die überlange Epoche der Medientechnologie, in der Sprache und Bilder, Kommunikation und Wahrnehmung, Enigma und Mysterium einfach deshalb unterschiedlichen Sphären zugehörten, weil Leinwand und Schreibpapier, Pinsel und Kreide, Fotoapparat und Wachswalze leicht zu unterscheiden waren, war die Epoche der Metaphysik und der Ontotheologie – mit Heidegger zu formulieren: die Zeit des Weltbildes. Metaphysik hieß immer auch, davon auszugehen, dass hinter der Physis noch etwas anderes als die Physis west; dass soma und sema zusammengehören, weil sie getrennt sind; dass das Seiende, das Ontische, vom Logos des göttlichen Seins (Onto-Theologie) gelassen wird. Für diese Denkmodelle, die ohne Medienmodellierungen undenkbar wären, gibt es ein schönes Denkbild, das in Francis Bacons Gemälde Schreiender Papst hineinspielt. Danach gehören das verhüllende Textil und der enträtselnde Text nicht nur etymologisch zusammen. Text/il/e ent- und verbergen. Der schreiende Papst artikuliert unförmig, er schreit eben, und er trägt ein unförmiges Textil, das Falten wirft.

Die Natur ist stumm, weil sie trauert. Und sie trauert ob ihrer Stummheit. Ein Circulus vitiosus, der Anlass zu einem Schrei gibt. Der Himmel schweigt, über allen Gipfeln ist Ruh. Bildende Kunst schweigt ihrerseits, aber das Pathos ihres Gelingens ist es, das Schweigen dessen, was im Bilde ist, zum Schweigen zu bringen. Der Letztsinn lässt sich weder wahrnehmen noch vernehmen – aber genau das lässt sich wahrnehmen und aussagen. Das weiß auch Lenz in Büchners Erzählung, die auffällig-unauffällig die Verben »sehen« und »hören« in eine spannungsreiche Konstellation bringt.

»Gegen Abend wurde Oberlin zu einem Kranken nach Bellefosse gerufen. Es war gelindes Wetter und Mondschein. Auf dem Rückweg begegnete ihm Lenz. Er schien ganz vernünftig und sprach ruhig und freundlich mit Oberlin. Der bat ihn, nicht zu weit zu gehen; er versprach's. Im Weggeh'n wandte er sich plötzlich um und trat wieder ganz nahe zu Oberlin und sagte rasch: ›Sehn' (!) Sie, Herr Pfarrer, wenn ich das nur nicht mehr hören (!) müsste, mir wäre geholfen.‹ – ›Was denn, mein Lieber?‹ – ›Hören Sie denn nichts? Hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich die Stille heißt? Seit ich in dem stillen Tal bin, hör' ich's immer, es lässt mich nicht schlafen; ja, Herr Pfarrer, wenn ich wieder einmal schlafen könnte!‹ Er ging dann kopfschüttelnd weiter.«3

»Zu weit gehen« und »versprechen« sind bekanntlich (wie »im Bilde sein«) doppelsinnige Wendungen. Die Begegnungen von sehen und hören, von bildender Kunst und Sprache, von Wahrnehmung und Kommunikation sind ohne Paradoxien nicht zu haben. Wer glaubt beide Sphären zur Deckung bringen zu können geht zu weit und verspricht sich, wenn er ein verlässlich glückendes Rendezvous verspricht. Die hier angedeuteten Reflexionen über die Probleme, die das Verlangen, im Bilde zu sein und davon sprachlich Rechenschaft ablegen zu können, mit sich bringt, haben nun aber einen medientechnologischen Hintergrund, der sich in den letzten zwei Jahrzehnten dramatisch verschoben hat. Und zwar eben deshalb, weil sich die spannungsreiche Konstellation von Bildern und Aussagen bemerkenswert entdramatisiert hat. Digitale Medientechnologie zu implementieren heißt paradoxerweise eben zuallererst, den altehrwürdigen Binarismus von Sprache und Bildern, von Kommunikation und Wahrnehmung zu überwinden. Dieselben digitalen Rechenknechte, die von der Kultur- und Medienkritik plausibel verdächtigt werden, sich zu Herren aufzuschwingen, speichern, übertragen und bearbeiten gleichermaßen Zahlen, Lettern und die Pixel, aus denen die neuen Bilder sind. Man kann sich die damit freundlich einhergehende Medienrevolution nicht kindlich staunend genug vor Augen führen. Wer einen Menschen mit einem Pinsel in der Hand vor einer Staffelei sah, wusste medienapriorisch: hier wird ein Bild gemacht. Wer einen Menschen mit einem Griffel, einer Feder, einem Bleistift oder einem Stück Kreide vor einem Pergament, einem Papier oder einer Tafel sah, lag zumeist nicht falsch mit der Vermutung: hier entsteht ein Text. Und wer jemanden vor einem Abakus oder einem Rechenschieber sah, dem war klar: hier wird gerechnet. Reizvolle Ausnahmen bestätigten die Regel – natürlich war es verführerisch, den Pinsel zu schwingen, um Zahlen auf die Leinwand zu bannen oder mit der Feder ein Gesicht auf Papier zu porträtieren. Solche fließenden, eben analogen Übergänge testeten die Sphärentrennungen zwischen rechnen, schreiben und zeichnen, um sie zu befestigen.

Wer heute vor einem Computermonitor und einer Tastatur sitzt oder auf das Display seines Smartphones tippt, macht mit diesem bildlichen Arrangement nicht schon deutlich, ob er Daten speichert, überträgt oder bearbeitet und ob diese Daten bildlicher, sprachlicher oder numerischer Natur sind. Dass der Tiefencode all dieser Medienprozeduren aus den beiden armseligen Zahlen 0 und 1 besteht, ist allen bekannt und verwundert deshalb niemanden mehr. Indigniertes Kopfschütteln und narzisstische Kränkung stellt sich bei den Verfassern umfangreicher Texte ab und an ein, wenn sie den geringen Speicherplatz, den 500 Buchseiten benötigen, mit dem erheblichen Speicherplatz nur eines Ferienfotos vergleichen (um von dem eines kurzen Videoclips zu schweigen). Sie sind dann sofort darüber im Bilde, was zählt und Gewicht hat. Zahlen erzählen davon, wie sehr das Zählen das Erzählen dominiert. Digitale Bilder sind in dieser Konstellation das Weltkind in der Mitten. Sie verleihen den Wendungen »sich ein Bild machen« und »im Bilde sein« neuen Glanz. Wer sich auf digitale Bilder einlässt (und wie sollte man das heute vermeiden?), kann wissen, dass er zugleich beides kann: ungemein verlässlich (mit Millionen Pixel und in höchster Auflösung) registrieren, was der Fall ist, und sich zugleich ein Bild machen, also das Material resp. im Vergleich zur analogen Foto- und Filmtechnik das Nichtmaterial bearbeiten.