Buch lesen: «a tempo - Das Lebensmagazin»
1 – über a tempo
a tempo - Das Lebensmagazin
a tempo Das Lebensmagazin ist ein Magazin für das Leben mit der Zeit. Es weckt Aufmerksamkeit für die Momente und feinen Unterschiede, die unsere Zeit erlebenswert machen.
a tempo bringt neben Artikels rund um Bücher und Kultur Essays, Reportagen und Interviews über und mit Menschen, die ihre Lebenszeit nicht nur verbringen, sondern gestalten möchten. Die Zusammenarbeit mit guten Fotografen unterstützt hierbei den Stil des Magazins. Daher werden für die Schwerpunktstrecken Reportage und Interview auch stets individuelle Fotostrecken gemacht.
Der Name a tempo hat nicht nur einen musikalischen Bezug («a tempo», ital. für «zum Tempo zurück», ist eine Spielanweisung in der Musik, die besagt, dass ein vorher erfolgter Tempowechsel wieder aufgehoben und zum vorherigen Tempo zurückgekehrt wird), sondern deutet auch darauf hin, dass jeder Mensch sein eigenes Tempo, seine eigene Geschwindigkeit, seinen eigenen Rhythmus besitzt – und immer wieder finden muss.
2 – inhalt
3 – editorial Zornige Unnahbarkeit – so fing es an von Jean-Claude Lin
4 – im gespräch Eine Heldin für Kati Andrea Klein und Ebru Doğan im Gespräch mit Maria A. Kafitz
5 – thema Wo kommen Romane her? von Patrick McGrath
6 – augenblicke Der Klang des dritten Lebens von Karin Kontny
7 – herzräume Geschichten von Brigitte Werner
8 – erlesen Edward Snowden: «Permanent Record: Meine Geschichte» gelesen von Claudius Weise
9 – mensch & kosmos Beziehung am Morgenhimmel von Wolfgang Held
10 – alltagslyrik – überall ist poesie Der entsetzliche Hai, des Meeres Hyäne von Christa Ludwig
11 – kalendarium Oktober 2021 von Jean-Claude Lin
12 – was mich antreibt Um die Ecke denken von Sylvia Detzel
13 – unterwegs Das Leben erneuern von Daniel Seex und Jean-Claude Lin
14 – kindersprechstunde Mutig in die Welt von Dr. med. Genn Kameda
15 – blicke groß in die geschichte Der «dritte Weg» – Missbrauch und Chance eines historischen Motivs von Andre Bartoniczek
16 – von der rolle Er muss weg. Der Film «Das Fest» von Elisabeth Weller
17 – weiterkommen Die Liebe, die die Welt weiterbestehen lässt … von Holger Wolandt
18 – wundersame zusammenhänge Gehorsam von Albert Vinzens
19 – sehenswert Blaue Blume Menschlichkeit von Ute Hallaschka
20 – andenken ... Der griechische Beethoven. Zum Tode von Mikis Theodorakis von Konstantin Sakkas
21 – literatur für junge leser Pirkko-Liisa Surojegin «Von Fuchs, Wolf und Bär …» gelesen von Simone Lambert
22 – mit kindern leben Erntedank von Bärbel Kempf-Luley und Sanne Dufft
23 – sudoku & preisrätsel
24 – tierisch gut lernen Wer bewegt wen? von Renée Herrnkind und Franziska Viviane Zobel
25 – suchen & finden
26 – ad hoc Aus dem Tagebuch einer jungen Mutter von Uchris Schmidt-Lehmann
27 – bücher des monats
28 – impressum
3 – editorial
ZORNIGE UNNAHBARKEIT – SO FING ES AN
Liebe Leserin, lieber Leser!
Bei einer Buchpräsentation sieht er sie: «eine große, blonde, sehr dünne junge Frau in einem engen schwarzen Rock» an einem offenen Fenster – «kein Make-up, lange Beine, zusammengepresster, angespannter Mund». Er muss zu ihr, er, der nicht zufällig sich auf die Dichtkunst der Romantik spezialisiert hat, der immer schon zu viel empfindet.
«‹Sidney Klein›, sagte ich, als ich schließlich vor ihr stand. – ‹Sie sind Engländer.› – ‹Ich fürchte, ja.› –
So fing es an. Wir schüttelten uns die Hand. Ich kann immer noch nicht erklären, warum ich mich so urplötzlich zu dieser jungen Frau hingezogen fühlte, es sei denn, es war rein körperlich. Aber sie war umgeben von einer Aura zorniger Unnahbarkeit, die mich beträchtlich interessierte und von der ich vermutete, dass sie ängstliche Verunsicherung und Naivität verbarg …»
So lernt Sidney Constance kennen, die Protagonistin in Patrick McGraths nach ihr genanntem Roman. Nach dessen Lektüre vor zwei Jahren fühlte ich ebenso emphatisch wie mitgerissen: What a story! What a storyteller! Such glowing intensity of feeling and reflection! How complicated can we human beings be! – Was für eine Geschichte! Was für ein Erzähler! So glühend intensive Gefühle und Nachdenklichkeit! Wie kompliziert sind wir doch als Menschen! – Notierte ich.
Patrick McGrath führt uns in die Abgründe einer verletzten Seele, bevor sie sich selbst dessen bewusst ist, wie verwundet sie ist. Aber nach und nach kommen wir mit ihr und ihm durch die sich abwechselnden Stimmen von Constance und Sidney ans Licht eines neu gefundenen Lebens – trotz aller Antipathien, die man zunächst für beide hegen kann.
Und darauf kommt es immer mehr an in unserer Gegenwart und für die Zukunft, wie Rudolf Steiner einmal am 10. Oktober 1916 in seinem in Zürich gehaltenen Vortrag «Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwunden werden?»* ausführt: Nicht Programme brauchen wir, sondern «möglichst viele positive Schilderungen, wie die Menschen sich wirklich entwickeln», also praktische Menschenkenntnis, eine lebensvolle Menschenkunde, die uns zeigt, wie verschieden wir Menschen sind, welche unausgeloteten Tiefen in jedem von uns wirksam sind. In einem solchen Roman wie Constance von Patrick McGrath werde ich berührt von dieser über Sympathie und Antipathie hinausgehenden praktischen, weil künstlerisch verfassten Menschenerkenntnis.
Anregende Lektüren wünschen wir Ihnen aus der Redaktion unseres Lebensmagazins in diesem Monat der Frankfurter Buchmesse!
Seien Sie von Herzen gegrüßt,
Ihr
4 – im gespräch
eine heldin für kati
Ebru DoĞan und Andrea Klein im gespräch mit maria a. kafitz
Fotos: Wolfgang Schmidt
«Lesen stärkt die Seele.» Das wusste schon der französische Philosoph und Schriftsteller Voltaire – und das wissen auch die Menschen von der gemeinnützigen Organisation KinderHelden. Mit viel Hingabe und noch mehr Engagement bemühen sie sich darum, dass Kinder mit Förderbedarf die Möglichkeit bekommen, nicht nur besser lesen zu lernen, sondern gestärkt ins Leben zu starten. Wir trafen uns mit Andrea Klein (Marketing bei KinderHelden, Stuttgart, links im Bild) und Ebru Doğan (ehrenamtliche Mentorin, rechts im Bild), um über Bildungsgerechtigkeit und die Freude an der Arbeit für und mit Kindern zu sprechen.
Maria A. Kafitz | Bevor wir zu den KinderHelden kommen, welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit?
Ebru Doğan | Ich war ein kleiner Bücherwurm und habe mich schon sehr früh und gerne in Bücher vertieft. Als Einzelkind waren sie meine Möglichkeit, mit der Welt klarzukommen. Sie waren mein Fantasiereich, in das ich mich immer zurückziehen konnte. Das mache ich auch heute noch gerne – und wenn möglich, dann in den Sprachen, die ich außer Deutsch noch verstehe, also in Spanisch, Englisch und Türkisch. Meine absolute Lieblingsautorin ist Isabel Allende, da bekommt man zur Literatur noch viel Politik, Geschichte und Frauenpower mit.
Andrea Klein | Ich verbinde mit Kindheitserinnerungen ein großes Gefühl von Freiheit. Im Sommer abends lange aufbleiben, im Gras barfuß laufen, ins Schwimmbad gehen. Ja, Kindheit war unbekümmerte Freiheit.
MAK | Viele Kinder haben dieses Gefühl der Unbekümmertheit leider nicht. Organisationen wie Ihre aber versuchen, wenigstens in gewissen Bereichen Hilfe anzubieten und in manchen Momenten auch einfach «nur» Freude zu schenken. Was will und tut KinderHelden?
AK | Der Grundgedanke ist: Zur Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit vor Ort beizutragen. Denn es ist einfach unfair, dass manche Kinder mit schwierigen Startbedingungen nicht dieselben Chancen bekommen wie andere. Zwar haben diese Kinder oft dieselben Fähigkeiten wie ihre Klassenkameraden, bekommen jedoch nicht die Möglichkeit, ihre Potenziale zu entwickeln. Das finde ich als Mensch und Mutter ungerecht. Oder anders formuliert: Ich wollte etwas für benachteiligte Kinder tun und kam so auch beruflich zu den KinderHelden. Die ersten Standorte waren Mannheim und Stuttgart. Inzwischen haben wir mit München, Frankfurt, Hannover und Hamburg sechs Niederlassungen. Das KinderHelden-Team kümmert sich um alles Organisatorische, die Finanzierung (Spenden), die Schulungen und stehen bei Bedarf mit Rat und Tat zur Seite. Heute fördern wir mehr als 1.100 Kinder pro Jahr.
MAK | Frau Doğan, Sie engagieren sich ehrenamtlich für die KinderHelden. Warum haben Sie sich dafür und nicht für eine andere Organisation entschieden?
ED | Tatsächlich bin ich auch noch für eine andere Organisation tätig, und zwar seit 11 Jahren als Lesepatin bei Leseohren e.V. Lesen ist eben absolut meins! Aber mir geht es auch darum, dass die Kinder selbst Freude am Lesen und vor allem ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln. Und natürlich kommt man dabei auch mit den Kindern ins Gespräch. Ich habe bei manchen gemerkt: Die wollen dir etwas erzählen, aber ihnen fehlen die Worte. Teilweise waren das Kinder kurz vor dem Schulstart. Das fand ich ziemlich erschreckend. Denn wie sollen sie in der Schule klarkommen, wenn sie sich nicht ausdrücken können? Also habe ich nach einer Organisation zu individueller Förderung gesucht und die KinderHelden gefunden. Das Konzept hat mir sehr gut gefallen und der Infoabend hat mich vollends überzeugt – besonders die Idee der Eins-zu-eins-Betreuung in sogenannten «Bildungstandems» über einen längeren Zeitraum, in dem man die Entwicklung des Kindes auch wirklich begleiten kann.
MAK | Was verbirgt sich hinter dem Konzept des «Bildungstandems»? Und wie finden die Kinder ihre passenden Mentorinnen oder Mentoren – und umgekehrt?
AK | Dieses Eins-zu-eins-Konzept bedeutet: ein Kind und ein Erwachsener treffen sich einmal die Woche für zwei bis drei Stunden ein ganzes Jahr lang. Sie lernen, lesen und verbringen die Freizeit gemeinsam. So kann ein Kind nachhaltig begleitet werden und Vertrauen wachsen. Wir arbeiten dabei mit Kooperationsschulen zusammen, in denen die Lehrer uns Kinder ans Herz legen, die zusätzliche Unterstützung brauchen. Die Kinder kommen beispielsweise zu uns, wenn die Lehrerin sagt: Ich habe ein Kind in meiner Klasse, das hat Leselernbedarf und müsste individuell gefördert werden. Dann werden die Eltern eingebunden, und wenn sie einwilligen, lernen wir das Kind in einem ausführlichen Gespräch kennen. Grundvoraussetzung ist nämlich immer, dass das Kind Lust dazu hat, denn sonst funktioniert es nicht. Eine Mitarbeiterin von uns entwickelt anschließend mit der Lehrerin oder dem Lehrer zusammen einen sogenannten «Bildungsplan». Wo steht das Kind jetzt? Was braucht es in diesem Augenblick? Hat es Leseförderbedarf? Wie ist die Sprachentwicklung? Braucht es vielleicht eher Sprachförderung? Oder ist das Kind nur zu schüchtern, um etwas zu sagen? Auf Grundlage dieser Ist-Beschreibung und des Wunsches, wohin die «Bildungsreise» gehen soll, suchen wir die passenden Mentoren aus, die genau diesem Kind helfen könnten.
MAK | Der konkrete Förderbedarf ist das eine. Wir sind aber charakterlich ja alle recht unterschiedlich. Was hat beispielsweise den Ausschlag gegeben, dass Ebru Kati als Tandem-Kind bekam?
AK | Als Erstes kam Kati zu Ebru, weil sie ein Mädchen ist. Wir vermitteln Mädchen zu Frauen, Jungs zu Männern – und nur in Ausnahmefällen, weil wir mehr ehrenamtliche Frauen haben, Frauen zu Jungen. Dann schauen wir: Welche Fähigkeiten hat Kati? Was könnte noch gestärkt werden? Welche Interessen hat sie? Und schließlich schauen wir, ob es eine Mentorin gibt, die in ihrer Nähe wohnt, ähnliche Interessen hat und sie schulisch und persönlich so unterstützen kann, wie sie es braucht.
MAK | Und wie ist es für Sie als Mentorin? Wurde die «passende Kleine» gefunden, für die Sie ja nicht nur zur Lernfreundin, sondern auch zur Vertrauten werden?
ED | Ja, sie bereichert mein Leben! Anders kann ich das nicht erklären. Ich mache ohnehin gerne Quatsch, aber wenn ich dann noch die Freiheit habe, mit einem Kind selbst Kind sein zu dürfen, ist das natürlich etwas ganz Besonderes. Vor allem im ersten Jahr, das war vor Corona, haben wir sehr viel gemeinsam unternommen, nachdem die ersten Treffen, die unter Sicherheitsaspekten immer zuerst nur in der Schule stattfinden, vorüber waren. Kati hatte anfangs große schulische Defizite, vor allem aber hatte sie kein Selbstbewusstsein. Auch wenn sie etwas richtig machte, hatte sie Zweifel. Ich habe schnell gemerkt: Sie muss einfach Erfolgserlebnisse bekommen! Also waren wir zum Beispiel in der Kletterhalle und haben auch sonst sehr viele Sachen gemacht, die sie bestärkt haben. Während dieser Zeit wurde natürlich auch gelesen oder vielmehr Schritt für Schritt das Lesen erst einmal von Grund auf geübt. Das war natürlich nicht nur Spaß! Aber mittlerweile ist es einer geworden. Eine ganze Seite zu lesen war anfangs undenkbar. Heute müssen wir darüber nicht mehr diskutieren – zumindest nicht, wenn die Geschichte interessant ist und es im besten Fall auch noch irgendwo glitzert. Es war ein echtes Glücksgefühl, auch für Kati, als sie zum ersten Mal ein ganzes Buch durchgelesen hatte! Und das Tollste war: Sie hat das Buch (Frida, die kleine Waldhexe) in der Schule vorgestellt und etwas dazu gebastelt. Wenn man eine solche Entwicklung miterleben darf, ist das ein großes Geschenk.
MAK | Und wohin entwickelt sich die Arbeit und das Angebot der KinderHelden?
AK | In viele Richtungen und hoffentlich immer weiter. Neben der Unterstützung im Lesen und der Sprachentwicklung bieten wir neu das Mathe-Training für Kinder mit Mathe-Förderbedarf an. Außerdem wurden wir durch die Digitalisierung unserer Projekte, die durch Corona notwendig wurde, auf andere Möglichkeiten der Förderung aufmerksam. So können sich jetzt Kind und Erwachsener persönlich und digital treffen – ganz wie es ihnen am liebsten ist. Wir reagieren auch auf Impulse von außen. So war es auch bei der Frage, ob man die Tandems auch über die Grundschulzeit hinaus verlängern könnte. Für Tandems, die weitermachen wollen, gibt es daher das Projekt «StarkMacher», in dem die Kinder bis zum Ende ihrer Schullaufbahn begleitet werden können. Denn nach der Grundschule kommen für die Kinder neben dem Lernen wieder neue Herausforderungen dazu: Liebeskummer, Pubertät und ganz Praktisches wie beispielsweise die Berufsorientierung. Uns ist es wichtig, dass Kinder ganzheitlich und nachhaltig unterstützt werden, damit sie mutig und selbstbewusst ihre Zukunft gestalten können. Übrigens wurden die Projekte «StarkMacher» und «Ich kann,s!» – Lernförderung im Bildungstandem mit dem Qualitätssiegel der Stadt Stuttgart bereits zweimal ausgezeichnet und sind somit besonders empfehlenswert.
MAK | Die KinderHelden suchen ja weiterhin nach Ehrenamtlichen. Wer ist denn bisher bei Ihnen tätig und nimmt sich einmal die Woche Zeit für ein Kind, das Unterstützung braucht?
AK | Es sind grundsätzlich mehr Frauen als Männer. Es sind ungefähr 50 bis 60 Prozent Berufstätige, 30 Prozent Studierende. Und dann haben wir natürlich auch engagierte Rentnerinnen. Es geht bei uns tatsächlich durch alle Schichten und Altersgruppen: Unsere älteste Mentorin ist 83 Jahre alt, die jüngste 17. Unsere Ehrenamtlichen sind sehr großzügige und fantasievolle Menschen, für die Bildung ein wertvolles Gut ist. Die sich sagen: In meiner direkten Umgebung schenke ich meine Zeit und Aufmerksamkeit und engagiere mich für Kinder, die eine Chance für die Zukunft brauchen. Besondere fachliche Kompetenzen sind für das Engagement nicht erforderlich. Wichtig ist die positive Motivation, ein Kind unterstützen zu wollen. Alles Weitere erfährt man im Einführungs-Workshop bei KinderHelden. Wir freuen uns, wenn sich weitere Menschen finden, und laden alle herzlich dazu ein!
Weitere Informationen finden Sie unter: www.kinderhelden.info Ansprechpartnerin zu Fragen über KinderHelden und seine Projekte ist Jessica Klaiber. E-Mail: jessica.klaiber@kinderhelden.info Tel.: +49 (0)7 11/34 24 77-0
5 – thema
wo kommen romane her?
über die arbeit an constance
von Patrick McGrath
Oft entstehen Romane aus nichts anderem als einem Schnipsel, einem Erzählungsfetzen. Eine Frau öffnet ihre Handtasche und findet ein Paar Männersocken, die nicht ihrem Mann gehören. Ein Mann gräbt einen Acker um und stößt auf einen Fingerknochen – exakt genauso groß wie sein eigener Finger. Eine Frau ist von etwas traumatisiert, das sich vor ihrer Geburt ereignete und vor ihr geheim gehalten wurde. In all diesen Fällen werden Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung dem Gerüst eines Romans Substanz verleihen kann. Das letztgenannte Beispiel lieferte mir die Zutaten für Constance.
Der Roman, den ich vor Constance geschrieben hatte, hieß Trauma. Darin ging es um einen Psychiater namens Charlie Weir, der in New York Gruppensitzungen mit traumatisierten Vietnam-Veteranen durchführt. Ich hatte viel über traumatisierte Veteranen gelesen und war dabei auf die Überlegung gestoßen, dass die Auswirkungen schwerwiegender psychologischer Traumata von Individuum auf Individuum übertragen werden könnten, ein Kind vielleicht, das dem traumatischen Ereignis nicht direkt ausgesetzt war bzw. nicht einmal wusste, dass es stattgefunden hatte.
Ich war fasziniert und ahnte die Möglichkeit einer Geschichte über eine Frau, die offenkundig wie von einem Fluch von etwas verfolgt wird, obwohl es keinen Grund und keine Erklärung für die Verletzung zu geben scheint, die sie erlitten haben muss. Es ist einfach so, dass irgendetwas fehlt.
Ich hatte schon einmal mit der Stimme eines immens beeinträchtigen Menschen geschrieben und vor dem Problem gestanden, in der ersten Person Singular einen Charakter präsentieren zu müssen, dem es an der Art von Attributen fehlte, die wir von unseren fiktiven Protagonisten erwarten. Er hieß Spider und war der Namensgeber des Romans, der aus einer Reihe inkohärenter Kritzeleien in einem schmalen Notizbuch besteht. Spider leidet an paranoider Schizophrenie, und das Problem beim Schreiben bestand darin, irgendwie die Kohärenz herzustellen, die wir von einem Roman erwarten, gleichzeitig aber einen Charakter darzustellen, dessen Geist anscheinend weder Struktur noch Logik kennt: Er ist psychotisch. Und inkohärent. Dennoch fand ich Möglichkeiten, den Leser in die Zwänge des armen Mannes hineinzuziehen. Es gelang mir anzudeuten – durch Spiders eigenartiges Tun und bizarres Denken –, dass in seinem konfusen Hirn sowohl Logik als auch eine Vorgeschichte verborgen liegen, sodass die Pathetik seiner Verwirrung den Leser nicht entfremdet, sondern bewegt. Hoffte ich zumindest!
Bei meiner traumatisierten jungen Frau war ich weniger zuversichtlich. Ich fürchtete, sie würde keine Sympathien wecken, sondern Ungeduld hervorrufen. Sie war nicht psychotisch, sondern neurotisch, sie war selbstkritisch, verbittert und freudlos. Alles andere als liebenswert. Wie sie uns bereits auf der ersten Seite mitteilt, fühlte sie sich nutzlos. Wie also sollte sie die Leser fesseln?
Ich verortete sie in New York, wo ich zu dieser Zeit lebte, und verlagerte ihre Geschichte in die Mitte der 1960er-Jahre. New York war damals eine ärmere, schmutzigere und gefährlichere Stadt, was zur Stimmung meiner Geschichte passte. In meinen fiktiven Welten liebe ich Verfall und Chaos, was vielleicht erklärt, wieso ich mich zu diesen zutiefst gestörten Figuren hingezogen fühle. Und dann machte ich eine überaus erfreuliche Entdeckung, die ein wirklicher Glückstreffer war. In der Zeit von 1963 bis 1968 wurde die alte Penn Station in der 34th Street abgerissen, ein riesiges, kathedralenartiges Gebäude mit hohen Gewölben und imposanten Säulen, ein weltlicher Tempel der amerikanischen Eisenbahn. Ich war begeistert: Eine im Entstehen begriffene Ruine! Ich machte sie mir zunutze, und Constances Zusammenbruch spiegelt sich im Abriss der Penn Station. Ich hatte folglich zwei kollabierende, zwei synchron zusammenfallende Konstrukte, beide eine Art Schatten des anderen.
Es ist schwer zu bestimmen, welche Ideen in den anfänglichen Stadien den Zündstoff für einen Roman liefern, und es kommt häufig vor, dass der ursprüngliche Auslöser verschwindet, nachdem er seine Aufgabe erfüllt und das Ganze in Gang gebracht hat. Jedenfalls lieferte der Abriss der Penn Station mir einen Hintergrund und erwies sich auf andere Weise als zentral für die Entwicklung des Buchs. Und zwar, als Constance den Zug besteigt, der sie am Hudson River entlang nach Norden bringt, nach Rhinecliff, die kleine Stadt, in der sie aufwuchs und wo sie ihren verwitweten Vater besucht. Der Bahnhof blieb auch während der Abrissarbeiten in Betrieb, wodurch ich zeigen konnte, wie Constance inmitten des Lärms und des Getöses, inmitten des Staubs und des Schutts und des ganzen Durcheinanders, das mit der Zerstörung eines wundervollen Gebäudes einhergeht, auf ihren Zug wartet. Der Abriss wurde übrigens als einer der schlimmsten Akte des Vandalismus bezeichnet, den New York je erlebte. Und so saß ich oft in Constances Zug, der sich an die Ufer des mächtigen Hudson klammert, eine überaus aufregende Weise, Recherchen für einen Roman zu betreiben.
Der kostenlose Auszug ist beendet.