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Aus meinem Leben. Erster Teil

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Noch drohte Preußen keine Gefahr der Erniedrigung, als die es in seinem Innern birgt. Der Sturz der Kriegspartei wäre für Preußen selbst der schönste Sieg. Die Gefahr der Zerstücklung ist gerade durch diese Partei über ganz Deutschland gebracht. Im Süden ist durch ihr Bündnis mit Italien deutsches Bundesland gefährdet. Im Westen hat sie die alte Gefahr heraufbeschworen, die jedesmal droht, wenn Deutschland uneinig ist.

Die deutschen Stämme, welche die Berliner Gewaltpolitik gegen sich in Waffen gerufen hat, ziehen nicht gegen das Volk in Preußen, ziehen nicht für habsburgische Hauspolitik ins Feld; die Nation will so wenig Oesterreich wie Preußen dienen. Frei will sie sein, selbst Herr im eigenen Hause. Gegen ihren Willen verstrickt in das jetzige Unglück, darf und will sie nicht die Folgen desselben untätig abwarten. Wie sie mit richtigem vaterländischen Gefühl die ihr angesonnene Neutralität im Bruderkrieg von sich gewiesen hat, so ist es jetzt ihre Pflicht, mit voller Kraft und einmütiger Entschlossenheit sich die Mitwirkung an der Entscheidung ihrer Geschicke zu sichern durch allgemeine Volksbewaffnung und gemeinsame Volksvertretung.

Auf diese beiden Forderungen ist sofort und allerorten die Tätigkeit des deutschen Volkes zu richten; eine allgemeine Agitation in öffentlichen Volksversammlungen muß schleunigst dafür organisiert werden. Das deutsche Volk allein kann noch das deutsche Vaterland retten.

Frankfurt, 1. Juli 1866.

Der Ausschuß der Frankfurter Volksversammlung vom 20. Mai.

I.d.N.: G.F. Kolb. Aug. Röckel.

* * * * *

Der Aufruf war gut gemeint, aber er kam zu spät. Und was ihm einzig hätte Nachdruck geben können, eine große, geschlossene Organisation, fehlte. —

Den Tag nach den erwähnten Frankfurter Vorgängen, am zweiten Pfingstfeiertag, war ich mit einer Anzahl Herren bei Siegmund Müller zu Tisch geladen. Nach beendetem Essen traten wir an die weit geöffneten Fenster, um den herrlichen Maitag zu genießen. Wie auf Kommando erhoben wir ein homerisches Gelächter. Aus Müllers Wohnung sah man auf den Main und die alte Mainbrücke, auf der in ihren weißen Uniformen Scharen österreichischer Soldaten herüber- und hinüberspazierten, fast ein jeder ein Mädchen am Arme. Dieser Anblick hatte unsere Lachlust erregt. Unser Gastgeber sah die Sache ernster an, in seinem Frankfurter Hochdeutsch äußerte er: „Meine Herrn! Sie hawwe gut lache, die Mädercher krieche alle Kinner, und die misse dann von der Stadt erhalte werrn!“ Eine zweite Lachsalve war unsere Antwort. Kurze Zeit nachher, am 10. Juni, verließen die Preußen, die zur Bundesgarnison in Frankfurt gehörten, mit „klingendem Spiel“ die Stadt, am 11. folgten in gleicher Weise die Oesterreicher. Diese auf Nimmerwiedersehen. Gar mancher der lustigen Burschen, die an jenem Pfingstfeiertag fröhlich über die Mainbrücke zogen, dürfte später mit seinem Blute das Schlachtfeld gedüngt haben. —

Den 10. Juni trat auch der ständige Ausschuß der Arbeitervereine zu einer Sitzung in Mannheim zusammen, um Stellung zu dem vorhandenen politischen Konflikt zu nehmen. Mit Ausnahme von M. Hirsch war der ganze Ausschuß anwesend, ebenso auf besondere Einladung Streit-Koburg.

In der deutschen Frage kam es zu erregten Auseinandersetzungen. Ein preußisches Mitglied bestritt, daß im preußischen Volke Sympathien für Annexionen vorhanden seien, worin er sich, wie die Folge lehrte, gründlich irrte. Die große Mehrheit des Ausschusses war gegen eine Neutralität der Mittelstaaten. Von einer Seite wurde hervorgehoben, die preußische Hegemonie werde der industriellen Entwicklung förderlich sein, von anderer Seite wurde bestritten, daß die preußische Spitze dazu nötig wäre. Schließlich wurde einstimmig beschlossen, sich der bereits bestehenden Volkspartei und dem von dem Frankfurter Ausschuß aufgestellten Programm anzuschließen. Auch wurde empfohlen, folgenden Kompromißantrag in das Programm der Volkspartei aufzunehmen: Jede volkstümliche Regierung muß die allmähliche Ausgleichung der Klassengegensätze so weit zu fördern suchen, als es irgend mit der Schonung der individuellen Freiheit und den volkswirtschaftlichen Gesamtinteressen vereinbar ist. Die materielle und moralische Hebung des Arbeiterstandes ist ein gemeinsames Interesse aller Klassen, ist eine unentbehrliche Stütze der bürgerlichen Freiheit.

Da die politischen Wirren bereits große Arbeitslosigkeit zur Folge hatten, kam man überein, die Unternehmer aufzufordern, während der Dauer der Arbeitsstockung eine entsprechende Verkürzung der Arbeitszeit eintreten zu lassen, statt Arbeiter zu entlassen; ferner sollten die Staats- und Gemeindebehörden die begonnenen Bauten weiterführen und bereits geplante zur Ausführung bringen. Unerfreulich war der Kassenbericht, nicht minder unerfreulich, was Streit über den Stand der „Arbeiterzeitung“ zu berichten hatte. Das Verbot der Zeitung in Preußen, die politischen Differenzen in vielen Vereinen, die Feindseligkeit und die Hindernisse, die der Buchhändlerverband dem Blatte entgegenstellte, hatten den Abonnentenstand sehr herabgedrückt, und der passive Widerstand, den einzelne Mitglieder im Ausschuß Streit und seinem Blatte entgegenstellten, verhinderte, von unserer Seite entsprechende Hilfe zu bringen. Streit sah sich gezwungen, am 8. August das Weitererscheinen des Blattes einzustellen.

Meine erneut eingebrachten Reorganisationsanträge wurden wiederum abgelehnt, dagegen wurde beschlossen, dem Vorsitzenden ein Fixum von 200 Taler im Jahr als Vergütung für Arbeiten zu gewähren. Man verhandelte auch über den Ort des nächsten Vereinstags, für den Chemnitz oder Gera in Aussicht genommen wurde. Der Gang der Ereignisse zwang aber, denselben für 1866 ausfallen zu lassen. Die Verhandlungen wurden alsdann auf einige Stunden unterbrochen, um eine Volksversammlung abzuhalten, die sich mit den alles Interesse beherrschenden politischen Vorgängen beschäftigte.

Von jetzt ab überstürzten sich die Ereignisse und trieben zur Katastrophe. Am 9. Mai hatte Bismarck den Landtag aufgelöst, um durch dessen Opposition nicht in seinen politischen Maßnahmen gestört zu werden. Im Gegensatz zu Preußen beriefen die Mittelstaaten ihre Landtage ein. Am 1. Juni übergab Oesterreich die schleswig-holsteinsche Sache dem Bundestag. Es hatte zu spät den Fehler eingesehen, den es gemacht, als es sich in dieser Angelegenheit von Preußen ins Schlepptau nehmen ließ. Zwei Tage später, am 3. Juni, erklärte Preußen, daß durch den Schritt Oesterreichs der Gasteiner Vertrag hinfällig geworden sei. Am 11. Juni sprengte Preußen mit Militärgewalt die Versammlung der nach Itzehoe einberufenen holsteinschen Stände. Darauf räumten am 12. Juni die Oesterreicher Holstein. Am gleichen Tage rief Oesterreich seinen Gesandten von Berlin ab und stellte dem preußischen Gesandten in Wien seine Pässe zu. Am 14. Juni entschied sich der Bundestag gegen Preußen, worauf der preußische Gesandte den Verfassungsentwurf für einen neuen Bund auf den Tisch des Bundestags niederlegte, dessen erster Artikel lautete:

Das Bundesgebiet besteht aus den seitherigen Staaten, mit Ausnahme der kaiserlich österreichischen und der königlich niederländischen Landesteile (Luxemburg und Limburg).

Also Kleindeutschland. Der Krieg war erklärt. Dieser nahm wider Erwarten vieler einen für Preußen ausnehmend günstigen Verlauf. Binnen wenig Wochen war die österreichische Armee in Böhmen aus allen ihren Positionen geworfen und standen die Preußen vor den Toren Wiens. Die mittelstaatlichen Armeen, mit Ausnahme der sächsischen, die in Böhmen focht, und der hannoverschen, die nach zähem Widerstand den Preußen bei Langensalza erlag, spielten eine klägliche Rolle. Ihr Widerstand war gebrochen, ohne daß es zu einer wirklichen Schlacht kam. In Italien entwickelte sich der Krieg etwas anders. Bismarck war anfangs mißtrauisch, daß Italien den Krieg gegen Oesterreich ernsthaft führen werde. In einer Depesche vom 13. Juni an den preußischen Gesandten v. Usedom empfahl er, energisch darauf zu bestehen, daß sich die italienische Regierung mit dem ungarischen Komitee ins Einvernehmen setze. Die Weigerung La Marmoras könnte bei Preußen den Verdacht erregen, daß Italien nicht die Absicht habe, einen ernsten Krieg gegen Oesterreich zu führen. Er solle mitteilen, daß Preußen nächste Woche die Feindseligkeiten beginne. Aber ein fruchtloser Krieg Italiens im Festungsviereck werde Argwohn erregen. Am 17. Juni sandte Usedom an La Marmora eine lange Depesche, in der er diesem im Namen seiner Regierung Vorschläge über die Kriegführung machte. Der Krieg müsse bis zur Vernichtung des Gegners geführt werden. Ohne Rücksicht auf die zukünftige Gestaltung der Territorien müßten beide Mächte den Krieg endgültig, entscheidend, vollständig und unwiderruflich zu machen suchen. Italien dürfe sich nicht damit begnügen, bis an die nördlichen Grenzen Venetiens vorzudringen: es müsse sich mit Preußen an dem Mittelpunkt der Monarchie selbst begegnen. Um sich den dauernden Besitz Venetiens zu sichern, müsse es die österreichische Monarchie ins Herz treffen.

Das war die berüchtigte Stoß-ins-Herz-Depesche, die, als sie 1868 bekannt wurde, große Aufregung hervorrief. Die Dinge liefen aber anders. Nicht die Italiener, sondern die Oesterreicher siegten. Die Italiener wurden zu Lande in der Schlacht von Custozza und zu Wasser in der Seeschlacht von Lissa besiegt. Trotz dieser Siege trat jetzt Oesterreich Venetien an Napoleon ab, also nicht an Italien, da die Dinge im Norden der Monarchie höchst ungünstig standen. Es hoffte auf eine Intervention Napoleons. Diese neue Situation veranlaßte nunmehr Bismarck, trotz dem großen Unmut, der darüber im Hauptquartier entstand, Oesterreich einen Waffenstillstand zu gewähren, der in Nikolsburg abgeschlossen wurde und an dessen Schluß, 27. Juli, es zu Friedenspräliminarien kam. Im definitiven Friedensvertrag, abgeschlossen in Prag, erhielt Preußen Schleswig-Holstein, Hannover, Nassau, Kurhessen und Frankfurt zugebilligt. Oesterreich selbst kam mit einer mäßigen Kriegsentschädigung davon. Politische Gründe bestimmten Bismarck, Oesterreich glimpflich zu behandeln. Die südwestdeutschen Staaten sollten einen besonderen Bund bilden. Venetien wurde von Napoleon an Italien abgetreten.

 

Daß Oesterreich Venetien an Napoleon abgetreten hatte, rief bei den deutschen Liberalen einen Sturm der Entrüstung hervor. Das sei Vaterlandsverrat. Eine Anklage, die Preußen mindestens ebenso traf wie Oesterreich. Vertuscht wurde nach Möglichkeit, daß Preußen sich mit Italien, also dem Ausland, zur Vernichtung eines deutschen Staates verbunden hatte; vertuscht wurde, daß Bismarck mit Klapka in Verbindung getreten war, um Ungarn zu insurgieren, der infolgedessen folgenden Ausruf veröffentlicht hatte:

* * * * *

An die ungarischen Soldaten!

Durch das Vertrauen meiner Mitbürger übernehme ich das Oberkommando der gesamten ungarischen Streitkräfte; als Führer spreche ich also zu euch.

Preußens und Italiens mächtige Könige sind unsere Verbündeten. Aus Italien eilt Garibaldi herbei, von der Donau her Türr, aus Siebenbürgen Bethlen, um das Vaterland zu befreien; von hier führe ich die tapfere ungarische Schar ins Land. Ludwig Kossuth wird mit uns sein; so vereint jagen wir die Oesterreicher, die unseres Landes Gut und Blut rauben, hinaus. Wir erobern zurück, was unser ist: den Boden Arpáds; in den Jahren 1848 und 1849 ernteten wir ewigen Ruhm, nun wartet unser der Lorbeer- und der Friedenskranz, wenn wir das Vaterland befreien. Vorwärts also, folget dem ungarischen Banner. Unseres Vaterlandes heilige Erde ist nur wenige Tage weit, dorthin führe ich euch; kommet denn nach Hause, wo Mutter, Geschwister und Braut euch mit offenen Armen erwarten.

Wählet. Wollt ihr erbärmliche Gefangene bleiben oder ruhmvolle Vaterlandsverteidiger werden?

Es lebe hoch das Vaterland!

Klapka m.p., ungarischer General.

* * * * *

Auch daran wollte man nicht erinnern, daß aus dem preußischen Hauptquartier beim Einrücken in Böhmen ein Ausruf „An die Einwohner des glorreichen Königreichs Böhmen“ veröffentlicht worden war, der Stellen enthielt wie die folgende:

„Sollte unsere gerechte Sache obsiegen, dann dürfte sich vielleicht auch den Böhmen und Mähren der Augenblick darbieten, in dem sie ihre nationalen Wünsche gleich den Ungarn verwirklichen können. Möge dann ein günstiger Stern ihr Glück auf immerdar begründen!“

Es war das alte Lied von dem Messen mit zweierlei Maß. Wenn zwei dasselben tun, ist es nicht dasselbe. Beging Preußen die größten Niederträchtigkeiten – und als eine loyale Kriegführung konnte man doch die Vorgänge in Böhmen und Ungarn nicht ansehen —, sie wurden entschuldigt, ja gerechtfertigt. Aber wehe seinen Gegnern, die seine Beispiele nachahmten. Was würde man zum Beispiel heute sagen, wenn eine auswärtige Macht eines Tages in die Provinz Posen mit einer ähnlichen Proklamation an die Polen einrückte wie die der Preußen in Böhmen?

Dem Landesverrat im großen, der in den österreichischen Ländern begünstigt wurde, schloß sich der Landesverrat im kleinen in Deutschland an. Anfang August 1866 beschlossen die sächsischen Liberalen unter Führung von Professor Biedermann, Dr. Hans Blum usw. in einer Landesversammlung in Leipzig eine Resolution, in der es hieß: Wir halten die deutschen und sächsischen Interessen am besten gewahrt durch die Einverleibung Sachsens in Preußen. Und noch nachdrücklicher sprach sich Herr v. Treitschke, ein geborener Sachse, aus, der als Redakteur der „Preußischen Jahrbücher“ Bismarck aufforderte, die oppositionellen Staaten – Sachsen, Hannover, Kurhessen – zu vernichten:

„Jene drei Dynastien sind reif, überreif für die verdiente Vernichtung; ihre Wiedereinsetzung wäre eine Gefahr für die Sicherheit des neuen deutschen Bundes, eine Versündigung an der Sittlichkeit der Nation…. Nächst dem Hause Habsburg hat kein anderes Fürstengeschlecht die Jahrhunderte hindurch sich schwerer versündigt an der deutschen Nation als das Haus der Albertiner…. König Johann ist unzweifelhaft der achtungswerteste Mann unter den vertriebenen deutschen Fürsten, doch mit einer Fülle gelehrter Kenntnisse ist er ein gewöhnlicher Mensch geblieben, engen Herzens, unfrei, philisterhaft in seinem Urteil über Welt und Zeit. Der Kronprinz, ein Mann nicht ohne derbe Gutmütigkeit, aber roh und jeder politischen Einsicht bar, war von jeher eine Stütze der österreichischen Partei, und von dem Prinzen Georg, dessen Hochmut und Bigotterie selbst in dem zahmen Dresden Anstoß erregen, ist noch weniger zu erwarten…. Vor allem fürchten wir von einer Restauration die Entsittlichung des Volkes durch den Geist der Lüge, durch die Gleißnerei einer Loyalität, welche nach den Ereignissen des Sommers mindestens von dem jüngeren Geschlecht gar nicht mehr gehegt werden kann. Man male sich die Szene aus, wie König Johann einzieht in seine Hauptstadt, wie der allezeit getreue Stadtrat von Dresden den Landverderber mit Worten des Dankes und der Verehrung empfängt, rautenbekränzte weiß und grüne Jungfrauen sich neigen vor der befleckten und entweihten Krone – wahrhaftig, schon der Gedanke ist ekelerregend.“

Und er schloß: „In Tagen wie diesen soll man das Herz haben, die Paragraphen des Albertinischen Strafgesetzbuchs zu mißachten…. Wir wollen nicht, daß ein von Gott und den Menschen gerichtetes Haus zurückkehrt auf den Thron.“

Bismarck sorgte dafür, daß seinen glühenden Verehrern kein Haar gekrümmt wurde. Im Artikel 19 des Friedensvertrags mußte der König von Sachsen zusichern, „daß keiner seiner Untertanen oder wer sonst den sächsischen Gesetzen unterworfen ist, wegen eines in bezug auf die Verhältnisse zwischen Preußen und Sachsen während der Dauer des Kriegszustandes begangenen Vergehens oder Verbrechens gegen die Person Seiner Majestät oder wegen Hochverrats, Staatsverrats oder endlich wegen seines politischen Verhaltens während jener Zeit überhaupt strafrechtlich, polizeilich oder disziplinarisch zur Verantwortung gezogen oder in seinen Ehrenrechten beeinträchtigt werden soll“.

Man hat Liebknecht und mir später öfter die Frage gestellt, was geworden wäre, wenn statt Preußen Oesterreich siegte. Traurig genug, daß nach den damaligen Verhältnissen nur noch diese Alternative vorhanden war, und eine Parteinahme gegen den einen als Parteinahme für den anderen angesehen wurde. Aber die Dinge lagen so. Meine Ansicht ist, daß für ein Volk, das sich in einem unfreien Zustand befindet, eine kriegerische Niederlage seiner inneren Entwicklung eher förderlich als hinderlich ist. Siege machen eine dem Volke gegenüberstehende Regierung hochmütig und anspruchsvoll, Niederlagen zwingen sie, sich dem Volke zu nähern und seine Sympathie zu gewinnen. Das lehrt uns 1806/07 für Preußen, 1866 für Oesterreich, 1870 für Frankreich, die Niederlage Rußlands im Kriege mit Japan 1904. Die russische Revolution wäre ohne jene Niederlage nicht gekommen, ja sie wäre durch einen Sieg des Zarentums auf lange Jahre unmöglich gewesen. Und ist die Revolution auch niederschlagen worden, das alte Rußland ist nicht mehr, sowenig wie das alte Preußen von 1847 noch nach 1849 bestand. Umgekehrt zeigt uns die Geschichte, daß, als das preußische Volk unter Darbringung gewaltiger Opfer an Gut und Blut Napoleons Fremdherrschaft gestürzt und die Dynastie aus der Patsche gerettet, letztere alle schönen Versprechungen vergessen hatte, die sie in der Stunde der Gefahr dem Volke gemacht. Es mußte erst nach langer Reaktionszeit das Jahr 1848 kommen, damit das Volk sich eroberte, was man ihm jahrzehntelang vorenthalten hatte. Und wie hat Bismarck nachher im norddeutschen Reichstag jede wirklich liberale Forderung zurückgewiesen. Er trat als Diktator auf.

Einmal angenommen, Preußen wäre 1866 unterlegen, so wäre das Ministerium Bismarck und die Junkerherrschaft, die noch bis heute wie ein Alp auf Deutschland lastet, fortgefegt worden. Das wußte niemand besser als Bismarck. Die österreichische Regierung wäre nach einem Siege nie so stark geworden, wie das bei der preußischen der Fall war. Oesterreich war und ist nach seiner ganzen Struktur ein innerlich schwacher Staat, ganz anders Preußen. Aber die Regierung eines starken Staates ist für dessen demokratische Entwicklung gefährlicher. In keinem demokratischen Staate gibt es eine sogenannte starke Regierung. Dem Volke gegenüber ist sie ohnmächtig. Höchstwahrscheinlich hätte die österreichische Regierung nach einem Siege versucht, in Deutschland reaktionär zu regieren. Aber sie hätte alsdann nicht nur das gesamte preußische Volk, sondern auch den größten Teil der übrigen Nation, einschließlich eines guten Teiles der österreichischen Bevölkerung, gegen sich gehabt. Wenn eine Revolution sicher war und Aussicht auf Erfolg hatte, so gegen Oesterreich. Die demokratische Einigung des Reiches wäre die Folge gewesen. Der Sieg Preußens schloß das aus. Und noch ein anderes. Der Ausschluß Deutsch-Oesterreichs aus der Reichsgemeinschaft – von der Preisgabe Luxemburgs nicht zu reden – hat zehn Millionen Deutsche in eine fast trostlose Lage versetzt. Unsere „Patrioten“ geraten in nationale Raserei, wird irgendwo im Ausland ein Deutscher mißhandelt, aber an dem Stück kulturellen Mords, der an den zehn Millionen Deutschen in Oesterreich begangen wurde, nehmen sie keinen Anstoß.

Uebrigens hatten wenige Jahre vor 1866 ähnliche Erörterungen unter unseren Großen stattgefunden, was erst später zu meiner Kenntnis kam.

In einem Briefe an Lassalle vom 19. Januar 1862 schrieb Lothar Bucher – also zwei Jahre vor seinem Eintritt in Bismarcks Dienste – über den Fall eines Krieges mit Frankreich, in dem Preußen siege: „Ein Sieg der Militärs, das heißt der preußischen Regierung, wäre ein Uebel.“

Mitte Juni 1859 schrieb Lassalle an Marx: „Nur in dem populären Krieg gegen Frankreich … sehe ich ein Unglück. In dem bei der Nation unpopulären Kriege aber ein immenses Glück für die Revolution….“ Lassalle ging noch weiter und führte aus: „Eine Besiegung Frankreichs wäre auf lange Zeit das konterrevolutionäre Ereignis par excellence. Noch immer steht es so, daß Frankreich, trotz aller Napoleons, Europa gegenüber die Revolution, Frankreichs Besiegung ihre Besiegung darstellt.“ Und Ende März 1860 schrieb Lassalle an Engels: „Nur zur Vermeidung von Mißverständnissen muß ich bemerken, daß ich übrigens auch im vorigen Jahre, als ich meine Broschüre schrieb (Der italienische Krieg), sehnlichst wünschte, daß Preußen den Krieg gegen Napoleon mache. Aber ich wünschte ihn nur unter der Bedingung, daß die Regierung ihn mache, er aber beim Volke unpopulär und so verhaßt wie möglich sei. Dann freilich wäre er ein großes Glück gewesen.“6 (Zugunsten der Revolution.)

Und in seinem Vortrag: Was nun?, den Lassalle im Oktober 1862 hielt, sagt er in der ersten Auflage auf Seite 33 bis 34: „Endlich aber ist die Existenz der Deutschen nicht von so prekärer Natur, daß bei ihnen eine Niederlage ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr für die Existenz der Nation in sich schlösse. Wenn Sie, meine Herren, die Geschichte genau und mit innerem Verständnis betrachten, so werden Sie sehen, daß die Kulturarbeiten, die unser Volk vollbracht hat, so riesenhafte und gewaltige, so bahnbrechende und dem übrigen Europa vorleuchtende sind, daß an der Notwendigkeit und Unveräußerlichkeit unserer nationalen Existenz gar nicht gezweifelt werden kann. Geraten wir also in einen großen äußeren Krieg, so können in demselben wohl unsere einzelnen Regierungen, die sächsische, preußische, bayerische, zusammenbrechen, aber wie ein Phönix würde sich aus der Asche derselben unzerstörbar erheben das, worauf es uns allein ankommen kann – das deutsche Volk.“ —

Der Ausgang des Krieges schien uns einen unerwarteten Erfolg in den Schoß werfen zu sollen. Eines Tages erschien Liebknecht freudestrahlend in meiner Werkstatt und teilte mir mit, er habe die „Mitteldeutsche Volkszeitung“ gekauft, die die Leipziger Liberalen preisgegeben hatten, weil das Defizit der Zeitung täglich größer wurde. Der Abonnentenstand des Blattes war in wenig Wochen von 2800 auf 1200 gefallen. Mich erschreckte diese Nachricht, denn wir hatten keinen Pfennig Geld, und es war ganz ausgeschlossen, daß wir unter den damaligen Verhältnissen das Blatt in die Höhe bringen konnten. Außerdem hatten wir mit der preußischen Okkupation zu rechnen. Liebknecht suchte mich zu trösten. Geld verlange der Verleger zunächst nicht, und was sonst nötig sei, würden wir schaffen. Er war glücklich, Besitzer eines Blattes zu sein, in dem er seine Ansichten vertreten konnte. Und das tat er weidlich und so gründlich, daß man glauben konnte, nicht die Preußen, sondern er sei Herr in Sachsen. Natürlich dauerte die Freude nicht lange. Das Blatt wurde unterdrückt. Ich war über diese Maßregel nicht erbost, obgleich ich mich hütete, ihm das zu sagen. Wir waren aus einer großen Verlegenheit gerettet worden, denn der kühne Plan, den wir gefaßt hatten, 5000 Anteilscheine à 1 Taler in den deutschen Arbeitervereinen unterzubringen, hätte ein großes Fiasko erlebt.

 
6Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels. Stuttgart 1902.