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Aus meinem Leben. Erster Teil

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Aus meinem Leben. Erster Teil
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Vorwort

Der Wunsch vieler meiner Parteigenossen, ich möchte meine Erinnerungen schreiben, trifft mit meinem eigenen Wunsche zusammen. Ist man wie ich durch die Gunst der Verhältnisse in eine einflußreiche Stellung gelangt, dann hat auch die Allgemeinheit ein Recht, die Umstände kennen zu lernen, die dazu führten. Aber auch die Menge falscher Anklagen und schiefer Urteile, mit denen ich so oft überschüttet wurde, lassen es mir gerechtfertigt erscheinen, der Oeffentlichkeit zu zeigen, was daran Wahres ist.

Dazu sind Offenheit und Wahrheit die ersten Erfordernisse, andernfalls hat es keinen Zweck, über sein Leben Veröffentlichungen zu machen. Der Leser meiner Aufzeichnungen, einerlei auf welcher Seite er steht oder zu welcher Partei er sich zählt, wird mir nicht den Vorwurf machen können, ich hätte vertuscht oder schön gefärbt. Ich habe die Wahrheit gesagt auch dort, wo mancher denken wird, ich hätte besser getan, sie zu verschweigen. Diese Ansicht teile ich nicht. Es gibt keinen fehlerlosen Menschen, und manchmal ist es das Bekenntnis eines Fehlers, das den Leser am lebhafteren interessiert und zur richtigen Beurteilung am besten befähigt.

Wollte ich nach Möglichkeit die Wahrheit schreiben, so konnte ich mich nicht auf mein Gedächtnis verlassen. Nach einer Reihe von Jahren läßt einen das Gedächtnis im Stich, selbst Vorgänge, die sich einem tief einprägten, erlangen im Laufe der Jahre unter allerlei Suggestionen eine ganz andere Gestalt. Ich habe diese Erfahrung häufig nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen gemacht. Ich habe nicht selten im besten Glauben Vorgänge früherer Jahre im Kreise von Bekannten und Freunden erzählt, die sich nachher, zum Beispiel durch aufgefundene Briefe, die unmittelbar unter dem Eindruck der Vorgänge geschrieben wurden, ganz anders darstellten. Das hat mich zu der Ansicht geführt: Kein Richter sollte über wenige Jahre eines Vorfalls hinaus einem Zeugen einen Eid abnehmen. Die Gefahr des Falscheides ist groß.

Um die Richtigkeit meiner Angaben und auch der Auffassungen, wie ich sie zu einer bestimmten Zeit hatte, festzustellen, habe ich nach Möglichkeit Briefe, Notizen, Artikel usw. benutzt.

Aber es gab Abschnitte in meinem Leben, in denen es gefährlich war, Briefe aufzubewahren, wollte ich nicht zum Denunzianten an anderen oder an mir selbst werden. Das war ganz besonders die Zeit unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes, während welcher ich jede Stunde Gefahr lief, einer Haus- und körperlichen Durchsuchung unterworfen zu werden, sei es, um Material für einen Prozeß gegen mich oder gegen andere zu gewinnen. Ich stand lange Zeit bei Polizei und Staatsanwälten in dem Rufe, ein gefährlicher Mensch zu sein, dem man nicht über den Weg trauen dürfe. Vielleicht nicht mit Unrecht. Aus denselben Gründen verbot sich aber auch die Führung eines Tagebuchs.

In der vorliegenden Veröffentlichung ist namentlich in bezug auf die antisozialistischen Arbeitervereine in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Material enthalten, das bisher nur teilweise bekannt war. Nachdem Ende Oktober letzten Jahres in Frankfurt a.M. L. Sonnemann gestorben ist, lebt außer mir keiner mehr, der die Geschichte jener Zeit so kennt und miterlebte wie ich, und dem auch das Material zur Verfügung stand. Ich hoffte, mit der Arbeit weiter zu kommen, als ich gekommen bin. Aber Krankheit, die mich fast zwei Jahre lang zu jeder anstrengenden Geistesarbeit unfähig machte, ließ es nicht zu. Behalte ich die nötige Gesundheit, so soll dem ersten in nicht zu langer Zeit ein zweiter und vielleicht ein dritter Teil folgen.

Schöneberg-Berlin, Neujahr 1910
A. Bebel.

[Illustration: Meine Geburtsstätte. Die Kasematte zu Deutz-Köln.]

Aus der Kinder- und Jugendzeit

Will man einen Menschen genauer beurteilen, so muß man die Geschichte seiner Kinder- und Jugendjahre kennen. Der Mensch kommt mit einer Anzahl Anlagen und Charaktereigenschaften zur Welt, deren Entwicklung von den ihn umgebenden Zuständen sehr wesentlich abhängt. Anlagen und Charaktereigenschaften können durch Erziehung und Beispiel der Umgebung gefördert oder gehemmt, ja bis zu einem gewissen Grade unterdrückt werden. Es hängt alsdann von den Verhältnissen im späteren Leben, öfter auch von der Energie der betreffenden Persönlichkeit ab, ob und wie fehlerhafte Erziehung oder unterdrückt gewesene Eigenschaften sich Geltung verschaffen. Das kostet oft genug einen schweren Kampf mit sich selbst, denn die Eindrücke, die der Mensch in seiner Kinder- und Jugendzeit empfängt, beeinflussen am meisten sein Fühlen und Denken. Was immer im späteren Leben die Verhältnisse aus dem einzelnen machen, die Eindrücke seiner Jugend wirken im guten wie im schlimmen Sinne auf ihn, und oft bestimmen sie sein Handeln.

Ich wenigstens muß eingestehen, daß die Eindrücke und Erlebnisse in den Kinder- und Jugendjahren mich häufig in einer Weise gefangen nahmen, daß ich Mühe hatte, mich ihrer zu erwehren, und ganz los geworden bin ich sie nie.

Der Mensch ist irgendwo geboren.

Mir wurde dieses Glück zuteil am 22. Februar 1840, an welchem Tage ich in der Kasematte zu Deutz-Köln das Licht der Welt erblickte. Mein Vater war der Unteroffizier Johann Gottlob Bebel in der 3. Kompagnie des 25. Infanterieregiments, meine Mutter Wilhelmine Johanna geborene Simon. Mein Taufschein weist nicht Deutz – das damals noch eine selbständige Gemeinde war —, sondern Köln als Geburtsort auf, offenbar weil die Deutzer Garnison zu jener der Festung Köln und zur gleichen Kirchengemeinde gehörte.

Das „Licht der Welt“, in das ich nach meiner Geburt blickte, war das trübe Licht einer zinnernen Oellampe, das notdürftig die grauen Wände einer großen Kasemattenstube beleuchtete, die zugleich Schlaf- und Wohnzimmer, Salon, Küche und Wirtschaftsraum war. Nach der Angabe meiner Mutter war es abends Schlag neun Uhr, als ich in die Welt trat, insofern „ein historischer Moment“, als eben draußen vor der Kasematte der Hornist den Zapfenstreich blies, bekanntlich seit „unvordenklichen Zeiten“ das Zeichen, daß die Mannschaften sich zur Ruhe zu begeben haben.

Prophetisch angelegte Naturen könnten aus dieser Tatsache schließen, daß damit schon meine spätere oppositionelle Stellung gegen die bestehende Staatsordnung angekündigt wurde. Denn streng genommen verstieß es wider die militärische Ordnung, daß ich als preußisches Unteroffizierskind in demselben Augenblick die Wände einer königlichen Kasemattenstube beschrie – und ich soll schon bei meiner Geburt eine recht kräftige Stimme gehabt haben —, in dem der Befehl zur Ruhe erlassen wurde.

Aber die so folgerten, täuschten sich. Es hat später noch geraumer Zeit bedurft, ehe ich mich aus den Banden der Vorurteile befreite, in die das Leben in der Kasematte und die späteren Jugendeindrücke mich geschlagen hatten.

Es ist nicht überflüssig, weil für die Beurteilung meiner selbst notwendig, hier einiges über meinen Vater und meine Mutter zu sagen. Mein Vater war in Ostrowo in der Provinz Posen geboren, als der Sohn des Böttchermeisters Johann Bebel. Ich glaube annehmen zu müssen, daß die Bebels aus dem Südwesten Deutschlands (Württemberg) nach dem Osten, etwa um die Reformationszeit, eingewandert sind. Feststellen konnte ich, daß um 1625 schon ein Bebel in Kreuzburg (Schlesien) lebte. Aber zahlreicher sind sie bis heute in Südwestdeutschland vorhanden. Auch kommt der Name Bebel seit der Reformationszeit durch Träger desselben in öffentlichen Stellungen vor. Ich erinnere an den Verfasser der „Facetiae“, den Humanisten Heinrich Bebel, der Professor in Tübingen war und 1518 starb. Ferner gab es einen Buchdrucker Johann Bebel in Basel, der um 1518 die Utopie des Thomas Morus herausgab. Ein Professor Balthasar Bebel lebte um 1669 in Straßburg i.E. und ein Dr. med. Friedrich Wilhelm Bebel um 1792 in Nagold in Württemberg. Der Name Bebel ist auch noch verballhornt als Böbel in Süddeutschland zu finden. Daß mein Vater vom Osten nach dem Westen verschlagen wurde, hatte seinen Grund darin, daß er mit seinem Zwillingsbruder August im Jahre 1828 in ein posensches Infanterieregiment, ich glaube in das 19., eintrat. Als dann im Jahre 1830 der polnische Aufstand ausbrach, hielt es die preußische Regierung für angemessen, die posenschen Regimenter aus der Provinz zu entfernen. Das Regiment, in dem mein Vater diente, wurde als Teil der preußischen Bundesgarnison nach der damaligen Bundesfestung Mainz verlegt. Dieser Umstand veranlaßte, daß mein Vater und meine Mutter sich kennen lernten.

Meine Mutter stammte aus einer alteingesessenen, nicht unbemittelten Kleinbürgerfamilie der ehemaligen freien Reichsstadt Wetzlar. Der Vater war Bäcker und Landwirt. Die Familie war zahlreich, und so trat meine Mutter, dem Beispiel der Töchter anderer Wetzlarer Familien folgend, die Wanderung nach Frankfurt a.M. an, woselbst sie als Dienstmädchen Stellung nahm. Von Frankfurt kam sie nach dem benachbarten Mainz und machte hier die Bekanntschaft meines Vaters. Als dann später das betreffende Infanterieregiment wieder nach der Provinz Posen zurückversetzt wurde, trat mein Vater in Rücksicht auf seine Braut, vielleicht auch, weil es ihm im Rheinland besser gefiel als in seiner Heimat, aus demselben aus und trat in das in Köln-Deutz garnisonierende 25. Infanterieregiment ein. Sein Zwillingsbruder August, mein Taufpate, folgte seinem Beispiel insofern, als dieser in das damals in Mainz garnisonierende 40. Infanterieregiment (8. rheinisches Füsilierregiment) übertrat.

Eine preußische Unteroffiziersfamilie der damaligen Zeit lebte in erbärmlichen Verhältnissen. Das Gehalt war mehr als knapp, wie denn zu jener Zeit überhaupt in der Militär- und Beamtenwelt Preußens Schmalhans Küchenmeister war, und so ziemlich jeder für Gott, König und Vaterland den Schmachtriemen anziehen und hungern mußte. Meine Mutter erhielt die Erlaubnis, eine Art Kantine führen zu dürfen, das heißt sie hatte das Recht, allerlei kleine Bedarfsartikel an die Mannschaften der Kasematten zu verkaufen, was in der einzigen Stube geschah, die wir inne hatten. So sehe ich sie im Geiste noch heute vor mir, wie sie abends bei der mit Rüböl gespeisten Lampe den Soldaten die steinernen Näpfe mit dampfenden Pellkartoffeln füllte, à Portion 6 Pfennig preußisch.

 

Für uns Kinder – mir war im April 1841 der erste Bruder und im Sommer 1842 der zweite geboren worden – war das Leben in den Kasematten ein Leben voller Wonnen. Wir trieben uns in den Kasemattenstuben umher, verhätschelt oder auch gehänselt von Unteroffizieren und Mannschaften. Waren aber die Stuben leer, weil die Mannschaften zu Uebungen ausgerückt waren, so begab ich mich auf eine derselben und holte die Gitarre des Unteroffiziers Wintermann, der auch mein Taufpate war, von der Wand, auf der ich dann so lange musikalische Uebungen betrieb, bis keine Saite mehr ganz war. Um diesen ungezügelten Musikübungen und ihren bösen Folgen eine entsprechende Ablenkung zu geben, schnitzte er mir aus einem Brett ein gitarreartiges Instrument, das er mit Darmsaiten bezog. Ich saß nunmehr mit diesem in Gesellschaft meines Bruders stundenlang auf der Türschwelle zu einem Hof in der Deutzer Hauptstraße und malträtierte die Saiten, was die beiden Töchter eines gegenüberwohnenden Dragonerrittmeisters so „entzückte“, daß sie uns öfter für meine musikalischen Leistungen mit Kuchen oder Konfekt regalierten. Natürlich litten unter diesen musikalischen nicht die militärischen Uebungen. Der Anreiz dazu lag ja in der ganzen Umgebung, er lag buchstäblich in der Luft. Sobald ich also die ersten Hosen und den ersten Rock anhatte, die selbstverständlich beide aus einem alten Militärmantel des Vaters gezimmert worden waren, stellte ich mich, ausgestattet mit der nötigen Bewaffnung, neben oder hinter die auf dem freien Platz vor der Kasematte übenden Mannschaften und ahmte ihre Bewegungen nach. Wie mir meine Mutter später öfter humorvoll erzählte, soll ich namentlich das rechts und links Aufrücken meisterlich fertig bekommen haben, eine Uebung, die den Mannschaften viel Schweiß verursachte und bei der ich ihnen manchmal von dem kommandierenden Offizier oder Unteroffizier als Muster hingestellt worden sein soll.

Meines Vaters Augen sahen aber allmählich das Kommißleben anders an wie sein Sohn. Er war zwar, wie uns meine Mutter öfter erzählte, gleich seinem Bruder ein außerordentlich gewissenhafter, pünktlicher und adretter Militär – ein sogenannter Mustersoldat —, aber er hatte zu jener Zeit bereits seine zwölf und mehr Jahre Militärdienstzeit auf dem Rücken, und stand ihm das Soldatenleben schließlich, wie man zu sagen pflegt, bis an den Hals. Der Dienst wurde damals wohl auch noch kleinlicher und engherziger betrieben als heute. Der Gamaschendienst feierte zu jener Zeit seine Orgien. An Unabhängigkeits- und Oppositionsgeist hat es meinem Vater offenbar auch nicht gefehlt, für den zu jener Zeit in der Rheinprovinz der rechte Boden war, und so kam er öfter in höchstem Zorn und mit Verwünschungen auf den Lippen vom Exerzierplatz in die düstere Kasemattenstube. Als im Jahre 1840 unter Louis Philipp und seinem Ministerium Thiers ein Krieg zwischen Frankreich und Preußen drohte, soll er eines Tages in höchster Empörung in die Stube getreten sein, weil nach seiner Ansicht ein blutjunger Offizier ihm zu nahe getreten war, und meiner Mutter zugerufen haben: „Frau, wenn es losgeht, die erste Kugel, die ich verschieße, gilt einem preußischen Offizier!“ Der Ausdruck „preußischer Offizier“ im Munde eines preußischen Unteroffiziers befremdet, er erklärt sich aber. Damals und noch viel später wurde von der Bevölkerung des preußischen Rheinlands jeder Offizier und Beamte einfach als „Preuß“ bezeichnet. Die Rheinländer fühlten sich noch nicht als Preußen. Mußte ein junger Mann Soldat werden, hieß es kurz: er muß Preuß (plattdeutsch „Prüß“) werden. Es gab sogar hierfür ein derbes Schimpfwort. Ich hörte noch im Frühjahr 1869, als ich mit Liebknecht in einer politischen Angelegenheit in Elberfeld war, daß in der Wirtsstube des Hotels, in dem wir wohnten, ein Gast zu den anderen sagte: „Was will denn der preußische Offizier hier?“, als er auf der Straße einen Offizier vorübergehen sah. Elberfeld hatte damals wie heute keine Garnison.

Die geschilderte Auffassung war offenbar auch meinem Vater geläufig geworden. Als er dann in den Jahren 1843 und 1844 nach fünfzehnjähriger Dienstzeit als schwer kranker Mann über Jahr und Tag im Militärlazarett verbringen mußte, den Tod und das Elend seiner Familie vor Augen, hat er die Mutter wiederholt in der nachdrücklichsten Weise gebeten, nach seinem Tode uns Jungen ja nicht für das Militärwaisenhaus einzugeben, weil damit die Verpflichtung zu einer späteren neunjährigen Dienstzeit in der Armee verbunden war. Bei dem Gedanken, daß die Mutter dieses dennoch aus Not tun könnte, rief er in seiner durch die Krankheit gesteigerten Erregung wiederholt aus: „Tust du es dennoch, ich erstech' die Jungen vor der Kompagnie.“ In seiner Erregung übersah er, daß er alsdann nicht mehr unter den Lebenden war.

Meinem Vater schlug insofern die Erlösungsstunde, als ihm im Frühjahr 1843 der Posten eines Grenzaufsehers angeboten wurde, für welchen Dienst er sich seit langem gemeldet hatte. Er nahm den Posten an, und so zog die Familie teils zu Fuß, teils auf dem Frachtwagen sitzend, der die Möbel trug – denn eine Eisenbahn gab es zu jener Zeit in jener Gegend noch nicht —, nach Herzogenrad an der belgischen Grenze. Aber unseres Bleibens war hier nicht lange. Noch war die dreimonatige Probezeit nicht zu Ende, so hatte sich mein Vater infolge des anstrengenden Nachtdienstes eine schwere Erkrankung zugezogen. Muskelentzündung nannte es meine Mutter, ich vermute, es war Gelenkrheumatismus, wozu sich die Schwindsucht gesellte. Da durch den Nichtablauf der Probezeit mein Vater noch nicht aus dem Militärverhältnis entlassen war, mußten wir mit dem schwerkranken Manne dieselbe Reise in derselben Weise wieder nach Köln zurücklegen. Ein sehr schweres Stück für meine Mutter. In Köln angekommen, wurde der Vater in das Militärlazarett geschafft, und uns wurde wieder eine Stube in den Deutzer Kasematten, diesmal hinten nach dem Wallgraben hinaus, angewiesen. Nach dreizehnmonatiger Krankheit starb der Vater, 35 Jahre alt, ohne daß die Mutter die Berechtigung zum Bezug einer Pension hatte. Wir mußten kurz nach dem Tode des Vaters die Kasematte verlassen, und die Mutter wäre schon jetzt gezwungen gewesen, nach ihrer Heimat Wetzlar überzusiedeln, wenn nicht der Zwillingsbruder des Vaters, August Bebel, sich der Mutter und unserer annahm. Um diese Pflicht besser erfüllen zu können, entschloß er sich, Herbst 1844, meine Mutter zu heiraten.

Dieser mein Stiefvater war im September 1841 wegen Ganzinvalidität mit einem Gnadengehalt von zwei Talern monatlich aus dem Dienst im 40. Infanterieregiment entlassen worden. Ursache der Invalidität war der Verlust der Kommandostimme infolge einer Kehlkopfentzündung, die später ebenfalls in Schwindsucht ausartete. Er hatte nach Aufgabe seiner Stellung im Regiment nahezu zwei Jahre als Polizeiunteroffizier im Militärlazarett in Mainz fungiert und hatte alsdann provisorisch die Stelle eines Revieraufsehers in der Provinzial-Korrektionsanstalt Brauweiler bei Köln angenommen. Seine eigentliche Absicht war, bei der Post in Dienst zu treten. Aber damals befand sich das Postwesen noch in Stagnation. Sollte eine Stelle besetzt werden, so mußte meist erst ein bisheriger Stelleninhaber sterben oder pensioniert werden, ehe eine solche frei wurde. Bezeichnend für die Art des Postdienstes jener Zeit ist, daß, als mein Stiefvater im Sommer 1844 nach Ostrowo an seinen Bruder schrieb, um eine ihm nötige amtliche Vollmacht für seine Heirat zu erwirken, er auf der Adresse des zufällig in meinen Händen befindlichen Briefes vermerkte: „Absender bittet um baldige Abgabe.“ Die Briefbestellung war also damals offenbar eine seltene und auch säumige. Die gewünschte Stelle bei der Post als Briefträger wurde meinem Stiefvater nach mehrjährigem Warten endlich im Oktober 1846 angetragen, als er eben auf der Totenbahre lag.

Wir siedelten im Spätsommer 1844 nach Brauweiler über. Mein nunmehriger Vater hatte hier in der großen Provinzialanstalt sicher den schwersten Dienst. Er war unter anderem auch Aufseher der Gefangenenanstalt, die sich dort für die Arbeitshäusler befand, die wegen Vergehen in der Anstalt zu Gefängnis verurteilt wurden. Die Anstalt bildete einen großen Komplex von Gebäuden und Höfen und umschloß auch Gartenland. Das alles war mit einer hohen Mauer umzogen. Männer, Frauen und jugendliche Insassen waren voneinander getrennt. Um nach dem Arresthaus zu gelangen, in dem sich auch unsere Wohnung befand, mußte man über mehrere Höfe schreiten, die durch schwere verschlossene Türen voneinander getrennt waren. Das Arresthaus war also von jeder menschlichen Umgebung abgeschieden. Allabendlich, sobald die Dämmerung eintrat, flogen Dutzende von Eulen in allen Größen mit ihrem Gefauche und Gekrächze um das Gebäude und jagten uns Kindern Angst und Schrecken ein. Der Aufenthalt dieser Eulen war der Turm der nahen Kirche. Auch sonst war dieser Aufenthalt für uns Kinder, und vermutlich auch für meine Eltern, kein erfreulicher. Der Dienst meines Vaters, der morgens um 5 Uhr begann und bis zum späten Abend währte, war ein sehr anstrengender und mit viel Aerger verknüpft. Die Art der damaligen Gefangenenbehandlung war eine grausame. Ich habe mehr als einmal mit angesehen, daß junge und ältere Männer, die extra schwer bestraft wurden, sich der scheußlichen Prozedur des Krummschließens unterziehen mußten. Dieses Krummschließen bestand darin, daß der Delinquent sich auf den Boden der Zelle auf den Bauch zu legen hatte. Alsdann bekam er Hand- und Fußschellen angelegt. Darauf wurde ihm die rechte Hand über den Rücken hinweg an den linken Fuß und die linke Hand ebenfalls über den Rücken an den rechten Fuß gefesselt. Damit noch nicht genug, wurde ihm ein leinenes Tuch strickartig um den Körper über Brust und Arme auf dem Rücken scharf zusammengezogen. So als lebendes Knäuel zusammengeschnürt, mußte der Uebeltäter zwei Stunden lang auf dem Bauch liegend aushalten. Alsdann wurden ihm die Fesseln abgenommen, aber nach wenigen Stunden begann die Prozedur von neuem.

Das Gebrülle und Gestöhne der so Mißhandelten durchtönte das ganze Gebäude und machte natürlich auf uns Kinder einen schauerlichen Eindruck.

Hier in Brauweiler besuchte ich schon von Herbst 1844 ab, erst vierundeinhalb Jahre alt, die Dorfschule, und zwar wurde ich in diesem jugendlichen Alter als „Freiwilliger“ aufgenommen. Kehrten wir Kinder aus dieser zurück, so mußten wir eines der Anstaltstore passieren, das eine Schildwache zu öffnen hatte. Eines Tages aber waren wir starr vor Ueberraschung, als der Posten die Tür öffnete und wir statt des bisher im Gebrauch gewesenen Tschakos einen glänzenden Helm von sehr bedeutender Höhe auf seinem Haupte thronen sahen. Diese ersten Helme waren im Vergleich zu ihren Nachfolgern in der Jetztzeit wahre Ungetüme und entsprechend schwer. Wir erholten uns von unserer Ueberraschung und unserem Staunen erst, als der Posten uns zuherrschte: „Jungs, macht, daß ihr hereinkommt, oder ich schlage euch die Tür vor der Nase zu!“

Das Leben für uns Kinder war in der Anstalt nicht sehr abwechslungsreich. Es spielte sich in der Hauptsache innerhalb eines Teiles der Anstaltsmauern ab. Auch wurde unser Vater, der ein sehr strenger Mann war und dem es an Aerger nicht fehlte, immer reizbarer, eine Reizbarkeit, die durch die mittlerweile bei ihm zum Ausbruch gekommene Schwindsucht immer mehr zunahm. Die Mutter und wir Kinder hatten darunter viel zu leiden. Mehr als einmal mußte die Mutter dem Vater in die Arme fallen, wenn dieser in maßloser Erregung schwere körperliche Züchtigungen an uns vollzog. Sind Prügel der höchste Ausfluß erzieherischer Weisheit, dann muß ich ein wahrer Mustermensch geworden sein. Aber was ich geworden bin, wurde ich wohl trotz der Prügel.

Andererseits wieder war der Vater aufs emsigste für unser Wohl bemüht, denn er war trotz alledem ein gutherziger Mann. Konnte er uns zum Beispiel zu Weihnachten, Neujahr oder Ostern eine Freude bereiten, so geschah es, soweit es die bescheidenen Mittel erlaubten. Und sehr bescheiden waren diese. Neben freier Wohnung (zwei Stuben), Heizung und Licht empfing der Vater monatlich etwa acht Taler Gehalt. Damit mußten fünf, später vier Menschen auskommen, da mein jüngster Bruder, ein bildhübsches Kind und der Liebling des Vaters, Sommer 1845 starb.

Die Krankheit meines Vaters machte unterdes rapide Fortschritte. Bereits am 19. Oktober 1846 starb er nach etwa zweijähriger Ehe. So war meine Mutter binnen drei Jahren zum zweitenmal Witwe und wir vaterlose Waisen. Auch aus dieser Ehe hatte die Mutter keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung. Nunmehr blieb ihr nichts übrig, als nach ihrer Heimat Wetzlar überzusiedeln. Anfang November wurden abermals die Siebensachen auf einen Wagen geladen – die heutigen Möbelwagen gab es wohl zu jener Zeit noch nicht – und wurde die Reise nach Köln angetreten. Das Wetter war häßlich. Es war kalt und regnerisch. In Köln wurde der Hausrat am Rheinufer unter freiem Himmel aufs Pflaster gesetzt, um von dort per Schiff nach Koblenz und von dort wieder per Wagen das Lahntal hinauf nach Wetzlar transportiert zu werden. Als wir abends gegen 10 Uhr die Schiffskajüte zur Fahrt nach Koblenz betraten, war diese mit Menschen überfüllt und herrschte ein Tabaksqualm zum Ersticken. Da uns niemand Platz machte, legten wir zwei Jungen, todmüde wie wir waren, uns dicht an der Tür auf den Fußboden und schliefen, wie nur müde Kinder schlafen können. Den fünften oder sechsten Tag kamen wir endlich in Wetzlar an, in dem damals noch meine Großmutter und vier verheiratete Geschwister – drei Schwestern und ein Bruder – meiner Mutter lebten.

 

Unsere eigentliche Jugendzeit verlebten wir jetzt hier. Wetzlar, eine kleine, romantisch gelegene Stadt, besaß damals eine ganz vortreffliche Volksschule. Zunächst kamen wir beide in die Armenschule, die sich in einem großen Gebäude, dem Deutschen Haus, das ehemals den deutschen Ordensrittern gehörte, befand. In dem großen Vorhof zu diesem Gebäude steht links das einstöckige Haus, in dem einst Charlotte Buff, die Heldin in Goethes Werther, wohnte. Der Zufall wollte, daß ich später mehreremal in diesem Hause übernachtete, als einer meiner Vettern Cicerone für das Charlotte-Buff-Zimmer wurde. Ich kann mich auch noch der Feier zum hundertsten Geburtstag Goethes (1849) erinnern, die am Wildbacher Brunnen stattfand, woselbst sich die Goethelinde befindet. Der Brunnen heißt seit jener Zeit Goethebrunnen. Zehn Jahre später wohnte ich der Feier zu Schillers hundertstem Geburtstag im Salzburger Stadttheater bei.

Nach einigen Jahren wurde die Armenschule mit der Bürgerschule verschmolzen, wir hießen jetzt Freischüler; die Mädchen erhielten das Deutsche Haus als Schulhaus angewiesen.

Mit der Schule und den Lehrern fand ich mich im ganzen sehr gut ab, nur mit dem Kantor nicht, der mir nicht hold war. Ich gehörte zu den besten Schülern, was namentlich unseren Lehrer der Geometrie, ein kleiner prächtiger Mann, veranlaßte, mich mit noch zwei Kameraden extra vorzunehmen und uns in die Geheimnisse der Mathematik einzuweihen. Wir lernten mit Logarithmen rechnen. Neben Rechnen und Geometrie waren meine Lieblingsfächer Geschichte und Geographie. Religion, für die ich keinen Sinn hatte – und meine Mutter, eine aufgeklärte und freidenkende Frau, quälte uns zu Hause nicht damit —, lernte ich nur, weil ich mußte. Ich war zwar auch hier mit an der ersten Stelle, aber das verhinderte nicht, daß ich namentlich in der Katechumenenstunde dem Oberpfarrer einigemal Antworten gab, die gar nicht ins Schema paßten und mir kleine Strafpredigten eintrugen.

Im übrigen war unser Oberpfarrer ein sehr ehrenwerter Mann und durchaus kein Frömmling, was aber, nebenbei bemerkt, nicht verhinderte, daß man ihm eines Tages, richtiger in einer Nacht, einen losen Streich spielte. In Wetzlar bestand zu jener Zeit die Sitte, sie besteht vielleicht auch heute noch, die im Spätherbst oder Winter geschlachteten Gänse eine Nacht der Durchfrierung auszusetzen, das soll dem Geschmack des Bratens förderlich sein. Die Gans wurde also in respektvoller Höhe, in der Regel vor das Fenster gehängt. So auch bei Oberpfarrers. Aber am nächsten Morgen war die Gans verschwunden. Dagegen hing am darauffolgenden Morgen das fein säuberlich abgenagte Gerippe der Gans am Glockenzug der Haustür und daran befestigt ein Zettel, auf dem das schöne Verslein stand:

 
Guten Morgen, Herr Schwager!
Gestern war ich fett und heut bin ich mager!
 

Ganz Wetzlar lachte, denn in einer kleinen Stadt sprechen sich derartige Vorkommnisse rasch herum. Ich nehme an, auch der Oberpfarrer lachte.

Wenn ich aber fleißig lernte und überall im Können mit an der Spitze stand, so stand ich auch an der Spitze der meisten losen Streiche, die nun einmal bei Jungen, die ein größeres Maß Bewegungsfreiheit haben, unausbleiblich, ja selbstverständlich sind. Das brachte mich in „sittlicher“ Beziehung in einen üblen Ruf. Namentlich genoß ich diesen bei unserem Kantor, der das Departement des Aeußern zu vertreten hatte, das heißt, der all die bösen Streiche, die der Schule gemeldet wurden, an den Attentätern zu bestrafen hatte. Wieso er, statt des Rektors, zu dieser Rolle kam, weiß ich nicht. Vielleicht daß sein Dienstalter oder seine Körperfülle oder ein Gewohnheitsrecht ihn dazu prädestinierte. Auch wußte er mit unnachahmlicher Grazie und sehr wirksam den Bakel zu schwingen. Weniger schmerzte es, wenn er mit seinen kleinen fetten Händen uns rechts und links ins Gesicht fuhr, daß es nur so klatschte. Aber auch in einem solchen Moment konnte ich nicht unterlassen, die kleinen fetten Hände zu bewundern.

Unsere Haupttummelplätze waren die nächste Umgebung des Domes, das alte Reichskammergerichtsgebäude, dessen große Räume jahrelang als Lagerplatz einem Gastwirt dienten, die große Burgruine Kalsmunt vor der Stadt, die Felsenpartien an der Garbenheimer Chaussee – der Ort Garbenheim besitzt ebenfalls Erinnerungen an Goethe —, auf deren Felsplatten wir unsere „Festungen“ errichteten, die alte Stadtmauer und vor allem die auf einem Hochplateau gelegene Garbenheimer Warte, von der aus wir im Herbste unsere Raubzüge in die Kartoffelfelder unternahmen, um Kartoffeln zum Braten zu holen. Eines Tages mußten wir dafür eine mehrstündige Belagerung durch eine Bauernfamilie aushalten, die wir aber siegreich abschlugen. Die Streifereien durch Wald und Flur, namentlich während der Ferien, waren zahllos.

Auch war das Obststrippen, wie wir es nannten, eine Lieblingsbeschäftigung im Sommer und Herbste, denn die Umgebung Wetzlars ist sehr obstreich. Die Lahn, ein ganz respektabler Fluß, gab im Sommer die gewünschte Badegelegenheit und im Winter die Möglichkeit zum Schlittschuhsport. Bei einer solchen Gelegenheit passierte es, daß mein Bruder hart neben mir in ein leicht zugefrorenes Loch einbrach und unzweifelhaft unter das Eis geraten und ertrunken wäre, breitete er nicht unwillkürlich die Arme aus, die ihn oben hielten. Ein Kamerad und ich zogen ihn aus dem Wasser und brachten ihn auf eine Felsplatte an der Garbenheimer Chaussee. Hier mußte er sich entkleiden, wir borgten ihm einzelne Kleidungsstücke von uns und rangen dann seine Kleider aus, die wir in der ungewöhnlich warmen Februarsonne trockneten. Die Mutter erfuhr erst nach Monaten den Unfall ihres Zweiten, was dadurch ermöglicht wurde, daß wir unsere Kleider selbst reinigten, auch, so gut es ging, selbst flickten, um die Risse dem Auge der Mutter zu verbergen.

Das Jahr darauf half ich einem meiner Vettern, der einige Jahre älter war als ich, bei ähnlicher Gelegenheit das Leben retten. Dieser, ein vorzüglicher Schlittschuhfahrer, kam eines Tages in sausender Fahrt die Lahn herunter und fuhr auf ein Wehr zu, wobei er infolge der spiegelblanken Eisfläche nicht sah, daß vor dem Wehr ein breiter Streifen offenes Wasser war. Voll Schrecken schrie ich ihm zu, umzukehren. Er gehorchte auch. Aber es war zu spät. Als er den Ausweichbogen beschrieb, brach er ein. Krampfhaft hielt er sich am Eis fest, sobald er aber den Versuch machte, ein Bein auf dasselbe zu bringen, brach es von neuem. Rasch riß ich jetzt einen langen gestrickten wollenen Schal, wie sie damals allgemein getragen wurden, vom Hals, nahm einen zweiten von einem neben mir stehenden Kameraden, knüpfte beide zusammen und warf das eine Ende meinem Vetter zu, das er glücklich erhaschte. Jetzt zogen wir ihn langsam auf festes Eis. Er war gerettet.