Ich kann mir die Arbeit nicht leisten

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Ich kann mir die Arbeit nicht leisten

von

Rainer Voigt

Engelsdorfer Verlag

2015

Dieses Buch beschreibt einen Feldversuch am lebenden Menschen. Frank-Peter Sommer hat am eigenen Leib durchlebt, was es heißt, arbeitslos zu sein und allein wegen seines frühen Geburtsdatums gar nicht mehr zu Vorstellungsgespräche eingeladen zu werden. In der Regel verhinderte das familiäre Umfeld den Absturz in tiefere finanzielle Abgründe. Die seelischen Folgen eines solchen Absturzes auf Hartz-IV Niveau sind auch nicht zu unterschätzen. Bekanntermaßen spaltet dieses Thema die Nation. Während die einen sagen, für Nichtstun gibt es zu viel Geld, behaupten die Anderen, dieses Geld reicht nicht zum Leben. Die einen meinen, es macht bei der Fülle staatlicher Fürsorge keinen Sinn zu arbeiten und wiederum andere, der Staat ist nicht in der Lage, allen Menschen eine Arbeit zu ermöglichen. Man ist sich quasi selbst überlassen und muss als Alternative einen der inzwischen Gott sei Dank auslaufenden Ein-Euro-Jobs annehmen. Oft sind Arbeitsangebote in kleinen Firmen auch nicht anders – zum Teil mit Konditionen sogar unterhalb von Hartz-IV. Die zunehmende Zahl der so genannten „Aufstocker“, also derjenigen, die trotz Volltimejob noch Stütze bekommen, unterstreicht diese Tendenz1. Dabei haben viele von denen, die darüber reden, diese Situation nicht selbst erlebt. Vor allem die salbungsvollen Bemerkungen der meisten Politiker gehören eher zur Satire als zur Politik. Deshalb war es dem Protagonisten wichtig, die Erfahrungen selbst zu machen und nicht dem Gehörten über Dritte oder dem Schwager des Onkels des Nachbarn auf den Leim zu gehen. Natürlich ist alles gespickt mit den Erfahrungen, die in einem langen Arbeitsleben bereits gemacht wurden und den vielfältigen Problemen des Alltags, die auch Arbeitslosengeldempfänger bewältigen müssen. Herausgekommen ist ein authentisches Spiegelbild unserer Gesellschaft. Lösungen der Probleme werden nicht vorgegeben. Was ganze Generationen von schlauen Wissenschaftlern nicht in der Lage sind zu postulieren und die Lenker der Nation in Persona gut bezahlter Politiker nicht fertig bringen, kann man von einem kleinen Durchschnittsbürger schlichtweg nicht erwarten. Aber das Buch wird hoffentlich zum Nachdenken anregen und manchem das Erkennen der Schieflage der derzeitigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage erleichtern.

Trotz alledem sind alle Handlungen frei erfunden oder so anonymisiert, dass keine Rückschlüsse auf die tatsächlichen Handlungen oder Personen möglich sind. Sollte es Ähnlichkeiten mit heute lebenden Personen geben, hat dieses nichts mit dem in diesem Buch beschriebenen Sachverhalten zu tun.

Zum Autor

Rainer Voigt, Jahrgang 1952, ist „Autor aus Leidenschaft“. Nach einer Wendegeschichte aus dem Osten, zwei Science Fiktion nicht ohne Anspruch und einem humoristischen Unterhaltungsbuch, widmet er sich erneut der aktuellen Geschichte zu. Seinen Lebensunterhalt verdient er im turbulenten deutschen Arbeitsmarkt als Elektriker, Konstrukteur, oder Vertriebsingenieur, immer auf der Suche nach einer neuen Geschichte.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto © Tino Hemmann

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Zum Buch / zum Autor

Impressum

1. Vorstellung

2. Arbeitslos

3. Frank-Peters Mutter

4. Rückblick

5. Der neue Start

6. Ein verheißungsvoller Arbeitgeber

7. Wieder beim Entsorger

8. Historie - Aufbauhilfe West

9. Die nächste Etappe

10. Rückzahlung eines Knöllchens!

11. Wieder ein Wechsel

12. Das Pflegeheim

13. Zurück zu den Baustellen

14. Mindestlohn

15. Ohne Worte

16. Neue alte Arbeitsstelle

17. Neue Hoffnung

18. Neue alte Baustelle

19. Das neue Jahr mit Festanstellung

20. Ein Körnchen Wahrheit

21. Eine gefährliche Situation

22. Günther

23. Das Leben geht weiter

24. Burn out?

25. Wer hat, bekommt auch

26. Abstand

27. Fazit

28. Quellennachweis

29. Werke des Autors im selben Verlag

Fußnoten

Ich kann mir die Arbeit nicht leisten

1. Vorstellung

Es ist die Geschichte von Frank-Peter Sommer, einem Bürger, den man als normal einschätzen kann. Aber in all den Jahren, die er nun schon im Berufsleben ist bzw. ab und zu auch nicht, sind ihm so viele Dinge passiert, die man eigentlich der Fiktion zuschreiben würde. Oft saß Frank-Peter Sommer mit seiner Frau abends bei einem Bier oder einem Glas Rotwein zusammen und sie erzählten sich gegenseitig, was während des Tags so passiert war. Sie meinte dann, dass er das doch mal aufschreiben solle. Und auch wenn sich seine Nachbarin Waltraud, mit der sie schon seit Jahren befreundet sind, zu ihnen gesellte und sie ihren Geschichten lauschten kam wieder dieses Gefühl auf, dass man über solche spannenden, traurigen und teilweise frustrierenden Alltagsgeschichten viel zu wenig von den Leuten, die es selbst erlebt haben, aus erster Hand liest. Außerdem lernt man auf dem Bau interessante Leute kennen, die gern auch ihre authentischen Erfahrungen weitergeben. In Büchern und Filmen geht es doch meistens nur um Action oder Romanzen, und am besten alle mit einem Happy End. Leider funktioniert das im wahren Leben eher selten. Frank-Peter Sommer fing also an Tagebuch zu führen und solche Geschichten zu sammeln, die ihm so im Alltag passiert sind.

Frank-Peter Sommer hat Elektriker gelernt, damals, in der DDR. Da wurde den Lehrlingen in einem Großbetrieb nicht nur das schmale Fachwissen eingebläut, das nur für einen bestimmten Arbeitsplatz der auszubildenden Firma reichte, sondern es gab eine sehr umfangreiche Ausbildung. Beim Elektriker gab es zum Beispiel praktische Arbeiten bei der Wohnungsinstallation, Schaltschrankbau, Maschinen und Anlagen sowie Freileitungen und Kabel. Man konnte mit dieser Ausbildung in allen Bereichen bestehen. Gleichzeitig konnte er in dieser Ausbildung das Abitur erwerben. Nach dieser Ausbildung hat Frank-Peter Sommer ein Direktstudium zum Hochschulingenieur für Informationselektronik absolviert. Zugegeben, die Computertechnik, wie wir sie heute verstehen, steckte noch in den Kinderschuhen, ist mit der heutigen Technik nicht vergleichbar. Die Ausbildung beinhaltet aber die Grundlagen für eine Einarbeitung in nahezu jedes Fachgebiet. Lange arbeitete er auch in diesem Fach, projektierte Telefonanlagen kümmerte sich um die sichere Gestaltung von Maschinen und Produktionsabläufen. Die Wende beendete abrupt diese Arbeit.

 

Dann kamen erste Weiterbildungen, die zwar die verlernten Englisch-Kenntnisse auffrischten und den Anschluss an die Computernutzung brachten, aber auch viel warme Luft enthielten. Dermaßen ausgerüstet und nachgebildet konnte er in einer Kleinstadt in der Nähe von Leipzig das örtliche Kabelfernsehen mit aus der Taufe heben. Von der Planung bis zur Realisierung konnte er so Erfahrungen sammeln, die ihm später sehr hilfreich waren. Die neuen Firmenstrukturen waren noch nicht gefestigt und Aufgaben nicht in ausreichendem Maße verfügbar, so dass weitere Betriebswechsel und Lehrgänge folgten.

2. Arbeitslos

Ein Jahr war Frank-Peter Sommer schon arbeitslos, bereits ein ganzes Jahr! In dieser Zeit ist viel passiert. Die turnusmäßigen Besuche beim Arbeitsamt, die Durchforstung der auf einer Internetplattform des Arbeitsamtes für ihn bereitgestellten Arbeitsangebote, das zigfache Kopieren der Bewerbungsunterlagen und deren Versendung mit jeweils einem separaten Anschreiben, alles hielt ihn ordentlich auf Trab. Wenn man diese Bewerbungen gewissenhaft betreibt, bleibt kaum „Freizeit“. Außerdem besuchte er häufig seine Mutter, die unweit von ihm wohnte und half ihr beim Einkauf und anderen täglichen Dingen, über die noch berichten wird.

An Bewerbungen hat es Frank-Peter Sommer wahrlich nicht mangeln lassen. Seine Hoffnung, die Spezialisierung in einem CAD-Computerprogramm in die Waagschale zu werfen, ging leider nicht auf. Vermutlich hatte er ein Kainsmal in Form seines Geburtsjahres auf der Stirn. Vom Arbeitsamt, oder wie es neu heißt, von der Agentur für Arbeit oder Arbeitsagentur, der Begriff Jobcenter wird ab 2011 folgen, die wechselnden Namen sind für ihn irrelevant, kam bezüglich seiner Ingenieurqualifikation und seiner nachgewiesenen Erfahrungen nichts, gar nichts. Man beschränkte sich ausschließlich darauf, seine Berufsqualifizierung als Elektriker als einziges Kriterium zu verwenden. Aber in der Regel gab es bei den von der Arbeitsagentur vermittelten Stellen überhaupt keine Reaktion, nicht einmal telefonisch waren einige dieser Firmen erreichbar. Oder es waren Zeitarbeitsfirmen und private Arbeitagenturen. Wieso können die privaten Arbeitsagenturen die Aufgaben, die eigentlich die behördliche Arbeitsagentur selbst machen müsste, von dieser vermittelt bekommen? Gibt es hier Absprachen auf höherer Ebene, auf diese Art und Weise die Zeitarbeitsfirmen zu füttern und damit das Lohnniveau um einen deutlichen Betrag zu senken? Mehr als zwei Drittel der Vermittlungsvorschläge dieser privaten Arbeitsagenturen waren dann auch Beschäftigungsverhältnisse bei Zeitarbeitsfirmen und fast ausschließlich bundesweite Montage. In einem Gespräch mit einer Mitarbeiterin der Arbeitsagentur erfuhr Frank-Peter Sommer sehr viel später, dass viele dieser Mitarbeiter nur befristet angestellt sind und nach kurzer Zeit selbst wieder entlassen werden. Damit fehlt denen die Motivation für mehr Engagement im Job. Es sind halt auch nur arme Schlucker.

Weit mehr Aktivitäten als von der Agentur kamen deshalb von Frank-Peter Sommer selbst. Er durchforschte die Tageszeitungen ständig nach infrage kommenden Arbeitsplätzen, notierte sich die Telefonnummern und Emailadressen von Firmenfahrzeugen, die er in der Stadt sah und versuchte diese Firmen zu kontaktieren. Auch die Gelben Seiten wurden von ihm intensiv unter die Lupe genommen. Nach Drohungen der Agentur für Arbeit, flexibler werden zu müssen und auch einer Montagetätigkeit aufgeschlossen gegenüber zu stehen, schloss Frank-Peter Sommer, inzwischen 58 Jahre alt, einen Vertrag mit einer Zeitarbeitsfirma, die ihm vollmundig versprach, einen Einsatz im Tagespendelbereich zu gewährleisten. Das war ihm wichtig, denn er hatte die Betreuung seiner Mutter übernommen und die unzähligen Behördengänge ließen sich nicht mit einer Montagetätigkeit unter einen Hut bringen.

3. Frank-Peters Mutter

Das Schicksal hatte es mit der Mutter von Frank-Peter Sommer nicht immer gut gemeint. Ihr egozentrischer Charakter mit hypochondrischen Elementen war nicht förderlich, mit Männern auf Dauer gut zusammen leben zu können. Viele Episoden aus ihrer Jugend, die symptomatisch für die Erklärung ihres Charakters waren, erfuhr er sehr viel später von seinem Vater und der Schwester seiner Mutter. Nach der Scheidung von ihrem ersten Mann, seinem Vater, kurz vor der Silberhochzeit lernte sie mit knapp 50 Jahren einen 14 Jahre jüngeren Arbeitskollegen kennen. Dass dieser bis dahin Junggeselle geblieben war, erregte keinen Argwohn in ihr. Nach der unausweichlichen Scheidung, der zweiten, versicherte sie sich nach einiger Zeit doch wieder der Arbeitskraft ihres zweiten „Ex“, derer sie vor allem im Garten bedurfte. Nur hatte dieser jetzt wieder eine eigene Wohnung und damit ein Rückzugsgebiet. Trotzdem war er immer öfter in der Wohnung seiner Mutter, die nach kurzer Zeit wieder anfing, Kleinlichkeiten zum Streit zu suchen. Wenn sie in der Stube war, saß er in der Küche am zweiten Fernsehgerät. Den zusätzlichen Stromverbrauch des Fernsehers, die fehlende Hilfe im Haushalt, die sie erwartete, weil sie ihn bekochte und auch seine Wäsche wusch, kurz, es kam immer häufiger zum Streit, bei dem sicher auch ihr Ex nicht immer schuldlos war. Es gab keine größeren Reisen mehr, die sie anfangs mit ihrem zweiten Ehemann gern unternommen hatte. Frank-Peter Sommer hatte ihr ein Auto sehr günstig überlassen, weil er sich in seiner Familie zu dieser Zeit kein zweites Auto mehr leisten konnte. Diesen Skoda Favorit kaufte er nach der Wende als Neuwagen für weniger als 12.000 DM (!). Das Auto wurde nur von seiner Frau für ihre Fahrten zur Arbeit gebraucht. Mit diesem, „ihrem“ Auto fuhr ihr Ex sie nun gelegentlich zu gewünschten Zielen, mehr nutzte dieser das Auto aber für sich, was auch wieder Streit provozierte.

Als ihre Wohnung wegen der hohen Leerstandsquote in ihrem Dorf nicht mehr vom Vermieter gewartet und dem Verfall preisgegeben wurde, musste eine neue gesucht werden. Frank-Peter Sommer suchte eine in seiner Nähe, eine in der großen Stadt. Einmal konnte er ihr so besser helfen, wenn Hilfe gefordert war, zum anderen dachte er damals noch leichtgläubig, dass seine Kinder von der Oma verwöhnt werden könnten. Je mehr Zeit sie hatte, umso mehr Argumente erfand sie, dass es für sie unzumutbar wäre, den Enkeln mal ein Mittagessen zuzubereiten. „Ich soll wohl für die Enkel kochen? Dann kommt jeder zu einer anderen Zeit und ich muss die ganze Zeit das Essen warm halten. Und dann mäkeln sie vielleicht, weil ihnen mein Essen nicht schmeckt.“ Den Umzug bewältigte er nahezu allein. Der Balkon ihrer neuen Wohnung in der großen Stadt glich einem Garten. Über 30 Tomatenpflanzen versorgten sie mit Gemüse. Dazu kamen nahezu alle Küchenkräuter und jede Menge Blumen. Die Beschaffung der Blumenerde, deren Entsorgung im Spätherbst, alles waren Aufgaben für Frank-Peter Sommer. Aber zunehmend wurde sie bösartig. Zuerst gegen seine Kinder, dann gegen seine Ehefrau, selbst den Hausmeister zeigte sie mehrfach bei der Polizei an, weil dieser angeblich über die Feuerleiter Steine2 von ihrem Balkon geklaut haben sollte. Fast täglich vermutete sie Einbrüche in ihren Keller und wusste sofort den oder die Schuldigen. Nur gab es am Keller keinerlei Einbruchspuren. Zentimeterdick lag der Staub am Metallprofil über der Tür. Trotzdem sicherte sie ihren Keller fortan zusätzlich mit einer monströsen Eisenkette und einem weiteren Sicherheitsschloss. Unabhängig davon erzählte sie weiterhin von ständigen Einbrüchen und Diebstählen. Einen nach dem Anderen ihrer einstmals guten Bekannten vergraulte sie auf diese Art und Weise. Selbst ihre langjährige Klöppelfreundin aus dem Erzgebirge, die wöchentlich lange mit ihr telefonierte, geriet wegen aus dem Zusammenhang genommener Gesprächsfetzen in die böse Schublade, wurde als Erbschleichering denunziert und der Kontakt gemieden.

Mit unendlicher Geduld hatte seine Mutter früher neben ihrer Arbeit in drei Schichten in einem Braunkohletagebau Handarbeiten gemacht. Sie strickte Pullover, knüpfte Netze aus dicken Wollfäden, nähte aus Stoffresten Taschen und hatte sich, unterstützt durch einen Zirkel, sehr gut in die schwierige Klöppeltechnik eingearbeitet. Wahre Wunderwerke entstanden so unter ihren Händen. Das führte aber andererseits dazu, dass sie sich mit allen Dingen, die sie für brauchbar hielt, bevorratete, was später noch zu lesen sein wird. Mit der Rente hatte sie auch dafür mehr Zeit.



Klöppelarbeiten

Während Frank-Peter Sommer händeringend nach Arbeit suchte, erhielt er eines Tages die Hiobsbotschaft, dass seine Mutter, die jetzt in Leipzig unweit von ihm wohnte, in der Uniklinik lag. Mehrere Tage hatte er sie nicht besucht, was eigentlich nicht ungewöhnlich war. Oft genug meldete sie sich nach einiger Zeit, wenn größere Einkäufe zu tätigen waren oder sie anderweitig Hilfe brauchte. Frank-Peter Sommer erfuhr, dass ihr Zustand bedenklich war und wurde in die Uniklinik gebeten. Dort teilte man ihm mit, dass sie einen Schlaganfall und einen Herzinfarkt erlitten hatte und etwa zwei Tage in ihrer Wohnung gelegen haben musste, bis auf dem Hof spielende Kinder ihr Wimmern hörten und Hilfe riefen. Die kommenden 48 Stunden würden entscheiden, ob sie überleben wird. Sie überlebte, würde jedoch nach Einschätzung der behandelnden Ärztin nie mehr selbstständig laufen und sich selbst versorgen können.

Völlig unvorhergesehen kam dieser Zusammenbruch nicht. Seit geraumer Zeit war sie sehr eigen, mied Kontakte zu Frank-Peters Frau und seinen Kindern, sah immer und überall nur das Böse. Alle um sie herum würden sie bestehlen und ihr nach dem Leben trachten. Er ahnte, dass dieses eine Form ihrer Altersdemenz war und wunderte sich, dass die Hausärztin, mit der seine Schwester bereits telefoniert hatte, keine Möglichkeit sah, diesen Krankheitsverlauf zu verlangsamen. Scheinbar das Gegenteil war zu befürchten. Immer dann, wenn seine Mutter von der Hausärztin kam, gab es neuen Streit. „Die Ärztin hat auch gesagt, dass der Hausmeister mich beklaut“. Oder: „Ich soll meine Schwiegertochter nicht mehr ins Haus lassen!“ Frank-Peter Sommer besuchte sie in der Regel wöchentlich, auch wenn seine Besuche manchmal in Streit ausarteten. Seine Mutter erzählte in einer besserwisserischen Art irgendeine Geschichte, die wirklich nicht stimmte. Widersprach er nicht, kam bei nächster Gelegenheit: „du hast ja auch gesagt“ oder etwas in einer ähnlichen Art. Später musste er feststellen, dass sie alles, was gesagt wurde, auf winzige Zettelchen aufschrieb und somit beim nächsten Gespräch bestens vorbereitet war. Widersprach er, belehrte sie ihm, dass er nicht lügen solle oder dass er nicht die Meinung seiner Frau vorbringen solle. Sie diskutierte nicht ungeschickt solange, bis sie Recht bekam, auch wenn sie während der Diskussion oftmals ihren Standpunkt änderte. Es wurde immer schwieriger, mit ihr auszukommen. Frank-Peter Sommer half in dieser Situation, dass er sich im Internet intensiv mit der Demenz beschäftigte. Als er verinnerlicht hatte, dass dieses eine Krankheit ist, konnte er besser damit umgehen. Jetzt lag sie, dem Tode näher als dem Leben, in der Uniklinik.

Das große Glück in dieser Situation war, dass Frank-Peter Sommer die vorläufige Betreuung übernehmen und mit einem Attest der Uniklinik sofort die Pflegestufe eins beantragen konnte. Diese wurde auch umgehend, wenn auch vorläufig, genehmigt. Das ist nicht unbedingt alltäglich, wie es in manchen TV-Sendungen aufgedeckt wurde. Einen ganzen Tag telefonierte er eine Liste mit allen im Umfeld verfügbaren Pflegeheimen ab, die er von der Uniklinik erhalten hatte. Meistens erhielt er sofortige Ablehnungen, andere gaben an, dass vorübergehend alles belegt sei, aber das kann sich täglich ändern. Allerdings gibt es eine lange Warteliste. Am Ende des Tages hatte er Glück. Kurzfristig konnte er für seine Mutter einen Platz in einem Pflegeheim organisieren, wo sie bereits eine Woche später einzog. Nun lag sie, die eigentlich mehr vom Leben erwartet hatte, in einem Pflegeheim, nicht mehr in der Lage, ein Buch zu lesen oder eine Fernsehsendung zu verfolgen. Die durch die Demenz zunehmend in eine mehr oder weniger heile, zumindest aber in eine eigene Welt entrückte Dame begann auch im Pflegeheim zum Problemfall zu werden. Doch davon später mehr.

 

Seit über einem Jahr besuchte er nun wöchentlich, gelegentlich auch öfter, die betagte Dame im Pflegeheim. Nach einer sehr schweren Anfangsphase ging es ihr zunehmen besser, vermeintlich besser. Sie konnte sogar die Mediziner „überzeugen“, dass sie, obwohl überwiegend bettlägerig und auf einen Rollstuhl angewiesen, nicht die Pflegestufe II benötigt. Wenn das Personal mit ihr mehr üben würde, könnte sie längst wieder laufen, ließ sie die Ärzte bei der Einstufungsbegutachtung stolz wissen. Dabei schaffte sie es auch erstmals allein vom Bett in den Rollstuhl zu kommen. Zu einem regelrechten Zusammenbruch kam es, als Frank-Peter Sommer ihr offenbaren musste, dass dieses Zimmer nun ihr zuhause sei. Sie würde nie mehr in ihre Wohnung kommen. Für die alte Frau brach eine Welt zusammen. Sie schluchzte herzzerreißend und er vermochte nicht, ihr angemessen Trost zu geben. Frank-Peter Sommer oblag es in dieser Situation, ihre Betreuung dauerhaft zu übernehmen und die Wohnung aufzulösen. Zu dieser Zeit konnte Frank-Peter Sommer eher froh sein, von jeglicher organisierter Arbeit freigestellt zu sein, denn die Wohnungsauflösung erwies sich, wie später noch berichtet werden wird, zumindest für einige Monate als regelrechter Volltimejob. Man hat die Wahl, nahezu alles aus einer Wohnung wegzuschmeißen oder aber zumindest zu sichten, wichtige Dinge für die Nachwelt aufzubereiten und zu verschenken und erst dann wegzuschmeißen, wenn wirklich keine Verwendung mehr gegeben ist. Letzteres erschien Frank-Peter Sommer in Würdigung an seine Mutter und deren langem Arbeitsleben als die bessere Alternative. Trotzdem bemühte er sich auch in dieser schweren Zeit redlich um Arbeit.