"Mal ehrlich, ihr Psychologen habt doch selbst einen an der Klatsche"

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"Mal ehrlich, ihr Psychologen habt doch selbst einen an der Klatsche"
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Rainer Müller-Hahn

"Mal ehrlich, ihr Psychologen habt doch selbst einen an der Klatsche"

Geschichten aus dem Nähkästchen. Einblicke in die praktische Arbeit eines kritischen Psychologen.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Teil 1: Wissen über die Psychologie

Teil 2: Ausbildung

Teil 3: Arbeitsfeld Strafvollzug

Teil 4: Die eigene Beratungspraxis

Teil 5: Arbeitsfeld „Schöner Führen“

Teil 6: Wirtschaftsförderung

Teil 7: Arbeitsfeld Gutachtenkritik

Anhang

Skizze der beruflichen Entwicklung

Weitere literarische Arbeiten

Impressum neobooks

Teil 1: Wissen über die Psychologie

Rainer Müller-Hahn

Mal ehrlich, Ihr Psychologen habt doch selbst einen an der Klatsche“

Geschichten aus dem Psycho-Nähkästchen. Einblicke in die praktische Arbeit eines kritischen Psychologen mit Höhen und Tiefen, Sinnvollem und Unsinnigem. Das Buch richtet sich an alle, die sich für Psychologie interessieren.

Berlin 2019, alle Rechte beim Autor

Einführung

Zunächst habe ich folgende Bitte an die Leserin: Sehen Sie es mir nach, wenn ich die Gender Mainstreaming - Sprachregeln in diesem Text zugunsten der Lesbarkeit nicht angewendet habe.

Die Grundlage dieses Buchs umfasst mehr als vierzig Jahre meines beruflichen Daseins als Psychologe.

Es hat mich gereizt, über diese Zeit zu berichten, mein Arbeitsleben für mich selbst zu bilanzieren und Ihnen einen kleinen Einblick in meine Denk- und Arbeitsweise zu verschaffen, wie auch in die, anderer Fachkollegen. Ich beschreibe, was in den verschiedenen psychologischen Anwendungsfeldern aus meiner Sicht, Sinnvolles und Unsinniges geschah und noch heute geschieht. Vielleicht gelingt es damit, etwas am allgemeinen Bild der Psychologie zu verändern.

Inhaltsübersicht

Das Buch ist in acht Teile gegliedert, von denen fünf meine wichtigsten Arbeitsbereiche betreffen.

Im ersten Teil beschreibe ich zunächst, wie sich mir die Kenntnisse von Menschen im Alltag über die psychologischen Fachbereiche darstellen, mit welchen Erwartungen sie mir als Psychologe begegnen, und was sie vermuten, warum jemand wie ich dieses Studium gewählt hat.

Im zweiten Teil berichte ich, wie mein Interesse an der Psychologie entstand. Dazu schildere ich Erlebnisse aus meinem schulischen Werdegang. Sie bildeten den Ausgangspunkt für dieses Interesse, das sich in den Versuchen zeigte, mich als Hobbypsychologe in Schule und Bekanntschaft zu profilieren, wobei ich meine „Opfer“ meist nur genervt habe.

Sie werden dann etwas über die Enttäuschung und Schwierigkeiten am Beginn des Psychologiestudiums erfahren und wodurch im Laufe des Studienbetriebes persönliche Veränderungen und eine fachliche Neuorientierung stattfanden. Schließlich werden Sie lesen, warum ich mich einer psychoanalytischen Behandlung unterzogen, und wie ich diese erlebt habe.

Der dritte Teil betrifft meine Erlebnisse und Erfahrungen als Helfer im Gefängnis noch während des Studiums. Sie waren entscheidend für den beruflichen Start als Gefängnispsychologe. Dieser begann mit massiven Auseinandersetzungen beim Versuch, eine sozialtherapeutische Abteilung zu entwickeln. Ich werde über meine Arbeit berichten, Ihnen einige bemerkenswerte Personen aufseiten der Kollegen und der Gefangenen darstellen sowie besondere Ereignisse im Gefängnis schildern. Schließlich erfahren sie etwas über Aus- und Weiterbildung von Justizbediensteten, bei der ich die ersten Erfahrungen als Dozent sammeln konnte, die später in einem anderen Arbeitsbereich eine zentrale Rolle spielten. Der vierte Teil befasst sich nach der Trennung vom Justizvollzug mit der Arbeit in meiner neugegründeten psychologischen Beratungspraxis, die bis heute besteht. Ich beschreibe besondere Grenzfälle in der Beratung und berichte über meine Mitwirkung bei der polizeilichen Ermittlung in einer Kindesentführung und einem skurrilen Fall von Geiselnahme.

Der fünfte Teil des Buches handelt vom langjährigen Kernbereich meiner selbstständigen Arbeit, die Schulung und das Training von Führungskräften verschiedener Ebenen in Unternehmen und öffentlicher Verwaltung. Ich berichte über die Ansprüche der Firmen, Reaktionen der Teilnehmer, die mich dann von der breitgestreuten Seminararbeit zur Personal- und Organisationsentwicklung führten. Dort konnte ich in Unternehmen Verfahren zur Sicherung und Beurteilung der Führungsleistung, Modelle autonomer Gruppenarbeit, Anlernverfahren und Innovationsmaßnahmen einführen sowie Führungs- und Teamtrainings moderieren.

Hierzu kam die Beteiligung an der Personalauswahl, deren Probleme Anlass waren, ein spezielles Gruppenauswahlverfahren zu entwickeln, das sich in den Unternehmen gut bewährte. Sie werden in diesem Abschnitt mein Vorgehen, meine Erlebnisse, Schwierigkeiten und Erfolge kennenlernen.

Der sechste Teil beschreibt eine nur teilweise psychologische Phase meiner Berufsbiographie. Eingeleitet wurde sie durch die Wiedervereinigung Deutschlands. Dabei entstand die Notwendigkeit von Anpassungen sowohl der regionalen Verwaltungsbereiche, als auch der inneren Geschäfts- und Personalorganisation der Betriebe der ehemaligen DDR. Meine inzwischen gewachsene Firma erhielt dazu entsprechende Aufträge. Ich erzähle von den Bemühungen, diese zu realisieren, sowie über die Versuche, uns im Ausland zu etablieren. Das betraf ein von der Weltbank gefördertes Projekt in der Türkei und ein, auf eigene Initiative entwickeltes, Infrastrukturprojekt in Albanien. Hier waren es die hinderlichen Umstände und unsere Naivität, die diese Versuche scheitern ließen.

Im siebenten Teil des Buches ist das Hauptthema die Auseinandersetzungen mit Teilbereichen der psychologischen Begutachtung. Es sind die Medizinisch-Psycholo-gische Untersuchung (MPU) von Verkehrssündern und die psychologische Begutachtung hochstreitiger Elternteile in Sorgerechtsfällen und bei der Inobhutnahme von Kindern im Familienrecht.

Seit vielen Jahren bis heute wende ich mich gegen diese Gutachten mit methodisch und inhaltlich begründeten Stellungnahmen. Mir liegt diese Problematik besonders am Herzen, weil auf der Grundlage fragwürdiger psychologischer Leistung von Gutachtern über Schicksale mehrerer Menschen entschieden wird.

Sie, lieber Leser, werden die entscheidungsorientierte Begutachtung anhand meiner Auseinandersetzung mit dreihundert dieser Gutachten kennenlernen. Ich beschreibe und kommentiere die wichtigsten Untersuchungsmerkmale. Es ist für Sie vielleicht ein etwas sprödes und teilweise recht theoretisches Thema. Einige kurz dargestellte Beispielsfälle sollen helfen, die Probleme etwas zu veranschaulichen.

Ich habe die Hoffnung, dass dadurch etwas mehr Information über das Vorgehen in diesem wichtigen Bereich geschaffen wird, in dem eine besondere Beziehung zwischen Gericht, Behörden und Gutachter besteht. Für das Gesamtverständnis der Problematik ist es mir wichtig, auch darauf näher einzugehen.

Schließlich stelle ich Ihnen das alternative Begutachtungsverfahren vor.

Der achte Teil des Buches ist einer Schlussbetrachtung gewidmet. Ich ziehe eine persönliche Bilanz und nehme den Buchtitel wieder auf und versuche, eine Klärung herbeizuführen, die auf Begegnungen mit Kollegen und der eigenen Einschätzung meiner Person beruht.

Form und Inhalt der Darstellung

Ich habe aus einigen Arbeitsbereichen Geschichten und Erlebnisse geschildert. In anderen, stärker methodologisch orientierten Teilen des Buches, war das, wie erwähnt, nicht möglich.

Was den Inhalt meiner kritischen Betrachtungen anbetrifft, ist mir bewusst, dass manche Darstellungen und Bewertungen vielleicht vereinfacht und zugespitzt erscheinen. Aber bitte bedenken Sie, es handelt sich um keine wissenschaftliche Analyse, sondern um persönliche Erfahrungen. Sie können problematische Bedingungen aufzeigen und vielleicht Impulse zum Nachdenken und zu Veränderungen geben.

Ich habe mich bemüht, einige solcher Veränderungen vorzuschlagen und auf zweckmäßigeres Verhalten in bestimmten Situationen hinzuweisen.

Noch eine letzte Bemerkung: Die hier aufgeführten Schwerpunktbereiche sind zwar chronologisch geordnet, nicht aber zeitlich scharf abgegrenzt. Sie überschneiden sich zu großen Teilen oder existieren parallel zueinander.

Vorweggesagt, ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig meine Mitmenschen über Psychologie wissen. Das betrifft Personen aus allen Bildungsschichten, vielleicht auch Sie. Aus meiner Sicht lassen sich folgende psychologische Arbeitsfelder unterschiedlicher Bekanntheit unterscheiden. Ich habe sie wie folgt gegliedert.

 

Psychologische Grundlagenforschung

Was deren Bekanntheit anbetrifft, so ist sie meinem Eindruck nach, in der Allgemeinheit eher gering. Zwar sind die Kernthemen wie Lernen, Persönlichkeit, Entwicklung, Kommunikation, Gedächtnis, Motivation und Emotionen bekannt, nicht aber deren genauen Inhalte, die Theorien, Forschungsmethodik und statistischen Methoden zur Überprüfung ihrer Ergebnisse.

Nun kann man sagen, dass solche Kenntnisse auch bei anderen Wissenschaften nicht stärker verbreitet sind. Erstaunlich ist jedoch, dass sehr viele Menschen dennoch glauben, über psychologische Verfahren mitreden zu können. Das findet man nicht bei den exakten Wissenschaften, wie Physik, Chemie, Medizin und Biologie. Einige an der Psychologie Interessierte beziehen ihre Kenntnisse aus spektakulären Experimenten, die gelegentlich in den Medien dargestellt werden und aus vielen psychologischen Ratgebern und dem Internet.

Da sich seit längerer Zeit zwischen akademischer Psychologie und verschiedenen benachbarten Forschungsbereichen, wie die der Bio- und Neurowissenschaften ein Integrationsprozess vollzieht, verschwimmen die traditionellen Fachgebietsgrenzen immer mehr. Darin sehe ich einen großen Fortschritt, allerdings wird die Orientierung für viele Menschen damit nicht leichter.

Klinische Psychologie

Dieser Bereich, speziell die Psychotherapie, ist vergleichsweise sehr bekannt. Hier liegt die Psychoanalyse Siegmund Freuds weit vorn. Von ihr wissen viele, dass psychische Störungen auf frühkindliche Erfahrungen zurückgehen sollen. Diese müssen ins Bewusstsein gehoben werden, um eine Heilung zu erreichen. Sinnbild dieser Methode verkörpert ein bärtiger Mann, der mit Block und Schreibstift hinter einer auf der Couch liegenden Person sitzt. Auf dieses Bild bezieht sich der umgangssprachliche Hinweis: „Der oder die gehört auf die Couch“. Auch sind viele Kernbegriffe der Psychoanalyse, wie „Verdrängung“, „Übertragung“ oder „Ödipus-Komplex“ längst in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Viele Mitmenschen haben auch etwas von der Verhaltenstherapie gehört. Dieses Therapiesystem ist hauptsächlich dadurch bekannt, dass mit seiner Hilfe spezielle Angstkrankheiten wie Phobien „verlernt“ werden können. Diese psychologische Therapieform wurde zusammen mit drei anderen dadurch „geadelt“, dass die Krankenkassen dafür die Kosten übernehmen. Andere herkömmliche Verfahren, die diesen Vorzug nicht genießen, scheinen weniger bekannt zu sein. Ihnen gegenüber steht eine Heerschar von selbsternannten „Heilern“, die mit fragwürdigen Behandlungsmethoden und ohne nachgewiesene Fachkunde mit religiösem, esoterischem und heilpraktischem Hintergrund denselben Heilanspruch stellen.

Diese Vielfalt von Angeboten macht die Therapielandschaft recht unübersichtlich. Unklar bleibt in den meisten Fällen das konkrete Handeln der Therapeuten. Man weiß, dass die psychoanalytische Therapie besonders lange dauert, weil es gilt, das Vorleben bis zurück in die frühe Kindheit „aufzuarbeiten“, und dass dabei Traumdeutung und freie Assoziation wichtige Methoden sind. Demgegenüber sind Behandlungen in der Medizin und die Wirkungen einer medikamentösen Therapie einfacher und exakter zu beschreiben als ein sich über einen langen Zeitraum erstreckender psychotherapeutischer Prozess.

Beratende Psychologie

Allgemeine Unkenntnis über die inhaltliche Arbeit herrscht auch über die Tätigkeiten der Kollegen in den nicht-therapeutischen Arbeitsfeldern: Dazu zähle ich die Erziehungs- und Lebensberatung, Opfer- und Katastrophenhilfe sowie die Unterstützung von Politik, Wirtschaft, Polizei, Justiz, Schule, Aus- und Weiterbildung, Sport und Werbung.

Hier wird das Bild der angewandten Psychologie stark durch die öffentlichen Medien geprägt. In Radio- und Fernsehsendungen beraten Psychologen hilfesuchende Anrufer. Einblicke in die Arbeit einer Psychologin im Rahmen einer Familien- oder Partnerberatung gewährt eine Fernsehserie zur Nachmittagszeit, bei der sich der Erfolg selbstverständlich pünktlich zum Ende der Sendung einstellt. Dabei wird das Vorgehen der Kollegin deutlich, welches ich durchaus für gekonnt einschätze.

Als bedenklich empfinde ich dagegen, wenn Kollegen den Fernsehzuschauern erläutern, warum sich z.B. eine prominente Person vom Partner getrennt hat oder der Alkoholsucht verfallen ist. In Kriminalfilmen treten nahezu hellsichtige, meist sehr eigensinnige Psychologen als Ermittlungsspezialisten, Profiler oder Sachverständige auf. Dann ist da noch die Rede davon, dass die Wirtschaft zu fünfzig Prozent Psychologie sei. Hier muss die Psychologie als Oberbegriff für so etwas wie Spekulation, Hoffnung und Bauchgefühl herhalten.

Psychologische Diagnostik

Sie hat in der Therapie, Begutachtung und Beratung einen festen Platz. Ein Teil der Methoden des Psychologen ist recht gut bekannt. Man weiß, dass er Intelligenztests, Persönlichkeitsfragebögen, Gesprächs- und Beobachtungsverfahren einsetzt. Viele halten diese Tests für dubios, kindisch, zumindest aber für fragwürdig. Aber kaum jemand weiß, wie diese Verfahren konstruiert sind, welche Qualitätsmerkmale maßgeblich sind, wo ihre Aussagemöglichkeiten liegen und wie Ergebnisse interpretiert werden müssen. Das scheint auch für einige meiner Kollegen zu gelten, wenn man deren Umgang mit Tests betrachtet. Erschwert wird die Übersicht der Verfahren auch dadurch, dass eine Vielzahl, ungeeigneter Test im Umlauf ist, die die Gütekriterien nicht erfüllen. Man hört von psychologischen und psychiatrischen Gutachten über Straftäter, die nach langjähriger therapeutischer Arbeit erstellt wurden, und bei denen die Verfasser mit ihren Rückfallprognosen weit danebenliegen.

Das Bild meiner Berufsgruppe wird auch durch Begegnungen mit den Vertretern der Psychologie in anderen Bereichen geprägt. Ich denke dabei an die Medizinisch Psychologische Untersuchung (MPU), im Volksmund als „Idiotentest“ bezeichnet. Dort ermitteln Psychologen die Fahreignung eines Verkehrssünders und empfehlen der zuständigen Behörde, ob und wann dem Verkehrssünder die Fahrerlaubnis wieder erteilt werden sollte. Schmerzlicher noch sind die Auswirkungen, die ein Elternteil im Familienrechtsprozess erfahren muss, dass er nicht in dem Maße geeignet ist, für das Kind zu sorgen, wie der andere Elternteil. Das wird ihm auf angeblich wissenschaftlicher Grundlage attestiert.

Solche Leistungen erklären zum Teil, warum viele Menschen der Psychologie mit Misstrauen und Vorbehalten begegnen und behaupten, dass Psychologen „selbst einen an der Klatsche haben“, so wie diese Behauptung mir in verschiedenen sprachlichen Varianten immer wieder begegnete.

Kommentar

Psychologen haben in einer Rekordzeit von etwa einhundertachtzig Jahren nahezu jeden Lebensbereich unserer Gesellschaft „erobert“. Es existiert kaum ein Ereignis oder Thema, zu dem Psychologen nicht ihre Weisheiten beitragen. Dennoch ist die Kenntnis, was diese Berufsgruppe in der Praxis konkret tut, nicht sehr ausgeprägt. Selbst jene, die gute Erfahrungen im Umgang mit meiner Berufsgruppe gemacht haben, können nicht genau angeben, womit und wodurch ihnen geholfen wurde. Bruchstückhafte Informationen hinterlassen Lücken, die mit allerlei Fantasie aufgefüllt werden.

Auf der anderen Seite lassen sich auch erhebliche Überschätzungen beobachten, was Umfang und Wirksamkeit praktisch-psychologischen Handelns betrifft. Zugespitzt formuliert heißt das:

Man beschäftigt Psychologen, obwohl man nicht genau weiß, was sie können und was sie tun. Es genügt die Vermutung, dass sie das können müssten, was sie tun sollen. Schließlich haben sie ja studiert.

Möglicherweise ist es genau dieser Glaube, der in vielen Fällen unbestritten positive Ergebnisse aus psycholo-gischer Tätigkeit hervorbringt. Das könnte bedeuten, dass wir in einigen Bereichen lebende Placebos sind. Wie einfach es war, als Psychologe Zugang zu allen möglichen Arbeitsbereichen zu erhalten, können Sie an meinem Berufsstart und an einigen meiner späteren Arbeitsaufträge erkennen.

Wie geht man mit Psychologen um?

In der Folge habe ich eine scherenschnittartige, private Typologie von Menschen entworfen, denen ich außerhalb meiner Arbeit begegnet bin und die in besonderer Weise auf mich und meinen Beruf reagierten.

Die Skeptiker

Wenn man sich früher nach meinem Studienfach erkundigte, oder heute nach meinem Beruf, reagierten nicht Wenige auf meine Antwort mit dem Kommentar: „Oh, das ist ja interessant!“, oft gefolgt von einem wissenden Lächeln und einem erkenntnisträchtigen „Ach so!“ Der Ton-fall besagte so etwas wie: „Na, dann ist ja alles klar.“ Ich habe leider nie erfahren, was nun klar war.

Ähnliche Reaktionen zeigten sich, wenn man nach meinem Sternzeichen fragt. Hierbei dürfte der Erkenntnisgewinn aber erheblich größer sein. Kundige Anhänger der Astrologie können selbstverständlich die Charaktereigenschaften eines Wassermannes wie ich von denen eines Löwen, einer Jungfrau oder einer Waage genau unterscheiden.

Im Allgemeinen hielten sich diese Personen mit Fragen zu meinem Beruf auf Distanz. Wurden sie gestellt, dann bezogen sie sich meist nur auf die Fähigkeit der sogenannten Menschenkenntnis. Das meint den Blick in die Tiefe der Seele des Gegenübers, durch den dessen wahres Wesen blitzschnell erfasst werden kann. Hier zeigte sich eine zwiespältige Haltung: Einerseits glaubte man nicht so recht an diese Fähigkeit, andererseits war man sich aber unsicher, weil so etwas ja wohl an den Universitäten gelehrt werde.

Die Ängstlichen

Nicht selten traf ich auf Personen, die vermuteten oder sogar überzeugt waren, dass Psychologen genau diese blitzdiagnostischen Fähigkeiten erworben hätten und damit verborgene dunkle Begierden und Gelüste im Menschen sofort erkennen können. Eine solche Sorge bestand auch bei mir, als ich während der Schulzeit einem Psychologen begegnete. Ich gebe zu, dass ich ihm nahezu magische Kräfte zuschrieb, die mich ängstigten. Nachdem ich jedoch selbst den Beruf ausübte, gestaltete sich der Kontakt mit Personen dieser Gruppe recht schwierig. Belanglose Bemerkungen oder allgemeine Feststellungen meinerseits wurden vom Gegenüber als Deutungen seiner Charaktermerkmale interpretiert. Das zwang mich, die Worte sorgsam zu wählen, um Beunruhigungen und Verletzungen des Anderen zu vermeiden. Es waren anstrengende Kontakte. Bemerkenswert ist, dass ich mit dieser angeblichen Fähigkeit nur die dunklen Flecken auf der psychisch weißen Weste des Gesprächspartners aufspüren würde, nicht aber seine Stärken und Potenziale.

Meine beschwichtigenden Hinweise, dass ich einen solchen „Röntgenblick“ nicht für möglich halte, ihn deshalb auch nicht besäße, verhallten ungehört.

Es gab auch noch eine andere typische Reaktion auf meinen Beruf. Beispielsweise bei der Teilnahme an einer sich spontan gebildeten Skatrunde mit wenig bekannten Personen in der Kneipe, bei der ich Bier und Schnaps trank, über schmutzige Witze lachte oder solche erzählte, mit dummen Sprüchen das Ausspielen der Karten kommentierte und mich aufregte, wenn mein Mitspieler nicht aufgepasst hatte. Wenn dann bekannt wurde, dass ich Psychologe bin, entstand so etwas wie Erstaunen bei den Mitspielern wohl darüber, dass ich mich in ihren Augen ziemlich normal verhielt. Von da an veränderte sich das Spiel. Die Spontaneität war verflogen, es wurde weniger gelacht und vorsichtiger gespielt.

Die Unbesiegbaren

Hier handelte es sich meist um Männer, die eher selten der Bildungselite zugehörig waren. Mit verschränkten Armen vor der Brust behaupteten sie, dass es kein Psychologe schaffen könne, sie zu analysieren. Manchmal wurde ich mit den Worten herausgefordert: „Na, versuchen Sie mal, mich zu analysieren!“ Diese kraftmeierische Sichtweise unterstellt, dass ich in der Lage wäre, mittels eines mentalen Gewaltaktes Menschen niederzuringen, in ihr Seelenleben und in ihre Intimsphäre einzudringen, um über sie Macht zu erlangen und möglicherweise ihre Persönlichkeit umzukrempeln.

In einigen Fällen wäre diese Kraft durchaus wünschenswert gewesen. Man wies mir zwar besondere mentale Kräfte zu, die aber die Mauer ihres heldenhaften Widerstandes nicht brechen könnten. Damit wird auch deutlich, dass jene als schwach betrachtet werden, die sich auf einen Psychologen einlassen, eine Haltung, die in anderen Ländern nicht so ausgeprägt erscheint, wie bei uns. In den USA beispielsweise ist die Inanspruchnahme eines Therapeuten nicht anstößig, sie ist eher Privileg und Statussymbol einer wohlhabenden Mittelschicht.

 

Meine Beteuerungen, wie auch bei der Gruppe der „Ängstlichen“, in der Freizeit kein ständiges Interesse am Innenleben meiner Mitmenschen und schon gar nicht Lust auf solche merkwürdigen Kraftproben zu besitzen, konnten nicht überzeugen. Im Gegenteil, sie wurden oftmals als hinterhältiger Versuch betrachtet, mit dieser Diskussion mir Zugang durch die Hintertür in die Psyche meiner Gesprächspartner zu verschaffen. Das macht hilflos. Aus einer solchen Falle kommt man nicht heraus. Wie gern hätte ich mich manchmal als Maschinenbauingenieur ausgewiesen. So blieb mir nur, dieses Thema möglichst zu vermeiden oder auf den Kontakt mit solchen Leuten zu verzichten. Das war kein sonderlicher Verlust, aber nicht immer möglich.

Die Konkurrenten

Eine andere Gruppe, geschlechtlich eher gemischt, besteht aus Personen, die voller Überzeugung behaupten, selbst praktische Psychologen zu sein. Sie könnten ihr Gegenüber durchschauen und sofort erkennen, wes Geistes Kind dieser ist. Ihre Menschenkenntnis - und das ist für sie Kerngehalt von Psychologie - hätten sie an der „Universität des Lebens“ erworben. Wegen ihrer intuitiv-praktischen Fähigkeiten könnte ich ihnen, als blutarmer, akademischer Theoretiker, nicht das Wasser reichen. Solche Behauptungen gegenüber einem Arzt, Physiker oder Historiker dürften wohl recht unwahrscheinlich sein. Allerdings haben deren Wissenschaften auch schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel und sind nicht ganz so umstritten, wie die meine. Im Grunde bedeutet diese Behauptung, dass ich ein aufgeblasener Nichtskönner wäre, dessen Fähigkeiten nicht über die Anwendung des „gesunden Menschenverstandes“ hinausgingen und dessen Beruf im Grunde überflüssig sei. Nun mögen erstere Behauptungen ja vielleicht sogar zutreffen, aber was ist der gesunde Menschenverstand? Es hat einige Zeit gebraucht, bis ich gelernt habe, mich dieser Art von Wettstreit zu entziehen.

Die Bedürftigen

Ich begegnete einer weitaus schwierigeren Gruppe, mehrheitlich bestehend aus Frauen, oft schwärmerisch an meinem Fachgebiet interessiert, weniger an mir als Mann, was mich manchmal ein wenig kränkte.

Von diesen Personen ging ein starker Sog aus, denn sie schienen meine Hilfe ernsthaft zu benötigen. Schon damals erhoffte man sich vom verständnisvollen Psychologiestudenten, etwas über sich und die problematische Partnerbeziehung in Erfahrung zu bringen oder gar Probleme lösen zu können. Wer wollte sich da verweigern? Ich legte mich also mächtig ins Zeug und griff tief in die Psychokiste, ließ mir ausführlich die Probleme schildern, fragte behutsam nach frühen Erlebnissen, konstruierte Zusammenhänge, benannte Ursachen und produzierte Deutungen wie am Fließband. Dabei triefte ich vor Verständnis und Fürsorglichkeit. Aber auf den behutsamsten Versuch, meinen „Patienten“ zu einer Veränderung der ein oder anderen Verhaltensweise zu bewegen, folgte prompt als Antwort: „Das kann ich nicht“, oder „das habe ich längst vergeblich versucht“. Es waren letztlich Mahnungen, mir endlich etwas Vernünftiges auszudenken. Sie zielten ins Zentrum meiner Eitelkeit. Und was für ein Hochgefühl von Nützlichkeit und Wirksamkeit war damit verbunden! Also gab ich mir noch mehr Mühe, bis ich schließlich erschöpft aufgab und den Kontakt beendete. Damit war ich in den Augen dieser „Patienten“ ein Versager. Es bedurfte einige solcher Misserfolge, bis ich die Sinnlosigkeit und Risiken unprofessioneller Gelegenheitsberatungen begriffen hatte.

Auch nach Abschluss meiner Ausbildung setzten sich solche Ansprüche auf Beratung bis zum heutigen Tag fort. Ich gewann dabei den Eindruck, dass man auf unverbindliche Weise Hilfestellung von mir eine Problemlösung oder eine fachliche Bestätigung für das eigene „richtige“ Verhalten erhalten wollte.

Nicht nur in dieser Gruppe besteht die Auffassung, dass man mit der Konsultation von Psychologen als Therapeut oder Berater gleichzeitig die Verantwortlichkeit für eigene Veränderungen an diese abgibt. Diese Haltung scheint weit verbreitet und zeitlos zu sein.

Ich musste also lernen, mich behutsam zu verweigern und erklärte meinen Klienten, dass ich unter den gegebenen Umständen nicht weiterhelfen könne und wolle. Das wurde oft als grobe Zurückweisung verstanden, stempelte mich zu einem beruflichen Versager ab und verstärkte in vielen Fällen die Haltung, die vor Veränderungen schützt, oder in Worte gefasst, „Mir kann sowieso niemand helfen.“

Im Privaten

Nahezu bei jedem neuen privaten Kontakt tauchte irgendwann die Frage auf, wie es kam, dass ich Psychologe geworden bin. Neben anerkennenden und interessierten Reaktionen war bei vielen Leuten ein etwas süffisanter, oftmals mitleidiger, gelegentlich auch misstrauischer Unterton herauszuhören. Damit brachte man wohl zum Ausdruck, dass ich vermutlich den Beruf deshalb ergriffen habe, weil ich selbst eine Person dieses Faches benötigen würde, um aus einer seelischen Schieflage hinauszugelangen, oder deutlicher formuliert: „Der hat Psychologie studiert, um sich selbst zu heilen, weil er einen an der Klatsche hat und selbst einen Psychologen braucht“. Natürlich hat man mir das nicht direkt ins Gesicht gesagt. Dass der Berufswunsch als Ausdruck einer psychischen Störung gesehen wird, habe ich immer wieder bis heute aus tiefer Überzeugung laut und ernst, manchmal in spaßiger Form, vernommen.

Tröstlich dabei ist wenigstens, dass man dem fertig ausgebildeten Psychologen zutraut, anderen Menschen bei der Bewältigung psychischer Schwierigkeiten helfen zu können, auch wenn es nur der gestörte eigene berufliche Nachwuchs ist.

Selbst wenn es sich so verhielte, kann man dem angehenden Psychologen immerhin zugestehen, dass er sich um seine psychische Gesundheit kümmert, auch wenn er dabei einen falschen Weg gewählt hat. Ein Studium lehrt, aber es heilt nicht.

Auch im familiären Umgang spielten bestimmte Vorstel-lungen und Erwartungen an meinen Beruf eine Rolle. Bei gelegentlichen Partnerkonflikten hieß es beispielsweise: „Du hättest doch sehen müssen, wie es mir geht, … was ich fühle, … was mir wichtig ist, … warum ich so oder so reagiert habe …“, und dann folgte der Fangschuss: „du bist doch schließlich Psychologe.“

Auch in Fragen der Erziehung kamen Hinweise und Verhaltensvorschläge auf Grundlage meiner Kenntnisse in der Entwicklungspsychologie gegen das mütterliche Wissensmonopol nicht an. Durch die unheilvolle Verknüpfung von Beruf und Partnerschaft wird das eigene Versagen potenziert. Und was viel schlimmer ist, eine solche Zwickmühle ist nicht mit Argumenten aufzulösen. Entweder war ich ein rücksichtloser Partner oder ein grottenschlechter Psychologe. Das tut dem Selbstwertgefühl nicht gut.

Diese bunte Mischung aus unterschiedlichen Erwartungen und Bewertungen, wie ich sie bei vielen Menschen angetroffen habe, zeigt ein widersprüchliches Bild der angewandten Psychologie. Es wäre wünschenswert, dass umfassende und verbindliche Informationen vermittelt würden, damit nicht nur Hören-Sagen, gelegentliche Kontakte mit einem Psychologen und Fernsehserien das Bild dieses Arbeitsgebietes prägen. Eine sehr sinnvolle Aufgabe für die Berufsverbände.

Warum wird man Psychologe?

Ehe ich darauf eingehe, wie ich zu meinem Beruf gekommen bin, möchte ich einige der mehrheitlich kritischen Stellungnahmen darstellen, die ich in einem Internetforum zu folgender Frage fand:

Warum sollte man Psychologe werden?“

  „Na um anderen zu helfen natürlich...!! es sei denn, man ist ein kleiner fieser sack, der alles wissen will von jedem, um sich an den Geschichten der Leute zu ergötzen.“

  „Das machen manche die bescheuert sind und sich selber helfen wollen. Wird meist leider nichts.“

  Wer helfen kann, und gelegentlich auch hilft, ist der Therapeut. Exakter, der Psychotherapeut, der in der Regel Mediziner, also Psychiater und häufig auch Neurologe ist. Deshalb, erregt euch nicht über den Psychologen, der eh ganz unten in dieser Reihe anzusiedeln ist (und die meisten von ihnen fahren Taxi, wie Romuald in Hamburg, weil die keinen Job bekommen) und der schon mit dem Fachabitur zu erlangen ist. Der Psychiater hingegen benötigt das 'Vollabitur' und erlernt seine theoretischen Kenntnisse an einer Uni.“

Soweit einige Bewusstseinsskizzen über Motive, Fähigkeiten und Arbeitschancen von Psychologen. Da sich in solchen Foren vermutlich eher jüngere Menschen austauschen, ist wohl das Fortbestehen dieser Überzeugungen für die Zukunft gesichert.