"Mal ehrlich, ihr Psychologen habt doch selbst einen an der Klatsche"

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Ich muss an dieser Stelle einräumen, dass auch mein eigenes Verhalten, das der Kollegen und nicht zuletzt dieses Buch durchaus geeignet sind, einen Beitrag zu diesen Einschätzungen zu liefern.

Wie bei jeder Berufswahl, eine Wahlmöglichkeit vorausgesetzt, werden verschiedene Einflüsse wirksam, die schon vorher die eigentliche Entscheidung beeinflussen. In meinem Fall waren es zwei bedeutsame Bedingungen: Zum einen war es meine Schulwahl. Der Wunsch, das Gymnasium zu besuchen, entsprang jedoch nicht dem Streben nach höherer Bildung. Ein damit verbundenes Versprechen führte aber dazu, dass ich schließlich die Reifeprüfung bestand.

Zum anderen war es die Begegnung mit einem Psychologen während der Oberschulzeit, die den Weg zu meinem Beruf bahnte. Meine dort gesammelten Erlebnisse haben Einfluss auf mein späteres berufliches Denken und Handeln genommen.

Diese Geschichten will ich hier erzählen.

Teil 2: Ausbildung

Schule

In der Grundschule war ich ein guter Schüler, galt als freundlich und sympathisch, glänzte manchmal im Unterricht mit verständigen Beiträgen und beteiligte mich engagiert. Aber ebenso schnell, wie mein Interesse aufflammte, verlosch es auch wieder. Ich tarnte mich dann mit einem wachen und aufmerksamen Gesichtsausdruck, um dahinter zu träumen. Diese Mimikry hat mich später als Erwachsener gut durch viele öde Besprechungen gebracht. Damals war es mir gleichgültig, wie es mit mir in der Schule weitergehen würde. Ein Besuch des Gymnasiums stand überhaupt nicht zur Diskussion. Ich sollte die Realschule besuchen und etwas „Ordentliches“ lernen. Die gymnasiale Karriere meines älteren Bruders war trotz zahlreicher Nachhilfestunden gescheitert, und er durchlief nun lustlos eine Lehre als Maschinenschlosser.

Meine Mutter und mein verstorbener Vater besaßen beide die Mittlere Reife. Meine Mutter war überzeugt, dass das von ihnen vererbte intellektuelle Potenzial vom Nachwuchs nicht überschritten werden könne. Der Fehlschlag bei den Bildungsbemühungen meines Bruders schien diese erbbiologisch geprägte Annahme zu bestätigen. Eine solche Entwicklung wollte sie sich und mir ersparen. Es kam aber anders.

Kurz vor Ende der Grundschulzeit drängte ich plötzlich darauf, das Gymnasium besuchen zu dürfen. Ich hatte mich unsterblich in Monika verliebt - ein Mädchen aus meiner Schule. Sie würde das Gymnasium besuchen, und ich wollte ihr dahin folgen, um weiterhin mit ihr zusammenzubleiben. Als ich zuhause erklärte, später einmal Lehrer werden und deshalb zur Oberschule gehen zu wollen - es war der einzige akademische Beruf, der mir eingefallen war - löste das sowohl Erstaunen, Freude, aber auch Zweifel aus. Gefangen im Zwiespalt zwischen dem Wunsch, dem Jüngsten Zugang zu höherer Bildung zu verschaffen und der pessimistischen Erfolgsaussicht, verstärkt durch die negative Erfahrung mit dem Erstgeborenen, berief meine Mutter eine Art Familienrat ein und lud ihren Cousin Rolf dazu. Er hatte den höchsten Bildungsgrad in unserer Familie erreicht, war in seiner schulischen Laufbahn bis zum Abitur gekommen, aber zweimal durch die Prüfung gefallen. Dennoch verlieh ihm das in den Augen meiner Mutter den Status eines Bildungssachverständigen.

Dieser Onkel Rolf sagte, dass ich einen sehr schwierigen, steinigen Weg gewählt hätte, und dass ich dabei Blut und Tränen schwitzen würde. Er ereiferte sich bei der Beschreibung der schulischen Anforderungen derart, dass man den Eindruck gewann, er wolle mit seinem Plädoyer gegen die gymnasiale Ausbildung das eigene schulische Versagen rechtfertigen. Nach längerer Aussprache - in der ich mein wirkliches Motiv schamhaft verschwieg - stand fest, ich würde das Gymnasium besuchen. Ich jubelte innerlich, konnte ich doch weiter mit Monika zusammen sein! Gleichzeitig hatte ich ein schlechtes Gewissen, alle so unverfroren belogen zu haben.

Meine Mutter sagte zum Abschluss sehr eindringlich, ich solle mir darüber im Klaren sein, dass ich es war, der diesen Schritt gewollt habe. Ich gab ihr das Versprechen, dass es nicht an Einsatz und Fleiß mangeln werde. Dabei ahnte ich dumpf, etwas auf mich genommen zu haben, was ich nicht so einfach abschütteln konnte.

Start ins Gymnasium

Nun sollte für mich der „Ernst des Lebens“ beginnen, wie man mir prophezeit hatte. Am ersten Tag des neuen Schuljahres stand ich beklommen und unsicher vor dem Gymnasium, ein Bau, einer großen Villa ähnlich, mit unfreundlicher grauer Fassade. Der Putz war großflächig abgefallen und überall befanden sich in der Mauer Einschusslöcher aus vergangenen Kriegshandlungen. Wie wenig einladend das alles wirkte! Grau, wie grauenhaft. Etwas krampfte sich in mir zusammen. Und meine Befürchtungen sollten sich bald als berechtigt erweisen.

Ich betrat mit gemischten Gefühlen das Gebäude. Innen war es nicht wesentlich freundlicher. Decke und Wände, früher einmal weiß, hatten im Laufe der Zeit einen schmutzigen Ton angenommen. Vom grauen Panel der Wände war die Farbe an vielen Stellen abgeblättert, und es hatten sich Flächen gebildet, die wie Landkarten aussahen - Kontinente einer Fantasiewelt, umgeben von grauen Ozeanen. Die Einschulung begann mit einer kleinen Feier. Die Direktorin begrüßte uns mit einer leblosen Einführungsrede. Ihre Kleidung war grau, der Gesichtsausdruck starr, die fahle Gesichtsfarbe und das ungepflegte graue Haar passten zum Gebäude und seiner Atmosphäre. Grau war wohl das Markenzeichen dieser Lehranstalt. Sie machte den Eindruck, als würde sie sich durch uns neue Schüler belästigt fühlen, die sie von Wichtigerem abhielten. Ein Ausdruck eines Willkommens war das nicht. Auch der Vortrag des Schülerchors konnte meine Stimmung nicht verbessern. Das alles wirkte lust- und lieblos. Aber wie konnte es in einer solchen freundlosen Umgebung anders sein? Während der ganzen Veranstaltung saß ich wie auf Kohlen, weil ich danach fieberte, Monika endlich wiederzusehen. Ich konnte sie aber nirgends entdecken. Nach Ende des ersten Schultages händigte mir eine Freundin Monikas einen Brief aus. Sein Inhalt war wie ein Faustschlag in den Magen. Dort stand, dass Monika mit ihren Eltern ins Ausland gezogen sei, wo ihr Vater Arbeit gefunden habe. Den Entschluss, auszuwandern, habe sie selbst erst wenige Tage vor der Abreise erfahren, als sie aus den Ferien bei den Großeltern auf dem Land zurückgekehrt war. Sie hatte geschwiegen, um nicht früher als notwendig mir mein Herz schwer zu machen. Eine Adresse hatte sie nicht hinterlassen. Sie sah keine Chance mehr für uns.

Mehrere Tage lang war ich krank. Eine unstillbare Sehnsucht peinigte mich: Ich erlebte, wie es ist, wenn jemand stirbt, den man liebt. War das die Strafe für meine Lüge? Ich benötigte etwa ein Jahr, bis die Gedanken an Monika nicht mehr schmerzten. Von ihr habe ich nie wieder etwas gehört.

Die Ironie des Schicksals bestand nun darin, dass ich die, die ich liebte verloren hatte, und das erhielt, was ich nie wollte. Ich war Gefangener meines Versprechens. Ich durfte nicht scheitern.

Gymnasiales Elend

Die nun folgenden schulischen Erfahrungen waren düster. Ich kam in dieser Schule nicht zurecht und schrammte gerade eben am Sitzenbleiben vorbei. Verantwortlich dafür war die Mischung aus meiner Interesselosigkeit, meinem gedrosselten Fleiß und den Eigenarten einiger Lehrer. Letztere machten mir schwer zu schaffen und verstärkten meinen schulischen Widerwillen - ein Teufelskreis. Vielleicht hätten sie mich motivieren und fördern können. Aber sie schüchterten mich wie viele meiner Schulkameraden gewollt oder ungewollt ein. Sie machten uns ständig klar, was für armselige Würstchen wir wären, und dass die meisten von uns nicht hier her-gehörten.

Ich erinnere mich noch sehr deutlich an zwei besonders engagierte und feinfühlige Pädagogen. Es handelt sich um sie graue Direktorin, die Mathematik unterrichtete und den ähnlich farblosen Lateinlehrer.

Die Direktorin hatte sich auf Einzelförderung spezialisiert

und mich dafür auserkoren. Ich wusste allerdings nicht, womit ich diesen Vorzug verdient hatte, dass sie mich zu Beginn jeder Unterrichtsstunde aufrief. Vielleicht hatte sie intuitiv meine spontane Antipathie gespürt. Offensichtlich wollte sie die Schere zwischen meinen schriftlichen und mündlichen Leistungen schließen. Erstere waren einigermaßen in Ordnung. Dabei ging sie wie folgt vor.

Ich musste aufstehen, sie musterte mich von oben bis unten mit kaltem Blick und stellte mir dann eine Aufgabe. Sie zu lösen, gelang mir schon deshalb nicht, weil ich sehr aufgeregt war. Ich hatte Probleme, meine Gedanken zu ordnen und selbst gut Gelerntes vollständig und zusammenhängend wiederzugeben. Von Mal zu Mal wuchs meine Aufregung. Ich errötete, stotterte und redete ungereimtes Zeug. Viele andere Lehrer hätten hier bereits aufgegeben, weil ihnen klar sein musste, dass ich so zu keiner vernünftigen Antwort in der Lage sein konnte. Nicht so die Direktorin. Sie ließ sich nicht beirren, sondern glaubte fest daran, dass sie in der Tiefe meines Bewusstseins doch noch auf solide mathematische Kenntnisse stoßen würde. Und so bohrte sie mit neuen Fragen beharrlich weiter. Vermutlich interpretierte sie meine Panik und meine Tränen als Versuch, meine Kenntnisse trotzig vor ihr verbergen zu wollen. Nach einiger Zeit ergebnisloser Befragung ließ sie dann doch von mir ab. Sie rief einen anderen Schüler auf und forderte diesen auf, die Lösung der mir gestellten Aufgabe herzuleiten. Dabei durfte ich weiterhin stehend dem Mitschüler lauschen und konnte so meine eigenen Defizite erkennen. Auf diesem Wege verschaffte sie mir eine wertvolle Orientierungshilfe, wie ich bei einer mathematischen Problemstellung vorzugehen hätte. Zum Abschluss dieses sensiblen pädagogischen Rituals, erklärte sie in launiger Art, dass sie weiterhin in diesem Topf rühren zu wollen. Und sie rührte fleißig. Jede Mathematikstunde. Sie gab mich nicht auf. Dennoch gelang es nicht, meine mündlichen Rechenleistungen zu verbessern. Meine Blockaden im Denken schienen unüberwindbar. Auch intensive Vorbereitungen auf diese Fördermaßnahme nutzten nichts. Ihre Ergebnisse verflüchtigten sich bereits auf dem Schulweg.

 

In vollkommener Verkennung des segensreichen Zwecks empfand ich diese Sonderförderung als demütigend und sadistisch. Kurz, ich litt wie ein Hund unter dieser Bevorzugung.

Eines Tages nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und wandte mich auf Anraten meines Bruders nach der Schulstunde direkt an sie. Ich spürte ihr Erstaunen, als ich sie bat, mir zu helfen, meine mündlichen Leistungen zu verbessern. Sie reagierte schroff und unwillig. Wahrscheinlich erlebte sie mich als undankbar und sagte, ich sollte mich mehr auf den Hosenboden setzen und lernen. Von diesem derart originellen Ratschlag war ich tief bewegt. Zu meinem Erstaunen folgte diesem Gespräch eine eindrucksvolle Veränderung. Von Stund’ an entfiel das unterhaltsame Eröffnungszeremoniell der Mathematikstunde, zum Bedauern einiger Schulkameraden. Die Direktorin behandelte mich nun wie jeden anderen Schüler. Ich stand noch eine Zeit lang unter starker Anspannung. Als diese langsam abflaute, begriff ich recht schnell und meldete mich sogar, wenn ich mich einer richtigen Lösung sicher wähnte. Meine Leistungen verbesserten sich. Das registrierte auch meine Förderin. Ich bin davon überzeugt, dass sie diese Veränderung ihren hoch entwickelten pädagogischen Fähigkeiten zugeschrieben hat. Eine andere Methode, die auch eher der Einschüchterung als erfolgreichem Lernen diente, durfte ich bei unserem Lateinlehrer erleben. Wir nannten ihn „Klöte“. Der Spitzname kam seinem tatsächlichen Namen phonetisch sehr nahe. Dieser knorrige, ältere Mann, immer bekleidet mit demselben grauen Anzug, besaß eine bemerkenswerte Angewohnheit: Stets patrouillierte er auf dem Mittelgang zwischen den Sitzreihen auf und ab. Besonders zu bedauern waren die am Gang sitzenden Schüler, weil er diese bevorzugt befragte. Ich besaß einen solchen Platz und niemand war bereit, ihn mit dem seinen zu tauschen. Bei einer falschen Antwort auf seine Fragen näherte sich „Klöte“ dem Gesicht des betroffenen Schülers und kreischte diesem ins Ohr: „Na, da haben wir wohl wieder mal mit Zitronen gehandelt!“ Dem folgte ein schrilles, höhnisches Lachen. Diese hilfreiche Aufmunterung erfuhr auch ich. Die Male, und es waren gar nicht wenige, als er seine Fragen an mich stellte, hatte ich das zweifelhafte Vergnügen seiner Nähe, und es traf mich nicht nur sein schrilles Lachen, sondern zusätzlich noch ein Schwall übelriechenden Mundgeruchs.

Erstaunlicherweise führte auch diese ausgeklügelte pädagogische Methode bei mir nicht zu Motivationsschüben und guten Lernergebnissen, steigerten aber meinen Handel mit Südfrüchten.

Es war einigen Lehrern gelungen, dass ich an meinen Fähigkeiten ernsthaft zweifelte. Insofern entsprach dieser Schulabschnitt der Einschätzung meines bildungssachverständigen Onkels. Kaum auszudenken, was ohne den Schutzschild meiner Interesselosigkeit geschehen wäre. Hätte ich, wie viele meiner Mitschüler Ehrgeiz besessen, ich wäre vermutlich an meinen Misserfolgen verzweifelt und hätte mein Versprechen gebrochen. Das aber durfte nicht geschehen.

Der Fairness wegen möchte ich abschließend noch einen Lehrer erwähnen, der mit seinem ungewöhnlichen Unterrichtsstil dazu beigetragen hatte, dass ich nicht aufgegeben habe. Durch ihn erfuhr ich ein bedeutsames Prinzip, dass ich erst viel später erkannte und dass mein Denken und Handeln stark beeinflusst hat.

Es war der Nachfolger des grauen, zynischen Lateinlehrers mit dem schlechten Mundgeruch. Auch der Neue war ein älterer Mann, besaß große Vitalität, Optimismus und Gelassenheit, galt aber als harter Hund. Alle nannten ihn nur den „Doktor“. Meine Leistungen waren von seinem Vorgänger als mangelhaft bewertet worden. In allen übrigen Fächer sah es mit einem mageren Ausreichend nur wenig besser aus, aber es reichte gerade noch für die Versetzung.

Der Doktor erklärte zu Beginn, er stehe uns als Angebot genau für die Dauer der Schulstunde zur Verfügung. Als Angebot! Ich dachte ich hätte mich verhört. Das war etwas ganz Neues und Ungewöhnliches in diesem verstaubten Laden. Das Erstaunlichste aber waren seine folgenden Aussagen: Er sei gern Lehrer und es mache ihm Spaß zu unterrichten. Den wolle er sich nicht durch lustlose und unwillige Schüler verderben lassen, die zudem interessierte Schüler am Mitmachen hinderten. Deshalb werde er es uns freistellen, sein Lehrangebot anzunehmen. Er sei verantwortlich für das, was wir lernten, aber nicht dafür, ob wir lernten. Das sei allein unsere Sache. Wer also nicht am Unterricht teilnehmen wolle, müsse sich zwar in der Lateinstunde im Raum aufhalten, könne sich aber mit anderen Dingen beschäftigen, wenn er dadurch andere nicht stört. Außerdem habe er die ganze Zeit über den Mund zu halten. Auf dem Zeugnis werde ein Mangelhaft als Zensur erscheinen.

Ich hielt dieses Angebot zunächst für einen Witz und war misstrauisch. Der Doktor aber wirkte vollkommen ernst. Ich fühlte mich angesprochen. Da ich im wahrsten Sinne des Wortes mit meinem Latein am Ende war, traute ich mir in diesem Fach keine Verbesserung mehr zu. Selbst wenn ein Pflänzchen Interesse an der lateinischen Sprache in mir aufgekeimt wäre, dann hätte es „Klöte“ mit seiner hämischen Freude am Versagen seiner Schüler gründlich zertrampelt.

Deshalb faszinierte mich diese Möglichkeit, aus dem Lateinunterricht auszusteigen. Ich meldete mich. Der „Doktor“ ließ mich meine Entscheidung noch einmal bekräftigen. An die anderen gewandt, wollte er wissen, ob sich mir noch jemand anzuschließen gedachte. Ich blieb der Einzige. Das machte mich ein wenig stolz.

Ich habe dann überlegt, was geschehen wäre, wenn alle Schüler oder eine große Anzahl sich gegen seinen Unterricht entschieden hätten? Ein Lehrer, der den meisten Schülern im Unterrichtsfach schlechte Zensuren verpasst, wäre doch im Schuldienst nicht tragbar. Aber wahrscheinlich getrauten sich nur Wenige, von seinem Angebot Gebrauch zu machen, und die meisten waren auch mit ihren Leistungen nicht so schwach wie ich. Damit wird er gerechnet haben. War ich vielleicht sogar sein erster Lateinverweigerer?

Im Verlauf des Unterrichts begriff ich, dass er sich damit die Mitarbeit der anderen Schüler gesichert hatte. Mit ihrem Verzicht auszusteigen, hatten sie ihm dafür indirekt eine Zusage gegeben, aktiv mitzumachen. Das war außerordentlich schlitzohrig. So erinnerte er unaufmerksame Schüler und solche, die die Hausaufgaben nicht gemacht hatten, an ihre Zusage mitzumachen. Anderenfalls müssten sie ja neben mir sitzen.

Der Erfolg trat ein. Verglichen mit dem Unterricht zuvor, gab sich jeder beim Doktor ernsthaft Mühe und man kam gut voran. Ich lernte durch ihn einen lebendigen und lockeren Unterrichtsstil kennen, der sich wohltuend von dem der meisten anderen Lehrer unterschied. Ich jedenfalls genoss meine Sonderrolle, fühlte mich frei und freute mich, dass ich nicht unter dem Joch des Vokabellernens und der lateinischen Grammatik stöhnen musste. Aber bereits nach der zweiten Woche hatte sich die Freude über meine exklusive Stellung merklich abgeschwächt. Ich begann mich zu langweilen und folgte immer öfter dem Unterricht. Wie einfach Latein doch war: Logisch, klar strukturiert, keine Zungenbrecher wie im Englischen und Französischen. Die Lateinstunden der nächsten Wochen vergingen quälend. Ich beantwortete jede Frage, übersetzte jeden Satz und ordnete die Fälle zu. Alles im Stillen und alles korrekt. Manchmal brachte mich die Begriffsstutzigkeit meiner Klassenkameraden fast zur Verzweiflung. Dann in der vierten Woche geschah es: Ein Satz sollte grammatikalisch analysiert werden. Eine ganz einfache Sache. Wieder einmal herrschte Schweigen aus Unkenntnis und Unsicherheit. Als es für mich unerträglich wurde, platzte ich laut mit der richtigen Lösung heraus. Der Doktor schaute mich strafend an, aber ehe er etwas sagen konnte, fragte ich, ob ich am Unterricht wieder teilnehmen dürfte. Ich erhielt ein kühles „in Ordnung“. Von nun an machte mir Latein Spaß und ich konnte bis zum Ende des Schuljahres ohne größeren Aufwand eine mehr als befriedigende Leistung erzielen. So bildete der Unterricht beim „Doktor“ einen der wenigen Glanzpunkte in diesem Schulabschnitt. An der Quälerei durch die anderen Lehrer konnte das aber nichts ändern. Als der „Doktor“ die Schule verließ, entschied ich mich für einen Mittelweg zwischen Aufgeben und Weitermachen. Ich wechselte zum Schulhalbjahr in ein anderes Gymnasium mit einer naturwissenschaftlichen Ausrichtung.

Der „Magier“

Auf dem Halbjahreszeugnis befanden sich für meine Verhältnisse erstaunlich gute Noten. Damit gelang mir ein ordentlicher Einstieg in die neue Schule. Es herrschte dort eine freundlichere Atmosphäre, die Lehrer waren angenehmer, lockerer und unterstützender. Was außerdem noch hinzukam, waren gemischte Klassen, Männchen und Weibchen lernten zusammen. Das war neu für mich und sehr spannend. In einigen Fächern brachte ich einen kleinen Kenntnisvorsprung mit und konnte so eine kurze Zeit von meinen bescheidenen Wissensvorräten zehren. Ich erlebte das erste Mal in meiner Oberschulzeit, frei von Druck und Sorgen zu sein. Meine Zensuren im folgenden Halbjahr verschlechterten sich zunächst nicht. Ich konnte mich sogar in einigen Fächern leicht verbessern. Aber schließlich kam es, wie es kommen musste: Bereits am Ende des nächsten Schuljahres bewegte ich mich auch in dieser Schule wieder an der Grenze des Sitzenbleibens. Wieder stand ich unter Druck.

Mein damaliger bester Freund aus der Klasse der alten Schule war zu einem Schulwechsel nicht zu bewegen gewesen. Er folgte dem Motto: „Lieber bekanntes Elend, als unbekanntes Glück“. Auch seine Schulkarriere hing an einem seidenen Faden. Wir trafen uns weiterhin regelmäßig, besuchten nicht nur Partys, sondern führten auch intensive Gespräche über unsere Lebenssituation, über Mädchen, Schule, Eltern und Zukunft.

Eines Tages entsprang einem solchen Gespräch eine verwegene Idee: Wir wollten unseren Horizont erweitern und in der Volkshochschule Kurse belegen. Diese Absicht war absurd. Uns fehlte es ja nicht an Erkenntnismöglichkeiten. Wir kamen schon mit denen nicht zurecht, die wir hätten nutzen sollen. Aber irgendwie reizte uns eine zusätzliche außerschulische Bildung. Sie sollte keinesfalls ein Schulfach betreffen. Zur Auswahl standen Philosophie- und Psychologiekurse. Keiner von uns hatte damals eine genaue Vorstellung, was es mit diesen Wissensgebieten auf sich hatte. Die kurzen Inhaltsangaben im Heft der Volkshochschule klangen gleichermaßen spannend. Wir entschieden wir uns für den Psychologiekurs.

Von den insgesamt zwölf Personen waren wir die einzigen männlichen Kursteilnehmer und die jüngsten. Unser Dozent, Herr M., Diplom-Psychologe seines Zeichens, sah nicht nur aus wie ein Magier, sondern war auch ein solcher. Er besaß eine ausgesprochen mystische Ausstrahlung: stets dunkel gekleidet, das schwarze, pomadige Haar straff nach hinten gekämmt, wo es ein kräftiges Haarpolster im Nacken bildete. Die dunklen, wachen Augen schienen alles zu durchbohren. Sein schmales Gesicht zierten ein an den Spitzen sorgfältig nach oben gezwirbelter Oberlippen- und ein schmaler Kinnbart. Körperlich war er ein sehr kleiner Mann, der trotz hoher Absätze, gerade eben die Marke von einhundertsechzig Zentimetern erreichte, aber er war ein Riese im Geist. Unglaublich, was er wortgewandt und eindringlich zu berichten wusste! Für mich hatte das durchaus den Charakter von Zauberei. Ich hing an seinen Lippen und war fasziniert.

Stellen Sie sich vor: Aus kleinsten Zeichen des Verhaltens, der Mimik und der Handschrift vermochte er Charakter, Denkweise und unbewusste Eigenarten eines Menschen abzulesen! Er analysierte vor allem berühmte Persönlichkeiten, beginnend mit den römischen Kaisern über Napoleon, Goethe, Bismarck bis zu Hitler und Stalin. Alle diese historischen Gestalten kamen auf seinen psychologischen Seziertisch, und er gewährte uns tiefe Einblicke in das Innenleben dieser Personen. Und was brachte er nicht alles zutage: uneingestandene Homosexualität, Neigungen zu Perversionen, Sadismus, verborgene erotische Liebe oder Hassgefühle gegen Elternteile und vieles mehr. Herr M. wandte jedoch niemals seine psychodiagnostischen Fähigkeiten auf uns, seine Zuhörer an. Wir waren wohl nicht ganz so bedeutend, wie die von ihm analysierten Größen der Geschichte.

Herr M. begegnete uns sehr freundlich und aufmerksam, ständig bemüht, auf Fragen einzugehen. Er begegnete uns auf Augenhöhe, wobei dieses Bild bei seiner Körpergröße nicht wörtlich genommen werden sollte. Eines jedenfalls stand für mich schon nach den ersten Stunden fest: Derartige Fähigkeiten und tiefgründige Erkenntnisse wollte ich unbedingt erwerben. So wurde ich sein gelehriger Schüler. Als einmal das Thema Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen nach der Lehre Alfred Adlers anstand, verwandte er als Beispiel die körperliche Unzulänglichkeit Kaiser Wilhelm II. Darin sah er die Ursache für Geltungssucht und Machtstreben des Monarchen. Ich betrachtete die Körpergröße unseres Dozenten. Psychologie als Ausgleich für Kleinwüchsigkeit? Galt das auch für mich? Nein, ich maß einen Meter und vierundachtzig. Diesbezüglich wähnte ich mich als unverdächtig. Aber versuchte ich nicht doch, die Löcher im Selbstbewusstsein und in der Leistungsfähigkeit mithilfe von psychologischen Kenntnissen zu stopfen?

 

Zu Beginn meiner Studien bei Herrn M. war ich besorgt, er könnte bis auf den Grund meiner schwarzen Seele blicken. Deshalb hielt ich Distanz und fühlte mich höchst unwohl, wenn er mich anblickte oder mir Fragen stellte. Eigentlich hätte ich schon gern gewusst, was er bei mir feststellen würde, getraute mich aber nicht, ihn direkt zu fragen. Seitdem kann ich mir gut vorstellen, wie sich mancher fühlt, wenn er privat oder beruflich mit einem Psychologen zu tun hat. Langsam fasste ich Vertrauen und konnte meine Unsicherheit und Besorgnis ablegen.

Psychoterror“

Ich hatte Feuer gefangen. Mein Freund nicht. Dieser zog sich schon nach dem ersten Kurs wieder zurück, weil er den angebotenen Themen nichts abgewinnen konnte. Ich blieb damals bei der Stange, belegte sämtliche Kurse bei Herrn M. in Tiefenpsychologie und Grafologie, las Freud, Jung und Adler, besorgte mir Testverfahren und bastelte unbeschwert von Kenntnissen der Testtheorie und -methodik einige Verfahren nach Gutdünken. So ausgerüstet terrorisierte ich fortan Freunde und Bekannte in Schulklasse, Kneipe und Party. Niemand in meiner Umgebung blieb von meinen Testverfahren, graphologischen und psychologischen Analysen verschont. Ich zog durch meine Welt und warf mit Diagnosen um mich, wie ein Karnevalsprinz die Kamelle. Einwände der Betroffenen gegen die eine oder andere Deutung aus Handschrift oder Testergebnis ließ ich nicht gelten. Schließlich war ich der Experte. Ich argumentierte dann hauptsächlich mit dem Begriff des Widerstandes. Damit ist eine bewusste oder unbewusste Abwehr gemeint, unerwünschte Tatsachen zu leugnen. Wenn also jemand meinte, meine Deutung aus dem Zeichentest sei doch recht beliebig, so hielt ich ihm vor, dass er sich nur gegen eine neue, unangenehme Erkenntnis wehren wolle. Damit besaß ich die Lizenz zum uneingeschränkten Rechthaben.

So war es nicht ganz unverständlich, dass viele Leute bald die Lust verloren, sich mit meinen Erkenntnissen auseinanderzusetzen. Alles in allem hatte ich wohl mit diesen Aktivitäten schon ungewollt ein Beispiel dafür geliefert, dass Psychologen und jene, die sich mit Psychologie befassen, recht suspekte Gestalten sind.

Ich setzte meine neuen Erkenntnisse und vermeintlichen psychologischen Fähigkeiten auch zur Werbung um das andere Geschlecht ein, in der Hoffnung, damit meine Attraktivität zu erhöhen. Dies erwies sich zur Herstellung von Liebesbeziehung jedoch als vollkommen erfolglos, ja sogar kontraindiziert, was ich erst später begriff.

In der neuen Schule hatte ich mich sogleich in den weiblichen Star der Klasse verliebt - eine recht glücklose Angelegenheit. Ich warb mit allen verfügbaren Mitteln um sie. Als Pseudopsychologe hörte ich mir viele Stunden ihre Probleme an. Sie sprach offen und detailreich über die Probleme und den Sex mit ihrem deutlich älteren Freund, der zudem noch Besitzer eines Autos war. Ich schwänzte mit ihr den Unterricht und verbrachte händchenhaltend diese Zeit mit endlosen Spaziergängen und ebenso langen „tiefgründigen“ Gesprächen. Oder ich schleppte sie, wenn sie wieder einmal mit ihrem Freund zerstritten war, auf Partys. Trotz psychologischer Beratung, Alkohol und Klammertanz lief nichts, außer einem bisschen Petting. Gegen den Freund kam ich nicht an. Dieser war zuständig für den Körper, ich für die Seele, der gute Kumpel und Freund. Was für eine grauenhafte Rolle! Ich lebte wie ein Hund, ständig die Wurst vor der Nase, ohne hinein beißen zu können. Verlogen verständnisvoll und ohne zu zeigen, dass ich vor Eifersucht zu bersten drohte, war ich ständig auf der Suche nach einer Fuge, um das Verhältnis zum Freund auseinander zu hebeln.

Sie fragen vielleicht, warum ich mir diesen Tort angetan und nicht losgelassen habe? Die Antwort lautet: Weil da immer ein Quäntchen Hoffnung bestand, durch Verständnis, Beständigkeit und Geduld, doch noch als der wahre und bessere Partner erkannt zu werden. Und solche Hoffnung wurde von ihr durchaus am Leben erhalten, indem sie ab und an ermutigende Zeichen setzte. Um im Bild zu bleiben, sie warf dem Hund einen winzigen Happen zu. Denn auch sie hatte ja Interesse, ihren Seelentröster zu behalten. Es war eine grausame Gefangenschaft, aus der zu entkommen, mir nur über eine andere Beziehung möglich war.

Später ist mir klargeworden, dass es vermutlich nichts Unerotischeres und Unattraktives gibt, als einen Mann, der seine Gefühle und sexuellen Absichten genau der Person gegenüber leugnet, die sie auslöst, der seine Bedürfnisse mit einer aufgeblähten, vor Fürsorglichkeit triefenden Helferrolle versteckt und dessen Interesse nicht auf die ganze Person, sondern scheinbar nur auf deren Schwierigkeiten gerichtet ist. So endeten all’ meine Bemühungen mit einem Fiasko, nicht nur bei dieser Frau. Wer will sich schon auf einen psychischen Kastraten einlassen?

In der Schule bewirkte die Beschäftigung mit dem neuen Interessengebiet jedoch Erstaunliches. Ich verbesserte deutlich meine Leistungen. Wann immer es möglich war, brachte ich meine gewonnenen Erkenntnisse in den Deutschunterricht ein. Die Lehrerin war über diesen plötzlichen ungewöhnlichen Wissenszuwachs und meine Mitarbeit sehr erfreut. Sie schätzte meine Beiträge und nach kurzer Zeit verlieh sie mir den Status eines Psychologieexperten. Diese neue Rolle und das damit gewachsene Selbstvertrauen strahlten auch auf andere Schulfächer aus. Ich fühlte mich sicherer, erfasste schneller Zusammenhänge und Prinzipien, antwortete mutiger. Ich stand nicht länger wie die Kuh vorm Tor oder sah den Wald vor Bäumen nicht. Offensichtlich hatte ich nach dem Grundsatz von Paul Watzlawik1 gehandelt, der in seinen Arbeiten unter anderem sinngemäß schreibt, wenn du nicht weiterkommst, tue nicht ein „Mehr Desselben“, tue etwas Anderes. Man kann diesen Mechanismus mit einer Erinnerungsblockade vergleichen: Trotz angestrengter Suche findet man einen geläufigen Begriff erst dann, wenn man aufhört zu grübeln und etwas Anderes denkt oder tut. Mein Psychologiefaible war das Andere.

Als wäre ich ein paar Schritte zurückgetreten und erhielte nun aus dieser Distanz einen größeren Überblick. Diese Distanz entängstigte mich und mobilisierte neue Kräfte. Das führte jedoch nicht dazu, dass ich ein guter Schüler wurde. Allerdings war die Gefahr des Sitzenbleibens erst einmal gebannt.

Damals habe ich dieses Prinzip nicht erkannt, erst später wurde es mir in vielen Fällen im Nachhinein bewusst. Mich bewegt heute noch die Frage, wie diese unbewusste Strategie des Umweges funktioniert. Wer oder was ist in mir so wachsam und klug, frühzeitig die Sackgasse zu erkennen, in die ich mich verrannt habe, um mich dann auf einen anderen, gangbaren Weg umzuleiten?