2022 – Unser Land

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2022 – Unser Land
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Rainer Hampel

2022 – UNSER LAND

Kriminalroman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Covergestaltung: Tino Hemmann unter Verwendung der Zeichnung

„Euro Monument“ © Gernot Krautberger (Fotolia)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALTSVERZEICHNIS

Cover

Titel

Impressum

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

16. KAPITEL

17. KAPITEL

18. KAPITEL

EPILOG

1. KAPITEL

Die Jungs bogen von der Südstraße in die RMA ab. Es war Sonnabendvormittag und sie kamen von einer Party, auf der sie früh um sieben das letzte Bier getrunken hatten. Als RMA bezeichneten die Bewohner der Südvorstadt die Richard-Mayer-Allee – die Abkürzung hatte sich in den 2010-er Jahren eingebürgert. Das Trio war nicht vollständig betrunken, aber für ihr Alter waren sie ziemlich großkotzig unterwegs. Paul war mit knapp 15 der Älteste und machte den Anführer; Max und Dominik stellten mäßige Mitläufer dar. Eine echte Freundschaft verband die drei nicht, aber ihre Zeit brachten sie meist gemeinsam mit kleinkriminellen Unternehmungen durch.

Paul war Jahrgang 2004 und ging seit zwei Jahren nicht mehr zur Schule. Seine Eltern bemühten sich halbwegs um ihn, aber seit Beginn der Pubertät entglitt ihnen die Kontrolle über den bereits vorbestraften Sohn zusehends. Das war bei den beiden Mitläufern ähnlich, außer dass sie noch nicht mit dem Gesetz Bekanntschaft gemacht hatten. Sie bewunderten Paul für seinen bereits verbüßten Gefängnisaufenthalt von einem halben Jahr, mit dem seine zunehmende Gewalttätigkeit gegenüber seinen ehemaligen Mitschülern bestraft wurde.

„Junger Mann“, hatte der Jugendrichter zu ihm in der Urteilsverkündung gesagt, „solche niederen Elemente wie du zerstören seit Jahren unseren sozialen Frieden. Ihr habt vor nichts und niemandem Respekt und wütet mit Brutalität durch unsere Gesellschaft. Ich sehne mir die Prügel- und die Todesstrafe wieder herbei, um Typen wie dich in den Griff zu bekommen. Das halbe Jahr Knast macht dir wenig aus – ich weiß es und glaube, dass wir uns künftig regelmäßig sehen. Der Bürgerwehr werde ich nach deiner Entlassung einen direkten Auftrag für dich geben. Ich verurteile dich wegen mehrfacher grober Körperverletzungen, Beleidigungen, Geldbetrug und Verletzung der Schulpflicht zu einem halben Jahr Jugendgefängnis. Bessere dich!“

Der Richter wusste, wie sinnlos sein Vorgehen war. Die Delikte, die Paul vorgeworfen wurden, stellten eine Normalität unter Zehn- bis 25-Jährigen dar. Pro Woche standen ihm in dieser Weise bis zu hundert Jugendliche gegenüber, über die er mit der ihm möglichen Härte zu urteilen hatte. Pauls Erwiderung auf die Verurteilung war kurz und knapp: „Du kannst mich mal.“

An diesem Sonnabend war er seit einer Woche wieder draußen und hielt seitdem Kurs auf die vom Jugendrichter angekündigte Deliktkarriere. Seit den landesweiten brutalen Teenagerunruhen von 2017 war das die Normalität. 265 Jugendliche und 40 Polizeibeamte waren dabei ums Leben gekommen. Damals war Paul elf Jahre alt gewesen und hatte tatsächlich seine ersten Pflastersteine am Bannewitzer Kreuz auf Polizisten geworfen.

Die Jungen waren inzwischen an der Ecke Zahlstraße angekommen. Die junge Frau aus der Nummer 9b trat gerade aus der Haustür und registrierte die Gruppe eine Sekunde zu spät. Hätte sie die Jungen einen Moment früher bemerkt, wäre sie zurück in den Flur gegangen und hätte gewartet, bis sie außer Sichtweite sind. Seit Jahren konnten Rotzjungen wie Paul und seine Kumpane wild marodierend durch die Straßen ziehen. Über Sachbeschädigungen, Beleidigungen, tätliche Angriffe mit Raub oder Erpressung – oder beidem – regte sich in dieser Republik niemand mehr auf. Zu massiv waren die Gesetzesübertretungen nahezu jeder Bevölkerungs- und Altersschicht. Alte, Frauen und auch männliche „Opfertypen“ waren ihrer Habe und ihrer Gesundheit nicht mehr sicher, wenn sie alleine unterwegs waren. Zu groß war die Chance, Jungen wie Paul oder Jugendbanden in die Hände zu fallen, zusammengeschlagen und ausgeraubt zu werden. Das war die rohe soziale Realität in der siebzig Jahre zuvor gegründeten Republik. Die junge Frau erfasste ihren nicht rückgängig zu machenden Fehler und richtete sich auf äußerste Schwierigkeiten – vielleicht einen Wendepunkt in ihrem Leben – ein.

Die Frau hieß mit Spitznamen Jacky, war 21 Jahre alt und auf dem Weg zu ihrem Zweitjob in einer Pflegestation. Sie tat so, als würde es ihr nichts ausmachen, ein Stück ihres Weges vor den Jungen zu laufen. Schnellen Schrittes schlug sie ihren Weg Richtung Westen ein. Die drei sahen sich an und unterbrachen ihre Unterhaltung. Paul knuffte seinen Ellenbogen in Max’ Seite und sah ihn schräg an. Er hatte ein dreckiges Grinsen im Gesicht und kniff ein Auge kurz zu.

Dominik, der am meisten Zurückgebliebene unter seinesgleichen, pfiff durch die Zahnlücke seiner Schneidezähne aus. Die junge Frau beschleunigte ihren Gang und versuchte krampfhaft, sich nicht umzudrehen. Sie war den einzelnen Jungen körperlich überlegen, zu dritt hatten die drei jedoch eindeutig die Oberhand und trauten sich einiges zu. Paul zischte leise: „Los, die Alte hat jetzt Spaß mit uns. Schon mal gevögelt, Dominik? Brauchst nichts sagen, wir werden mal sehen, was geht. Max, wenn sie vorne am Ende des letzten Grundstückes ist, machen wir sie nieder. Gleich rechts dort ins Gebüsch. Seid ihr dabei?“

Dominik antwortete zuerst: „Na klar, Alter, ich warte schon zwölf Jahre drauf. Mach du’s zuerst.“

Auch Max war mit dem Vorhaben einverstanden und so beschleunigten auch sie ihren Lauf. Jacky ahnte mehr und mehr, was auf sie zukam, und sah sich nun doch um. Die Jungen waren nur noch wenige Meter hinter ihr und bemühten sich, den Abstand beizubehalten. Noch ein paar Schritte und sie gelangte in den unbewohnten Teil der Straße, in dem es rechts und links nur noch verwahrloste und ausgebrannte Grundstücke gab – ein idealer Ort, um einer Frau Gewalt anzutun. Sie öffnete im Gehen ihre Gürteltasche und zog ein schweres Taschenmesser heraus. Vor ihrem Körper und so, dass es die Jungen nicht sehen konnten, öffnete sie die Klinge und ließ sie in die Arretierung einrasten. ‚Den Wichsern zeig ich’s‘, dachte sie und bog nach rechts ab.

Nur zwei Sekunden später rannten ihr Paul und seine Kumpane hinterher. Max, sonst eher der Unentschlossene, schien bei der Aktion eine aktive Rolle übernehmen zu wollen, erreichte sie als Erster und griff ihr an den Hals. Zu spät sah er, dass sie mit aller Kraft mit dem Messer nach ihm hieb. Die Klinge traf ihn am Oberarm und drang in seinen Muskel. Er schrie laut auf und brach den Angriff ab. Vor Schmerz nicht in der Lage, weiter aufrecht zu stehen, ging er in die Knie und hielt sich mit der Hand die verletzte Stelle.

Paul hatte einen Moment gezögert und wollte Max den Vorrang lassen. Nachdem die heftige Abwehr der Frau ihn erschrocken hatte, schlug er umso entschlossener und kräftiger auf sie ein. Innerhalb von Sekunden musste Jacky mehrere heftige Fausthiebe ins Gesicht und in die Magengrube einstecken. Ihre anfängliche Gegenwehr erstarb unter der Einwirkung dieser rohen Gewalt. Auch Dominik setzte ihr mit kräftigen Tritten mächtig zu.

 

Max hatte sich in der kurzen Verschnaufpause seine Verletzung angesehen und bemerkt, dass sie im Grunde unerheblich war. Er blutete nur wenig und der erste Schreck verwandelte sich rasch in gewaltige Wut. Er schrie sie an: „Alte, jetzt bist du dran. Du musst sterben!“

Max hob das Messer auf und setzte tatsächlich zu einem Hieb damit an, den sie blitzschnell parierte und sich zur Seite drehte. In ihrer Todesangst entwickelte Jacky ungeahnte Kräfte.

„Hilfe, hört mich denn niemand? Ich brauche Hilfe, ich werde umgebracht!“, schrie sie aus Leibeskräften.

Und sah nicht, wie ein älteres Ehepaar am Fenster eines nicht weit entfernten Hauses zusah und sich nach ihrem dringenden Hilferuf kalt abwandte, das Fenster und die Gardinen schloss. Die Hilfsbereitschaft der Bewohner der einst erfolgreichen Messestadt war auf einem Tief-, ihre Angst vor den terrorisierenden Jugendbanden zugleich auf einem Höhepunkt angekommen. Niemand war in solchen Momenten mehr zu Zivilcourage bereit oder schritt beherzt und helfend ein. Es gab nur das stille, aber grausame Wegsehen.

Dominik lachte und spuckte nach ihr. Die Jungen hatten nicht mit dieser massiven Gegenwehr gerechnet, hielten kurz inne und schwankten zwischen Rückzug und totaler Eskalation. Max war inzwischen derart außer sich, dass ihm alles egal wurde. Obwohl er in seinem Elternhaus überwiegend ohne Gewalt erzogen worden war, entwickelte er auf der Straße in solchen Situationen einen übergroßen Drang nach äußerster Brutalität – auch, um sich unter seinesgleichen Respekt zu verschaffen. Paul, eigentlich der Anführer der drei, sah zu, wie sich die Situation verschärfte.

Zwar war er mit Straftaten groß geworden – die Szene hier war jedoch auch für ihn etwas Ungewohntes. Er spürte, dass sie diesmal zu weit gegangen waren und dass er, weil er keine Schwäche zeigen wollte, diese Auseinandersetzung nur mit einem kapitalen Abschluss beenden konnte.

Max kam schnell wieder auf die Beine – auch er war auf die Endstufe der Gewaltspirale eingestellt und ließ die folgenden Dinge einfach geschehen. Seine minimalen restlichen menschlichen Reflexe schaltete er für das vor ihm Liegende aus. Dominik begriff den tödlichen Ernst der Lage nicht; er war mit zwölf Jahren schlicht zu jung, um den Angriff der drei auf ein wehrloses Opfer richtig einzuschätzen. Später wünschte er sich, dass er in diesem Moment einfach weggerannt wäre und den beiden anderen den grausamen Ausgang überlassen hätte.

In der kurzen Bedenkzeit während des Messerkampfes zwischen der jungen Frau und Max beschloss Paul, dass sie diesen Sonnabendvormittag nicht lebend überstehen durfte. Max nahm erneut das Messer und stürzte sich auf die immer noch am Boden Liegende. Nun trat auch Paul mehrmals hart in ihr Gesicht und in den Unterleib. Völlig außer sich brüllte er: „Alte, du weißt gar nicht, was dir blüht. Tickst du noch ganz richtig? Wir machen dich kalt – oder du gibst endlich Ruhe.“

Sie lag auf dem Rücken, Max saß auf ihr und Paul rammte ihr die Faust in den Magen. Den harten Untergrund unter sich, musste Jacky die fürchterliche Härte dieses Schlages eines Vierzehnjährigen ertragen. Es war grauenhaft und in ihr kam der Gedanke auf, dass sie dem Tode sehr nahe war.

Paul hatte inzwischen seine Hose aufgeknöpft.

„Halt sie fest Max! Dominik, tritt ihr in die Fresse, wenn sie nicht ruhig wird!“

Max hatte inzwischen ihr Arme fest im Griff und die Gegenwehr von ihr ließ nach. Ergab sie sich nun in ihr Schicksal?

Max musste trotz nachlassender Aktivität seines Opfers ständig dessen Arme neu packen, sein Gewicht wieder auf sie verlagern oder auf Dominiks Hilfe durch gezielte Fausthiebe in Jackys Gesicht hoffen, damit er halbwegs die Gewalt über sie behielt.

Pauls Manipulationen an sich selbst waren erfolglos. Die Szenerie war einfach zu unmenschlich, zu abgefahren und zu gewalttätig, als dass er in diesem Moment auf sexuelle Reize angesprungen wäre. Auch, dass Max inzwischen die Kleidung vom Oberkörper gerissen und die Brust der jungen Frau offen gelegt hatte, trug nichts zu dem von ihm gewünschten Erfolg bei. Was würden bloß seine Kumpel von ihm denken, wenn er so unmännlich dastand? Die Antwort auf diese Frage war nur eine: absolute, Menschen verachtende und in der Konsequenz brutale Gewalt – er wollte die Frau töten.

***

Sie rannten in Richtung RMA. Dominik konnte nicht Schritt halten und fiel etwas zurück. Dadurch, dass er allein vor sich hin rannte und als Letzter um die Ecke zur RMA bog, konnte er durch eine letzte Kopfwendung noch einen Blick auf ihren Tatort erhaschen: Unmittelbar nach ihrem Überfall und der Flucht, kam das ältere Ehepaar, das Zeuge des Geschehens gewesen war, doch aus seinem Haus und eilte zu der leblos am Boden liegenden Jacky. Dominik war geringfügig erleichtert, verspürte aber große Angst, vor dem, was vor ihm lag.

Jacky überlebte trotz mehrerer Messerstiche in ihren Bauch die Attacke der drei Jungen.

2. KAPITEL

Die Straßen der nördlichen Großstadt mit dem ehemals anerkannten und bedeutenden Seehafen an einem Strom glänzten nass, als der alte 2012-er Mercedes CLS in die Steinstraße einbog. In diesem Viertel der „Pfeffersäcke“ ließ es sich im Vergleich zu anderen Großstädten der heruntergekommenen Republik noch erträglich leben. Man war unter sich: ehemals sehr Wohlhabende, die ihre einstigen Besitzstände durch Investition in ihren Wohnsitz „gerettet“ hatten. Beim Einbiegen in das Viertel musste er seine Fahrt verlangsamen, weil der Mitarbeiter des von den Bewohnern beauftragten Wachschutzunternehmens ihn kontrollierte. Der Mann erkannte den Insassen und winkte ihn durch. Fremde konnten zwar die Straße befahren, wurden jedoch von Angehörigen des Sicherheitsdienstes umgehend begleitet und beobachtet. Beim geringsten Anzeichen von anormalem Verhalten war der Wachschutz angehalten, die betreffenden Personen zur Rede zu stellen, einzuschreiten und im äußersten Falle auch festzunehmen. In diesem Viertel herrschte seit geraumer Zeit wieder etwas mehr Ruhe und die Klasse war „sortenrein“ untergebracht.

Der Fahrer des Mercedes dachte zufrieden: ‚Endlich in meinem Blankeheide‘ und meinte damit sein Wohnviertel. Er konnte es jedes Mal kaum erwarten, die anderen, chaotischen, verdreckten und gewalttätigen Stadtteile hinter sich zu lassen, um in seinen zumindest restbehüteten Hort zu kommen. Hier war die Welt für ihn noch in Ordnung. Der Fahrer, Felix Dännicke war Berufspolitiker. Er gehörte dem LBD an, dem Liberalen Bund des Landes. Mit seinen 38 Jahren hatte er einen ordentlichen Posten in dieser Partei. Auch sein Äußeres entsprach dem eines echten typischen Politikers. Er war groß, hatte Übergewicht, so dass er die Konfektionsgröße alle zwei Jahre nach oben wechseln musste. Derzeit trug er die Größe 60. Sein Gesicht zeugte von seiner guten und reichlichen Ernährung – dicke Wangen, Doppelkinn. Damit seine Halbglatze nicht den gesamten Kopf eroberte, pflegte er die dunklen, restlichen Haare besonders. Stets sorgfältig nach hinten gekämmt, glänzte es von der Pflegeemulsion wie bei einem italienischen Mafioso. Mit seiner ausgesucht teuren Brille und einem auffälligen goldenen Ring an seiner Hand konnte er fast dieses äußere Klischee erfüllen.

Er steuerte den Mercedes gekonnt und flüssig vor das Tor seines Grundstücks und hielt an. Die große gusseiserne Pforte war durch seinen ID-Chip gesichert. Er musste den rechten Daumen auf den Chip drücken und den linken über einen Sensor vor dem Tor führen. Erst bei Übereinstimmung der beiden Fingerabdrücke und der Freigabe durch seinen ID-Chip öffnete sich das Tor. Sofort nach seiner Durchfahrt schloss es sich, und er musste einen Moment warten, denn um in die Tiefgarage zu kommen, waren die gleichen Handgriffe noch einmal nötig. Felix nannte den Vorgang schleusen. Sein Sicherheitsdienst hatte ihm diese Verzögerung extra einprogrammiert, damit bei versuchten Raubüberfällen ein direkter Zugang in das Wohnhaus verhindert wurde.

Nachdem er die Prozedur auch für die letzte Tür von der Garage in das Gebäude hinter sich gebracht hatte, rief er die Treppe hinauf: „Hallo ihr beiden, ich bin wieder da. Will mir keiner um den Hals fallen?“

Seine Frau kam aus dem Wohnbereich und sagte: „Hi, mein Süßer, ich habe schon auf dich gewartet. Wie war denn dein Tag?“

In diesem Moment erhielt er eine Nachricht auf seinen ID-Chip. Dieser war eigentlich kein Chip, sondern ein etwa fünf Mal zehn Zentimeter großes Touchpaneel, welches Mitte der 2010-er Jahre die damaligen, veralteten Handys abgelöst hatte. Dieses Paneel wurde von einer zentralen Behörde für jeden Eigentümer persönlich programmiert und zugeteilt. Es stellte einen hohen persönlichen Wert dar, da es außer Identifikation, Führerschein, Kreditkarte, Krankenkarte und Funktelefon auch sämtliche persönliche Behördendaten, die Krankenakte, Steuer- und Einkommensdaten und die gesamten persönlichen Computerdateien seines Besitzers beinhaltete. Über die zentral verwalteten Fingerabdrücke wurden sämtliche sicherheitsrelevanten Zugänge kontrolliert und gesteuert. Jeder Besitzer hatte sein, kurz ID genanntes Gerät stets am Körper zu tragen. Dafür gab es Halterungen, Clips, Gürtel, Bänder usw. Das ID war wasserdicht, stoßresistent und hitzebeständig. Besitzer von ID waren in dieser Republik jedoch ausschließlich Steuern zahlende Bürger. Allen Nichtsteuerzahlern wie Rentnern, Kindern, Arbeits- oder Obdachlosen wurde ein ID staatlicherseits verweigert. Dieser Personenkreis musste seit Einführung der neuen Technik auch auf das Privileg verzichten, ein Funktelefon zu nutzen, da sich die Funknetzbetreiber dem staatlichen Druck beugen und die Frequenzen für normale Funktelefone abschalten mussten.

Felix antwortete: „Ach, heute war es ganz gut. Schuster hat vielleicht eine neue Aufgabe für mich. Vielleicht ist er das ja gerade.“

Schuster war sein Vorgesetzter im LBD. Dieser noch junge parteiliche Zusammenschluss stellte ungefähr fünfzehn Prozent der Regierungsriege.

Felix checkte sein ID und bat: „Warte mein Schatz. Die Mail ist von Schuster. Vielleicht beginnt damit eine neue große Sache für mich. Ich muss kurz das Foto machen.“

Während ihres kurzen Wortwechsels waren sie in den Wohnbereich gegangen. Felix nahm aus seinem Aktenkoffer eine alte Digitalkamera und öffnete die Mail auf seinem ID. Sobald der Text sichtbar wurde, machte er ein Foto davon. Die Nachricht war mit der Option „Löschen nach Lesen“ versehen und stand dem Empfänger nur einmal zur Verfügung. Nach kurzer Zeit, gerade genug, um den Text einmal zu lesen, löschte sich der gesamte Datensatz und es war, als sei die Nachricht praktisch nie gesendet worden. Dadurch war es möglich, wichtige und nur für den Empfänger bestimmte Mitteilungen nicht mehr nachvollziehen zu können. Damit wurden auch nachträgliche belastende Konfrontationen mit brisanten Inhalten vermieden. Besonders in politischen Kreisen wurde von dieser Funktion rege Gebrauch gemacht. Dass Felix solche Nachrichten grundsätzlich fotografierte und somit wieder nachweisbar machte, war auf seine persönliche Geheimdienstparanoia zurückzuführen.

Er las laut vor: „Felix, Sie sind heute für den AK FK nominiert worden. Entscheidung bis morgen früh und mir sofort Bescheid geben. Gruß, Schuster.“

Hocherfreut fuhr er fort: „Schatz, das ist meine große Chance. Dort wollte ich rein, weil ich dort gute Ideen einbringen kann. Endlich hat er es gerafft, dass ich zu Höherem berufen und kein kleiner Parteisoldat bin. Geil. Endlich. Jetzt dreh’ ich die ganz großen Räder!“

Er fiel seiner Frau um den Hals und drückte ihr einen groben Kuss auf die Wange. Sie sah ihn verdutzt an: „Sag mir bitte mal, was das für ’n Club sein soll. AK FK? Ist das was Wichtiges? Kriegst du mehr Kohle?“

„Geld lass mal meine Sorge sein. Ich glaube, ich schaff’ genug ran und du musst dich nicht weiter kümmern. AK FK heißt: Arbeitskreis Finanzkonsolidierung. Das ist die Eintrittskarte nach ganz oben. Dorthin, wo ich immer hinwollte.“

„Ich versteh’ immer noch Bahnhof. Komm, wir gehen erst mal in die Küche und essen etwas. Hast du Hunger?“

„Ja, aber du weißt doch, wovon ich immer rede und träume? Schatz, du musst dir so was doch merken!“

Felix und sie gingen in die Küche. Er war seiner Frau gegenüber unsicher, weil sie nicht gleich zuordnen konnte, was ihm mit der Nachricht von Schuster Gutes widerfuhr. Stets redete er von seinen politischen Ambitionen und seinem Drang, es nach ganz oben schaffen zu wollen. Wenn auf jemanden das Prädikat karrieregeil zutraf, dann war es Felix Dännicke.

In der Küche stand ein vorbereitetes Abendbrot, das er, ohne Worte zu machen, anfing zu essen. Seine Frau sah ihm schweigend zu.

 

„Schatz“, fragte er mit vollem Mund, „bitte sag’ mir, dass du an meiner Karriere mit teilnimmst. Wir reden doch so oft zusammen darüber?“

Felix hatte insofern recht, dass seine politischen Träume sehr oft Gegenstand von Gesprächen zwischen ihnen waren. Jedoch übersah er geflissentlich, dass diese Gespräche fast immer Monologe waren und er sich in endlosen Ausführungen stets einseitig äußerte. Seitens seiner Frau kamen wenig Nachfragen oder interessante Rückäußerungen. Ihr war es schlicht nicht so wichtig; im Gegensatz zu ihrem selbstherrlichen Mann.

Sie antwortete zögerlich: „Doch, ich weiß, dass du weiterkommen willst. Und ich halte dich auch für einen fähigen Politiker mit der Aussicht, es zu etwas ganz Großem zu bringen. Flixel, ich stehe doch hinter dir.“

Mit Flixel redete sie ihn nur an, wenn sie Ärger vermeiden und ihn beschwichtigen wollte. Sie spürte, dass er enttäuscht war wegen ihrer offenkundigen Ahnungslosigkeit sein berufliches Vorankommen betreffend.

Erneut versuchte er ihr die Nachricht von Schuster zu erklären: „Also, noch mal: Schusters Mail ist eine Einladung in den Arbeitskreis, der sich mit der Finanzkonsolidierung unseres Staates befasst. Seit ein paar Monaten wird davon gemunkelt, dass etwa ein Dutzend Delegierte aus allen Parteischichten dazu zusammenkommen sollen und ein Konzept zur finanziellen Verbesserung unserer Staatsfinanzen erarbeiten sowie umsetzen sollen. Der Arbeitskreis soll eigentlich weitestgehend geheim und selbstständig sein Konzept erstellen und nach Absegnung durch die Regierung dann praktisch verwirklichen. Da ich seit Monaten inoffiziell davon weiß, habe ich mir darüber schon Gedanken gemacht, und ich könnte sofort das Endergebnis des Arbeitskreises darlegen. Ich muss mich da so einbringen, dass meine Ideen beschlossen werden. Das ist das Größte politische Vehikel, was ich bisher angehen durfte. Schuster hat mich als Einzigen des LBD delegiert.“

Der Bund war die Nachfolgeorganisation der ehemaligen Freien, der einstigen liberalen Bundespartei. Dännicke hatte es bis zum Büroleiter der Landesgruppe Nord mit ihrem Hauptsitz in der hanseatischen Elbestadt geschafft. Nach diesem Karrieresprung konnte er auch das Anwesen in Blankeheide erwerben. Das war vor drei Jahren. Sein Boss Schuster war bereits im Vorstand des LBD, saß in der Bundeshauptstadt und hatte Dännicke bisher gut protegiert.

Seine Frau – Rita – zeigte sich nun doch etwas interessierter: „Und wieso haben sie ausgerechnet dich dahin eingeladen?“

„Schuster traut mir auf dem Gebiet Staatsfinanzen einiges zu. Zumindest gibt es weit und breit keinen, der es besser kann. Ich habe mich mehrfach mit schriftlichen Vorschlägen über ihn an die Regierung gewandt, bisher aber nicht mit Erfolg. Meine jetzige Idee habe ich aber für mich behalten.“

„Um was würde es denn dabei gehen? Flixel, ich hab’ von solchen Dingen nicht so viel Ahnung. Erkläre es mir bitte.“

„Aber das kann ich in diesem Fall nicht. Es geht mir um viel. Wenn nicht sogar um alles. Wenn ich das verpatze, bekomme ich nie wieder so eine Chance. Lass mich erst mal etwas reinkommen und dann kann ich dir auch etwas mehr davon erzählen. Okay?“

„In Ordnung. Ich drücke dir die Daumen, dass du es gut hinbekommst. Wo findet das denn immer statt?“

„Das muss ich morgen erst mal sehen. Ich fahre gleich früh ins Büro und verabrede mich per Videokonferenz mit den anderen Teilnehmern. Ich denke, dass das in einer der Landeszentralen sein wird. Vielleicht muss ich ja nicht so weit fahren. Mal sehen, was sich da so entwickelt.“

Felix Dännicke hatte wirklich sehr konkrete Vorstellungen, die er in den Arbeitskreis einbringen wollte. Er wusste aus inoffizieller Quelle, dass es der Regierung um die Eindämmung des Bereiches Schwarzgeld ging. Die letzten Hochrechnungen, die er zu Gesicht bekommen hatte, endeten damit, dass seinem Staat pro Jahr zwischen 700 und 900 Milliarden DEuro Steuergelder verloren gingen, weil sämtliche Bevölkerungsschichten seit Jahren ihren eigenen Geldumlauf derart ausgebaut hatten, dass diese Unsummen von staatlichen Verlusten zusammenkamen. Kein europäisches Land hatte mehr unter dem Schwarzhandel zu leiden, der inzwischen sämtliche geschäftlichen Bereiche, unter anderem auch Juristerei, Bankwesen und Gesundheitssystem, am Leben erhielt. Felix Dännicke jedoch wusste zu diesem Zeitpunkt bereits, wie er dieses Problem vollständig beseitigen konnte. Er ahnte, dass ihm wahrhaft Großes bevorstand.

Und er wollte diesen Arbeitskreis nutzen, um sich für einen weiteren, aus seiner Sicht erheblich wichtigeren Arbeitskreis in Stellung zu bringen, zu empfehlen. Dieses war sein eigentliches Ziel. Die Finanzkonsolidierung hatte er bereits lange fertig geplant. Er betrachtete die Umsetzung seines Vorhabens dazu nur noch als technisches Problem und eine Frage der Zeit. Hatte er dies erst einmal in die Realität umgesetzt, würde er sein noch länger und tiefer verinnerlichtes Projekt angehen: Die Schaffung einer perfekten und vollendeten Gesellschaftsstruktur für sein Land!

Rita wollte davon immer noch nicht allzu viel wissen. Ihr reichte es aus, wenn ihr Mann regelmäßig und genügend Geld verdiente.