2022 – Unser Land

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4. KAPITEL

Felix Dännicke war an diesem Morgen beim Verlassen seines Grundstückes in Blankeheide aufgeregt, aber in froher Erwartung auf seinen ersten spannenden Tag im Arbeitskreis Finanzkonsolidierung. Er konnte es kaum erwarten, seine Ideen darin einzubringen und dafür zu kämpfen, dass seine – und nur seine – Vorschläge in die Tat umgesetzt wurden. Seinen Boss Schuster hatte er bereits auf seiner Seite. Die übrigen Mitglieder des AK wollte er erst einmal in Ruhe kennenlernen, um sich dann auf eine bestimmte Strategie festzulegen, die ihn seinem Ziel näher brachte. Heute war in der nördlichen Elbestadt das erste Treffen angesetzt. Die Einladungen zu dieser Zusammenkunft wurden den Teilnehmern über ihre jeweiligen Parteien zugestellt – und waren geheim. Davon, dass Einzelne als Delegierte ausgewählt wurden, hatten nur die Vorstandsmitglieder der Parteien Kenntnis, da diese im Parlamentarischen Kontrollausschuss mit der Regierung die Zusammenstellung des AK beschlossen hatten. War der Arbeitskreis erst einmal gebildet und arbeitsfähig, agierte er absolut autark und losgelöst von den Parteien, dem Parlament und der Bundesregierung. Die Befugnisse der AK waren enorm, konnten sie doch ohne Weiteres Gesetze formulieren und auf dem kleinen Dienstweg der Regierung zum Beschluss vorlegen. Die meisten der seit 2017 beschlossenen Gesetze waren auf diesem schnellen, geheimen und undemokratischen Weg in Kraft getreten.

So sollte es auch diesmal werden!

Felix kannte die Aufgabenstellung bereits ziemlich genau, dafür hatte Schuster gesorgt. Diesem lag viel daran, dass sein Schützling besonders erfolgreich in dem AK auftreten konnte, ja vielleicht sein Vorschlag zum Gesetzentwurf wurde.

Als Felix die einspurige Behelfsbrücke überquert hatte, die die einst stolze Köhlbrandbrücke ersetzen musste, nachdem sie im vierzigsten Jahr ihres Bestehens mangels Wartungs- und Sanierungsmöglichkeiten gesperrt worden war, bog er in die Seitenstraße ein, in der Schuster wohnte und dieser vor seinem Haus auf Felix wartete.

„Moin, Schuster“, sagte Dännicke nach dem Öffnen der Autotür.

Die Anrede mit dem Nachnamen war nichts Ungewöhnliches und tat ihrem ansonsten guten Verhältnis keinen Abbruch. Sie wechselten je nach Stimmung zwischen dem Vor- und Nachnamen hin und her.

„Moin, Dännicke, Sie sind pünktlich da, das ist gut. Kennen Sie den Weg zu unserem Termin?“

Er war während der Begrüßung in das Auto eingestiegen und Felix Dännicke hatte den Wagen sogleich wieder in Bewegung versetzt.

„Ja, ich weiß, wohin wir müssen, musste schon mal Ihren Vorgänger hinbringen. Sonst haben wir da bisher keinen Zutritt gehabt.“

Er meinte eine Wohnung, die im Besitz der Bundesregierung stand und für geheime Zwecke konspirativ zur Verfügung gestellt wurde. Da der Arbeitskreis auf Betreiben der Regierung entstehen sollte, stellte die Wohnung kein Problem dar. Die eigentlich geplante Videokonferenz hatte Schuster spät abends abgesagt und stattdessen das Treffen im Stadtteil Schönefeld übermittelt. Auch die anderen Teilnehmer hatten diese Planänderung von ihren Parteien erhalten.

Sie fuhren weiter Richtung Schönefeld. Sie hatten nun noch ungefähr eine viertel Stunde zu fahren, als sich Schuster fragend an Felix wandte: „Dännicke, haben Sie eine Vorstellung von dem, was Sie da heute erwartet? Ich bin nur zur Einführung und Verifizierung dabei. Dann bin ich in anderer Sache unterwegs.“

„Ja. Ich habe etwas mitbekommen, als Sie die Aufgabenstellung einmal online hatten. Sorry, wollte nicht zu neugierig sein. Es geht um die Finanzkonsolidierung unseres Landes. Ich habe das ganze Memo gelesen. Ich hatte damals den Eindruck, dass Sie es zu diesem Zweck geöffnet hatten.“

„Stimmt. Ich wollte, dass Sie bereits frühzeitig mit dem Thema konfrontiert werden, weil ich Sie auf diesem Gebiet für kompetent halte. Sie wissen das. Konnten Sie mit der Hilfestellung etwas anfangen? Ich hoffe, ja. Dännicke, ich zähl’ auf Sie. Auch ich habe noch Karrieresprünge vor mir und ich brauche Vertraute um mich herum. Den allgemeinen Parteimob möchte ich nicht überall haben.“

„Danke. Weiß schon, dass ich da große Vorschusslorbeeren bekommen habe. Ich habe seit dem Lesen des Memos an fast nichts anderes mehr gedacht und brenne nun darauf, meinen Vorschlag einzubringen. Wie viele Mitglieder wird denn der AK haben?“

„Außer Ihnen sind noch elf andere bestellt. Am besten, Sie lassen es ruhig angehen. Verschießen Sie nicht zu früh Ihr ganzes Pulver. Immer schön taktisch denken und handeln. Halten Sie die anderen einfach für impulsive Trottel.“

„Leicht gesagt. Ich gebe mir Mühe und halte Sie auf dem Laufenden. In zwei Minuten sind wir da.“

Sie bogen in eine kleine Nebenstraße der Friedrich-Ebert-Allee und hielten in der Nähe der Hausnummer 19 f.

„Hier müssten wir richtig sein“, sagte Dännicke zu seinem Boss und dieser nickte kurz. Schuster wirkte auf einmal etwas wortkarg und verschlossen. Wahrscheinlich lag das an der Örtlichkeit, dachte sein Schützling und nahm es so hin. Sie gingen die letzten Schritte zu dem unauffällig gesicherten Eingangstor. Schuster nahm sein ID und sendete einen Code, den er zusammen mit der Nachricht zum Versammlungsort erhalten hatte, an den Bildschirm, der neben der gewöhnlichen Klingel in das Mauerwerk eingelassen war. Die Tür öffnete sich und beide betraten das Grundstück. Dännicke sah sich kurz um und stellte fest, dass es sich um ein verwahrlostes altes Gelass mit einer großen, ehemals sehr schönen Villa handelte. An vielen Stellen war Sicherungstechnik zu sehen. Er dachte: ‚Gar nicht so schlecht. Hier kann ich loslegen.‘

Schuster sendete an der Haustür erneut den Code und sie erhielten den Zugang in das Haus. Aus den Räumen hörten sie leises Stimmengewirr. Aus einem Zimmer kam ihnen eine junge Frau entgegen, die sie gleich persönlich ansprach: „Guten Tag, Herr Schuster und Herr Dännicke. Wir haben Sie bereits erwartet. Die übrigen Mitglieder sind bereits geprüft und warten. Bitte kommen Sie mit mir zum Administrator und erledigen Sie die Formalitäten.“

Sie folgten ihr und händigten dem Administrator ihre ID aus. Dieser prüfte mit seinem eigenen ID die Richtigkeit und nickte der jungen Frau kurz zu.

„Alles okay“, sagte er knapp.

Mit dem Abgleich der ID wurden notwendige Formalitäten im Vergleich zu früher deutlich vereinfacht. Es brauchten keinerlei Dokumente vorgelegt, ausgetauscht oder geprüft werden.

Die Empfangsdame bat erneut, ihr zu folgen, und sie betraten den eigentlichen Versammlungsraum, das ehemalige Wohnzimmer des Hauses. Es hatte eine stattliche Größe. Bis auf einen großen Konferenztisch mit zwölf Bürosesseln war es leer. Vor jedem Sessel lag ein großes Tableau, eine Weiterentwicklung der früher verwendeten Tablets. Mit diesen waren sämtliche Bürovorgänge zu erledigen: Präsentationen, Schriftstücke verarbeiten, Nachrichtenverkehr aller Art, Speicherung und anderes. Mit dem Einsatz dieser Hardware gab es kein einziges Stück Papier mehr.

Felix Dännicke war zufrieden und stellte sich vor: „Guten Morgen, meine Herren. Ich bin Felix Dännicke vom LBD. Das hier ist mein Boss Herbert Schuster.“

Der Erwähnte sah Dännicke von der Seite etwas unverständlich an, war er doch der Vorgesetzte und wollte die Einführung selbst übernehmen. Doch Dännicke fuhr unbeirrt fort: „Ich bin – genau wie Sie – in den AK berufen worden. Ich hoffe auf gute Zusammenarbeit und erwarte schon heute erste Ergebnisse.“

Seine forsche Art kam bei den übrigen Mitgliedern überhaupt nicht an.

Der bis zu diesem Zeitpunkt Wortführende antwortete ihm: „Guten Tag, Herr Dännicke. Mein Name ist Ostermann. Ich bin Delegierter der SDW.“

Die SDW – die Sozialdemokratische Wählervereinigung – stellte die Nachfolgeorganisation der Mitte der 2010-er Jahre aufgelösten Partei der Sozialdemokraten dar.

Nacheinander stellten sich nun auch alle anderen Anwesenden vor. Es waren insgesamt drei Mitglieder der christlich orientierten Partei, vier der PDZ – der Partei der Zuwanderer – und drei der SDW versammelt. Felix Dännicke sollte gemeinsam mit ihnen sowie mit der einzigen Frau in der Runde, die der Linksgrünen Partei angehörte, den Arbeitskreis zur Finanzkonsolidierung bilden. Alle Delegierten waren jung, hatten einen sehr guten Bildungsgrad und hohen innerparteilichen Rückhalt. Jede Partei hatte ihre hoffnungsvollsten Nachwuchskader gesandt. Es war dies der ausdrückliche Wille der Bundesregierung und sollte sicherstellen, dass nur die besten und fähigsten politischen Köpfe mit der Aufgabe betraut wurden.

Nachdem Schuster und auch die anderen Begleiter der Delegierten, die junge Angestellte und der Administrator das Haus verlassen hatten, befand sich der Arbeitskreis endlich unter sich. Es gab keine Tages- oder Rangordnung, die das weitere Vorgehen bestimmen könnte.

Dännicke erhob als Erster das Wort: „Also, ich glaube, wir sollten uns erst einmal auf ein grobes Konzept für unsere Vorgehensweise verständigen. Wahrscheinlich hat niemand von uns jemals in einem AK gearbeitet. Ich habe mir vorsorglich erste Gedanken gemacht und wir könnten uns darüber austauschen. Wer hat dazu Einwände?“

Ostermann, der Sozialdemokrat antwortete: „Nein, da gibt es sicher nichts einzuwenden. Jedoch sollte sich zusätzlich auch eine gewisse Struktur in unserem AK bilden. Einfach drauflos zu philosophieren halte ich nicht für zielführend.“

Er hatte die Gabe, sich äußerst korrekt und gewählt auszudrücken. In seinen Sätzen kamen niemals ein „Äh“, ein „Mhm“ oder andere Füllwörter vor, die auf Unsicherheit schließen ließen. Sprachlich war er top und Dännicke schon mit den ersten Sätzen überlegen.

Dieser erwiderte: „Okay. Wir sollten dafür nacheinander unsere Vorstellungen äußern, vielleicht Wahlvorschläge machen und daraus einen Vorsitz wählen. Ich selbst würde diese Funktion gerne übernehmen. Da ich mich nicht selber vorschlagen will, möchte ich Herrn Ostermann dafür nominieren. Keiner von uns sollte sich selbst zur Wahl vorschlagen.“

 

Die Eigendarstellung von Dännicke stieß bei den meisten der Anwesenden auf Verwirrung; ging es ihnen doch hauptsächlich um die Sache selbst. Natürlich war das auch bei Dännicke so, doch er wollte zusätzlich, dass seine Arbeit das größtmögliche Gewicht in der Runde bekam. Wer nahm schon irgendeinen Hinterbänkler für voll. Seine Devise war: Sofort in die Vollen. Nach außen mochte er etwas Sachlichkeit und Zurückhaltung vortäuschen, in Wirklichkeit wollte er jedoch der absolute Streber und „Klassenbeste“ sein.

Die übrigen Mitglieder des AK nahmen trotz ihrer Vorbehalte die Diskussion in der vorgeschlagenen Art und Weise auf. Stets war es Dännicke, der das Wort übernahm, Sichtweisen anderer interpretierte und sich langsam, aber sicher als dominierender Teilnehmer hervortat. Richtigerweise lenkte er den Dialog erst darauf, eine Hierarchie in die Gruppe zu bringen. Dabei ließ er jedoch unbedingt als oberste Priorität festhalten, dass alle Stimmen gleichberechtigt waren, die Rangordnung lediglich der organisatorischen Handhabe wegen notwendig war. Nachdem dieser Gesprächsteil zu seiner Zufriedenheit Fortschritte machte, steuerte er auf das Kernthema des AK hin. In einer gesicherten Datei auf den Tableaus der Regierung fanden die Teilnehmer eine genau ausformulierte Aufgabenstellung. Es wurden Eckpunkte definiert, Zeitrahmen abgesteckt und die in etwa zu erfüllenden Erwartungen definiert. Zusätzlich war darin festgelegt, in welcher Form der endgültige Vorschlag für die Gesetzgebung zu erfolgen hatte und wie die finanziellen Auswirkungen dieses Vorschlages darzustellen waren. Abschließend gab es vertragliche Regelungen für eine Prämierung der erfolgreichen Gesetzgebung, die abhängig vom finanziellen Ergebnis war.

Der gesamte Vormittag wurde angestrengt mit Gesprächen verbracht. Nach einer einstündigen Mittagspause war bereits die vierte Stunde des Nachmittags angebrochen, als Ostermann und Dännicke gemeinsam beziehungsweise abwechselnd die Zusammenfassung des Tages vortrugen.

Dännicke begann: „Zuallererst möchte ich mich für das mir entgegengebrachte Vertrauen bedanken. Ich werde versuchen, mit dem mir übertragenen Vorsitz und meinem Stellvertreter, Herrn Ostermann, die Arbeit unseres AK ordnungsgemäß voranzubringen und ein gutes Endergebnis an unsere Auftraggeber, die Bundesregierung, zu übergeben. Die Aufgabenstellung wird in komprimierter Form von Herrn Ostermann noch einmal zusammengefasst. Bitte, Herr Ostermann.“

Der Angesprochene stand auf und ging an das Kopfende des Beratungstisches, an dem auch Dännicke saß. Er nahm die Gesprächsaufforderung an.

„Auch ich möchte mich für den uns entgegengebrachten Vertrauensvorschuss bedanken und mich denselben Zielen verpflichten, die Herr Dännicke prioritär vorgetragen hat. Unsere Aufgabenstellung in Kurzform: Die Bundesregierung hat einen Sachstandsbericht über die finanziellen Auswirkungen von Schwarzarbeit und Steuerschuld in unserem Land vorangestellt. Diesem ist zu entnehmen – bitte sehr vertraulich mit diesen Daten umgehen, sie sind nicht öffentlich zugänglich –, dass jährlich bis zu eintausendvierhundert Milliarden DEuro Steuergelder dadurch verloren gehen. Die bisher publizierten Größenordnungen gingen noch von siebenhundert bis neunhundert Milliarden aus. Diese Größenordnung ist für unser Sozial- und Gesellschaftssystem nicht mehr tragbar. Es gilt zu verhindern, dass Geldströme eines solchen Ausmaßes unserem Finanzsystem Jahr für Jahr verloren gehen, und sicherzustellen, dass wieder deutlich mehr Steuerehrlichkeit entsteht. Ob unsere Wählerinnen und Wähler dies erzwungen oder freiwillig vornehmen, ist dabei egal und sekundär. Das betone ich ausdrücklich!“

Bei diesen Worten sah er jedem Einzelnen in der Runde in die Augen und verlieh seiner Auffassung noch mehr Nachdruck.

Er fuhr fort: „Wir haben also die Aufgabe, ein Instrument zu erfinden oder zu schaffen, das kostengünstig den Bereich Schwarzarbeit, Schwarzgeldverkehr, Bestechung und Korruption sowie damit einhergehende Steuerhinterziehung eindämmt, bestenfalls sogar komplett vermeidet. Ich weiß, es haben vor uns schon mehrere Politikergenerationen versucht, diesen Missstand zu verbessern und Schwarzgeldgeschäfte auszutrocknen. Auch die haben es nicht geschafft. Umso mehr sind wir gefragt.“

Ostermann nickte zum Zeichen dafür, dass er seine Rede beendet hatte.

Ein Teilnehmer, er war Mitglied der PDZ warf nun ein: „Wir sollten uns heute noch austauschen, wann und wie oft wir uns hier treffen. Welche Ergebnisse oder Teilergebnisse erwarten wir das nächste Mal, wer führt diese zusammen, gibt es interne Gruppen, die einen gemeinsamen Weg beschreiten möchten? Und wann werden wir unser Endergebnis der Regierung präsentieren?“

Nun ergriff Felix Dännicke erneut das Wort und antwortete: „Sie haben natürlich recht mit Ihren Fragen. Zunächst sollten wir uns zweimal im Monat hier einfinden und den jeweiligen Stand auswerten. Wir haben dafür auch Zwischenberichte zu verfassen, was Herr Ostermann und ich übernehmen werden. Für unsere nächste Zusammenkunft würde ich bitten, dass jeder Einzelne oder eventuell gebildete Gruppen bereits den endgültigen Vorschlag vorstellen. In den Folgeterminen sollten diese dann im AK genau geprüft, verfeinert oder verworfen werden. Sämtliche Folgetermine sollten nur dazu dienen. Es gilt also, beim nächsten Mal bereits ganze Arbeit geleistet zu haben. Das wird sicher etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen als einen Tag. Deshalb sollten wir uns zwei volle Tage dafür einplanen. Über die Gruppen stimmen wir noch ab. Gemäß unserer Aufgabenstellung haben wir als Endtermin den 31. Januar nächsten Jahres einzuhalten. Bis dahin kommen wir also auf sieben Termine. Das sollte zu schaffen sein.“

Er sah Ostermann erwartungsvoll an. Dieser hatte zwar keine weiteren Ergänzungen, fragte die Runde aber mehrfach, ob sie bezüglich der Bildung von Gruppen Wünsche hätte. Man einigte sich darauf, dass sechs Mitglieder einen gemeinsamen und die restlichen fünf jeweils einen Einzelvorschlag einbringen sollten. Nun entbrannte eine hitzige Diskussion darüber, wie die Stimmenverteilung dazu erfolgen konnte. Die Mitglieder mit Einzelvorschlägen bestanden darauf, dass die Gruppe nur eine Stimme hatte. Ansonsten wäre die Chancengleichheit von Beginn an nicht existent; die Sechsergruppe würde alle anderen überstimmen.

Das mussten nach eineinhalbstündigem heftigem Schlagabtausch auch diese Gruppenmitglieder anerkennen, und es wurde abschließend festgelegt, dass jeder Vorschlag eine Stimme hatte und dabei für den eigenen nicht selbst gestimmt werden durfte. Das war das größtmögliche Maß für eine gleichberechtigte und faire Stimmabgabe. Ostermann und Dännicke wollten natürlich jeder einen eigenen Vorschlag abgeben.

Gegen Ende des Abends schrieb Dännicke eine Kurzfassung des Gesprächsverlaufes in sein Tableau und legte es für alle zugänglich ab. Nach außen konnten die Daten nicht gelangen. Der Administrator hatte ein eigenes geschlossenes Netzwerk angelegt, das nur dem AK selbst und den Mitgliedern des Parlamentarischen Kontrollausschusses zugänglich war. Geheimer konnte dieser Arbeitskreis nicht arbeiten. Immerhin durften die Mitglieder die Tableaus mit nach Hause nehmen. Allerdings mussten sie dafür auf ihrem ID eine persönliche Haftungserklärung bestätigen. Sollten Daten nach außen gelangen oder die Geheimhaltungspflicht verletzt werden, sah diese drastische Strafen vor.“

Felix Dännicke war zufrieden, als er auf seinem Weg nach Hause war. Er hatte es vorerst geschafft, im AK eine führende Stellung zu beziehen, und er konnte seine Konkurrenten auf nur fünf Gegenvorschläge reduzieren. Den ganzen Tag über hatte er unbemerkt seine Beobachtungen der anderen Teilnehmer notiert, etwa auffallende Eigenschaften, Schwächen, Vorlieben oder die vermutete Herkunft und persönliche Eigenarten. Er wusste nicht konkret, wie er diese Informationen zu seinem Vorteil nutzen konnte, nahm sich aber vor, Mittel und Wege zu finden, seine Konkurrenten genauer unter die Lupe zu nehmen und ein möglichst großes Detailwissen über sie zusammenzutragen.

Seit der Einführung der ID war es nicht mehr möglich, mit dem eigenen Mobiltelefon, also im Internet mit Hilfe der früher üblichen Suchmaschinen Namen, Anschriften und andere persönliche Informationen über Personen herauszufinden. Die Suchmaschinen wurden im Zuge der Internetrestriktion ab dem Jahr 2015 gesperrt – waren damit nicht mehr existent. Überhaupt wurde das Internet ab diesem Zeitpunkt dermaßen streng überwacht und eingeschränkt, dass es inzwischen unmöglich war, einfach einen Namen zu scoogeln, wie es früher gang und gäbe war. Die Mitglieder des AK kannten sich faktisch nicht und hatten auch keine Möglichkeit, jeweils gegenseitig tiefgründigere Daten zu erhalten.

Felix Dännicke jedoch würde es trotzdem versuchen.

5. KAPITEL

Am 22. Dezember freute sich Robert, dass es doch noch zu der kleinen Familienzusammenkunft kommen würde, die durch einen Streit zwischen ihm und seinem Adoptivbruder Felix fast unmöglich geworden wäre. Felix wollte wissen, in welchem Gefängnis Paul einsaß. Robert sollte dazu seinen Arbeitskollegen Schubert, Pauls Vater, fragen. Und er wollte die Erlaubnis, Paul dort einen Besuch abstatten zu dürfen. Nach Roberts Ansicht stand zu erwarten, dass Felix diesen armen Kerl für sich und seine Ziele gewinnen und dies als Gegenleistung für seine Fürsprache in dem Gerichtsverfahren verstehen würde. Dieses Einfordern des Gefallens von Felix war für Robert höchst bedenklich, geradezu unmoralisch. Er ahnte, dass die Kontaktaufnahme zwischen den beiden nur zu Pauls Nachteil ausfallen konnte.

Sie hatten sich am Ende darauf geeinigt, dass der Besuch stattfinden und Felix darüber genau Bericht erstatten sollte. Robert erhoffte sich damit eine Chance auf etwas Kontrolle und Einflussnahme auf den weiteren Verlauf dieser „Freundschaft“.

Robert war zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg zum Van-Point der Stadt. Der VP war ein größerer, nachlässig mit Schotter befestigter Platz, der als eine Art Bahnhofs- und Umschlagpunkt für Kleintransporter und Vans diente. Der Bedarf danach entstand während der Energiewende in der zweiten Hälfte der 2010-er Jahre, als individuelle Einzelfahrten mit Privat-PKW unbezahlbar geworden waren. Rasch bildeten sich Fahrgemeinschaften in Kleinbussen, um die horrenden Kraftstoffpreise überhaupt noch bezahlen zu können. Dies galt im Allgemeinen für Privatfahrten, jedoch mussten auch immer mehr Betriebe, öffentliche Unternehmen, Schulen, Krankenhäuser, die Bundeswehr und auch der Politikbetrieb diesen neuen Transportweg nutzen.

Felix war es gelungen, wenigstens eine Fahrgemeinschaft unter seinesgleichen – einen parteiintern genutzten Kleinbus – zu ergattern und konnte die Fahrt von der nördlichen Elbestadt in die ehemalige Messestadt einigermaßen niveauvoll verbringen. Für die nicht privilegierten Bevölkerungsteile galt dies nicht.

Robert wiederum besaß zwar kein eigenes Fahrzeug, hatte aber von Zeit zu Zeit Zugriff auf den Bulli der SE, seinem Arbeitgeber, für dessen Nutzung er pro gefahrenen Kilometer eine halbe Arbeitsstunde leisten musste oder von seinem Lohn abgezogen wurde. Trotz dieser exorbitanten Regelung stellte diese immer noch einen Vorteil für Robert dar. Mit dem Bulli holte er Felix an diesem Morgen ab und wartete seit etwa fünf Minuten auf dem VP.

Er beobachtete einerseits resigniert, andererseits aber auch fasziniert das Treiben der An- und Abreisenden. Menschen jeglichen gesellschaftlichen Standes nutzten diese neue, wenn auch erzwungene Reisemöglichkeit. Ein nützlicher Nebeneffekt war, dass der CO2-Ausstoß erheblich sank und die Klimaziele praktisch „unverschuldet“ eingehalten wurden. Der Platz sah nicht besonders einladend aus. Der kalte, graue Wintertag tat sein Übriges. Hier und da lagen ein paar schmutzige Schneereste der letzten Tage – eigentlich ein Tag für depressive Stimmung. Robert übersah das, war er doch sehr gespannt auf Felix und dessen Bericht über seinen Besuch bei Paul.

Der LBD-Bus war nicht als solcher gekennzeichnet, sondern fuhr möglichst anonym durch die Republik. Daher konnte Robert nicht ausmachen, in welchem Bus Felix ankommen würde, und die Suche auf dem VP erwies sich an diesem Tag als anstrengend und zeitaufwändig. Zum bevorstehenden Weihnachtsfest fielen einfach noch immer zu viele Privatfahrten an, so dass der VP an diesem Tag einem fremdländischen, chaotischem Basar ähnelte.

 

Nach längerem Suchen gelang es Robert, Felix bei dessen orientierungslosem Überqueren des Platzes ausfindig zu machen, und er fuhr langsam auf ihn zu. Er hielt direkt neben ihm und hupte kurz, worauf Felix in das Wageninnere schaute und Robert erkannte.

Er öffnete die Beifahrertür und rief: „Hallo, Robert. Gott sei Dank. Ich laufe schon ewig hin und her und suche dich.“

„Hallo, Felix, spring rein und lass uns abdüsen. Ist heute fürchterlich hier.“

Der Bruder zog die Tür schwungvoll hinter sich zu und ließ sich in den Sitz sinken. Sein Gepäck warf er nachlässig auf die Hinterbank.

Als Robert anfuhr, blickte er nach rechts zu Felix und grinste: „Hast zugenommen. Ist euer Leben so reichlicher als unseres?“

„Ja, ja. Ich weiß. Jetzt erzählst du mir wieder was von gesunder und enthaltsamer Lebensweise. Ach, Robert, ich weiß gar nicht, woher du deine Lebensfreude nimmst, wenn du so karg lebst. Naja, gesünder bist du jedenfalls als ich. Da muss ich dir recht geben.“

Felix fühlte sich bei dem Gedanken, dass sein Bruder wieder einmal das Richtige dachte und sagte, nicht wohl. Die Kritik an seiner Person machte ihm zu schaffen. Er wollte aber nicht, dass dies so offensichtlich wurde, und bemühte sich um einen unverkrampften Umgang damit. Das gelang ihm allerdings nur dürftig.

„Sei doch nicht gleich beleidigt. Aber was wahr ist, soll auch wahr bleiben. Also im Ernst, wie geht es dir und der Familie?“

„Danke, alles in bester Ordnung. Rita hat in letzter Zeit etwas mehr Sorgen wegen unserem Bengel.“

Felix nannte seinen Sohn stets Bengel. Seine Beziehung zu ihm litt unter einem erheblichen Mangel an Bindung, Emotionen und Offenheit. Der „Bengel“ war mehr oder weniger das Projekt seiner Frau, die mehr schlecht als recht ihre Erziehungsaufgabe allein wahrnahm. Robert dachte: ‚Nicht nur als Vater bist du ein Versager.‘

Laut sagte er: „Felix, du musst ihr mehr Unterstützung geben. Mit dem Bengel kommt man nicht mehr so leicht aus, der ist jetzt fünfzehn. Wie soll er denn ohne Mitwirkung seines Vaters ordentlich ins Leben wachsen und später ein guter Bürger unseres Landes werden?“

Felix gefiel das Gespräch immer weniger. Wenn er etwas nicht ausstehen konnte, dann war es Kritik an seiner Person, seinen Ansichten oder seinem Handeln. Robert tat genau das; er wusste es seit ihren Kindertagen: Immer war es Robert, der mit Aufrichtigkeit punktete, und immer war es Felix, der mit Verschlagenheit und Halbwahrheiten sein Ziel zu erreichen versuchte. Dass Robert ihm moralisch dermaßen überlegen war, ging ihm gewaltig gegen den Strich.

„Nun mach mal halblang! Davon verstehst du doch gar nichts. Hast kein Kind und kein Kegel und gibst schlaue Ratschläge.“

Sie waren vor dem Haus ihrer Mutter Doreen angekommen. Robert pflegte zu ihr eine gute Beziehung, die der von Felix jedoch nicht gleichzusetzen war. Doreen hatte sich Zeit ihres Lebens darum bemüht, zu beiden Kindern gleichberechtigt liebevoll zu sein, was ihr fast immer gelungen war. Jetzt, da ihre Söhne erwachsen waren, handhabte sie das nicht anders.

„Ist Mutter zu Hause?“, fragte Felix und beendete damit ihren Disput über Kindererziehung und Ernährung.

„Nein, sie ist noch auf dem Markt. Will aber zum Mittag wieder da sein. Es gibt Kammscheiben, Knödel und Sauerkraut. Weil du dir’s gewünscht hast – wie immer vor Weihnachten.“

„Ich hatte es gehofft. Schenkst du ihr was?“

Robert antwortete nicht. Sie stellten den Bulli der SE vor dem Haus ab und liefen über den Hof bis zum Hintereingang. Nachdem Robert aufgeschlossen hatte, liefen sie die vier Geschosse nach oben und betraten die Wohnung ihrer Mutter. Sie stellten fest, dass hier wie immer alles in einem sehr sauberen und ordentlichen Zustand war. Bei Doreen hatten Dreck und Unordnung keine Chance. Ihre Söhne waren da nicht so genau – eine der wenigen Gemeinsamkeiten der beiden.

Felix stellte im Wohnzimmer die Heizkörper auf die höchste Stufe und machte es sich in einem Sessel bequem. Er betrachtete das Inventar und den bereits geschmückten Weihnachtsbaum. Die Einrichtung der Wohnung war seit jeher bescheiden, einfach und immer in ordnungsgemäßem Zustand. Die Möbel waren offenkundig aus den frühen 1990-er Jahren an und das Design stieß bei Felix auf Abneigung – er wusste jedoch, dass seine Mutter nicht seinen finanziellen Rahmen für eine zeitgemäßere Einrichtung hatte.

Als sein Bruder nach ihm ins Zimmer kam und ihm ein Bier in die Hand drückte, fragte er: „Geht es ihr inzwischen wieder besser? Sie hat doch das letzte halbe Jahr nicht so rosig verbracht.“

„Ja, vor vier Wochen hatte sie die letzten Untersuchungen. Nun kann sie recht beruhigt in die Zukunft schauen. Hättest ja mal anrufen können. Also, los: Prost, ich freue mich, dass du hier bist. Kommen Rita und der Bengel morgen?“

Sie prosteten sich zu und Felix erklärte die Reiseumstände seiner Familie. Da Rita mit dem Bengel zu Besuch bei ihrer Verwandtschaft war, konnte sie erst einen Tag später anreisen, was Felix nicht besonders traurig stimmte. Es war nicht sehr weit von dort bis hierher, so konnte sie den Weg ohne größeren Aufwand selbst organisieren. Er freute sich darauf, mit seinem Bruder, seiner Mutter und Doreens Eltern einen ruhigen Abend „ganz in Familie“ zu verbringen. So sehr ihm dieses Gefühl selbst gut tat, er war nicht in der Lage, dieses auf seine eigene Familie zu übertragen oder ansatzweise in dieser Richtung Gefühle zu entwickeln. Robert war da vollkommen anders – sämtliche Fähigkeiten, die seinem Bruder auf diesem Gebiet fehlten, konnte er in besonderer Ausprägung zu seinen Stärken zählen.

Robert erzählte weiter von der überstandenen Krebserkrankung ihrer Mutter und den damit verbundenen finanziellen Problemen. Einen großen Betrag der Behandlungskosten und Medikamente musste die Familie privat aufbringen. Doreens Krankenversicherung schloss nur das einfachste Schutzpaket ein – eine teure Krebsbehandlung wurde dabei nur mit umfangreichen Eigenbeteiligungen der Versicherten vorgenommen. Das betraf allerdings drei Viertel der gesamten Bevölkerung. Die Frage nach einem Weihnachtsgeschenk ließ sich somit auch auf die einfache Art beantworten.

„Felix, ich habe im letzten halben Jahr locker drei Monatsgehälter an das Krankenhaus überwiesen. Das ist mein Geschenk.“

„Sorry, das wusste ich nicht. Wieso habt ihr denn mir nichts davon gesagt? Ich hätte auch was dazu beitragen können.“

Robert sah ihn fragend und unsicher an. Er überlegte, ob er seinem Bruder sofort die Meinung geigen oder im Interesse einer guten Stimmung darauf verzichten sollte. In Roberts Augen war das nachträgliche Angebot von Felix der blanke Hohn, obwohl er wusste, dass auch Felix einen minimalen Sinn für Familie und Nahestehende hatte. Allerdings ließ sein Engagement als Politiker dies nur sehr begrenzt zu – man könnte es auch als Aufflackern bezeichnen. Vielleicht war ja heute so ein Aufflackern zu erkennen. Robert sagte deshalb ziemlich gedämpft: „Zu spät, mein Guter. Probier’ doch mal, neben deinem Politikhype immer öfter auch was Persönliches und Privates in dein Leben zu lassen. Felix, du gehst komplett in deiner Funktion auf und veränderst dich damit.“

Es entstand eine Gesprächspause. Felix sah vor sich hin und dachte über Roberts Worte nach.

Dieser schob nach einer Weile nach: „Und nicht zu deinem Vorteil.“

„Hast ja recht. Ich merke das selber, aber das eigene Eingeständnis fällt sehr schwer. Ich mach auch nur das, wovon ich glaube, dass ich es am besten kann. Denkst du, in meinem Business ist alles nur rosarot? Robert, da geht’s zu wie auf dem Schlachtfeld. Wer zuckt hat verloren. Ich hab nur Konkurrenten und Gegner um mich herum, selbst in meiner eigenen Partei. Schuster ist mir da noch am ehesten eine Hilfe. Ich hab dir von ihm erzählt.“