Tod eines Clowns

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Tod eines Clowns
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Petra Gabriel

Tod eines Clowns

Der 26. Kappe-Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Inhalt

Cover

Titel

Über die Autorin

Impressum

Kapitel Eins

Montagmorgen, 12. Dezember 1960

Kapitel Zwei

Rückblende: Sonntag, 27. März 1960

Kapitel Drei

Montagnachmittag, 12. Dezember 1960

Kapitel Vier

Dienstag, 13. Dezember 1960

Kapitel Fünf

Rückblende: Ostermontag, 18. April 1960

Kapitel Sechs

Dienstag, 13. Dezember 1960

Kapitel Sieben

Rückblende: Freitag, 10. Juni 1960

Kapitel Acht

Mittwoch, 14. Dezember 1960

Kapitel Neun

Donnerstag, 15. Dezember 1960

Kapitel Zehn

Freitag, 16. Dezember 1960

Kapitel Elf

Sonnabendmorgen, 17. Dezember 1960

Kapitel Zwölf

Sonnabendmittag, 17. Dezember 1960

Kapitel Dreizehn

Montag, 19. Dezember 1960

Kapitel Vierzehn

Dienstag, 20. Dezember 1960

Kapitel Fünfzehn

Mittwoch, 21. Dezember 1960

Kapitel Sechzehn

Donnerstag, 22. Dezember 1960

Kapitel Siebzehn

Freitagabend, 23. Dezember 1960

Kapitel Achtzehn

Freitagabend, 23. Dezember 1960

Kapitel Neunzehn

Freitagnacht, 23. Dezember 1960

Kapitel Zwanzig

Sonnabendmorgen, 24. Dezember 1960

Nachwort

Es geschah in Berlin …

Petra Gabriel, geboren in Stuttgart, ist gelernte Hotelkauffrau, Dolmetscherin und Journalistin. Als freiberufliche Autorin lebt sie in Laufenburg und Berlin. Sie schreibt historische Romane, Jugendbücher und Krimis, zudem verfasst sie Kurzgeschichten. Ihren ersten Roman, «Zeit des Lavendels», veröffentlichte sie 2001. Im Jahr 2010 erschien ihr Mystery-Roman «Der Klang des Regenbogens», ihren siebten historischen Roman «Der Ketzer und das Mädchen», zur Geschichte des Konstanzer Konzils, brachte sie 2014 heraus. Zur Krimireihe «Es geschah in Berlin» trug sie bereits drei Bände (zuletzt: «Kaltfront», 2014) bei. (www.petra-gabriel.de)

Originalausgabe

1. Auflage 2015

© 2015 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin

Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-95552-025-0

KAPITEL EINS

Montagmorgen, 12. Dezember 1960

FLEISCHERMEISTER FRITZ FECHNER war immer der Erste in der Moabiter Arminiushalle, auch an diesem trüben und nasskalten Dezembermorgen. Es war noch dunkel. Er fröstelte. Obwohl der Dezember des Jahres 1960 bisher mild ausgefallen war.

Er kam stets, wenn in der Halle noch Stille herrschte. Fechner brauchte diese morgendliche Ruhe fast wie eine Droge. Es faszinierte ihn stets aufs Neue, wie das hohe Gebäude zum Leben erwachte, wie die anderen Händler nach und nach ihre Stände herrichteten, wie die Stille von immer mehr Geräuschen, Stimmen, Lachen und Flüchen durchbrochen wurde, ehe die ersten Kunden eintrafen. Er liebte das Erwachen der Markthalle beinahe mehr als den geschäftigen Trubel am Tage. Dann konnte es laut werden, störend. «Für einen Schlächter», sagte seine Frau immer wieder, «… für einen Schlächter bist du eine ziemliche Mimose, Fritz.»

In der Arminiushalle war Wurst-Fritz eine Autorität. Bei seiner Frau Edith nicht.

Fechner entdeckte Blumen-Erika und brummte im Vorübergehen einen Gruß. Sie hatte ihren Jungen im Schlepptau. Eugen Schreiber von «Zilles Obst- und Gemüseoase» schlurfte an Fechners Auslage vorbei zu seinem Stand, nickte ihm zu und brummte ein mürrisches «Tach!», bevor er hinter seine Holzaufbauten strebte und begann, die Planen von den Kisten zu entfernen. Fechner dachte sich nichts beim Anblick von Schreibers knurrigem Gesicht. Sie hatten seit Jahren ihre Stände nebeneinander. Gemüse-Eugen war morgens immer muffig, besonders wenn die Sonne so spät aufging wie jetzt in der Vorweihnachtszeit. Er brauchte Licht, um sich in ein umgängliches menschliches Wesen zu verwandeln.

Fechner hingegen schoss morgens aus dem Bett wie angeknipst. Er liebte seinen Beruf, verstand ihn mehr als Berufung denn als Broterwerb. Bis auf das Schlachten selbst vielleicht, aber das war nun mal notwendig. Die Kollegen lachten, wenn Fechner behauptete, das Fleisch von behutsam und möglichst schmerzfrei geschlachteten Schweinen und Rindern schmecke einfach besser, sei saftiger. Sollten sie doch lachen! Er liebte es, die Schweinehälften zu zerteilen, die Arme bis zu den Ellbogen im Brät zu versenken, um Fett, Fleisch und Gewürze miteinander zu verkneten, ehe die Masse in den Naturdarm gestopft wurde. Kurz, Fleischermeister Fechner war ein Perfektionist und weit über Moabit, sogar weit über Berlin hinaus bekannt für sein hervorragendes Fleisch und seine würzigen Wurstwaren, insbesondere für die Blut- und Leberwürste, die er nach einem Rezept seiner schlesischen Großmutter anfertigte. In der Vorweihnachtszeit verkauften die sich besonders gut.

Er war an diesem Morgen deshalb schon kurz nach Mitternacht und nach nicht mehr als drei Stunden Schlaf aufgestanden und hatte in seiner Fleischerei einen gehörigen Vorrat produziert, für den Laden und für die Halle. Den Laden betrieb seine Frau, er verkaufte am Stand.

Bei der Ankunft des Gemüsehändlers hatte er die ersten Würste bereits hinter dem Glas seiner Theke aufgeschichtet und mit einigen Blättern Grünkohl dekoriert, gleich neben dem rosigen Schwein aus Plastik, das ein Kleeblatt im lächelnden Maul hielt. Fritz Fechners Ehefrau Edith fand, das Schwein sei eine für die Vorweihnachtszeit unpassende Dekoration. Doch Fechner bestand auf der Anwesenheit des Plastiktiers in seiner Auslage. Es brachte ihm Glück. So hatten seine Frau und er einen Kompromiss geschlossen: Das Schwein lag der Jahreszeit gemäß auf einem Bett aus Tannenzweigen, weihnachtlich mit Strohsternen dekoriert. Das einzig Ärgerliche an diesem Arrangement, fand Fechner, war die damit einhergehende Platzverschwendung. Denn um nicht den Unmut der Lebensmittelkontrolleure zu erregen, mussten seine Waren einen bestimmten Abstand zu den harzigen Zweigen wahren. Deshalb brachte er in der Auslage weniger Würste unter. Doch deswegen einfach so nachgeben? Nein! Ein Mann hatte schließlich seinen Stolz und musste zeigen, dass er der Herr im Haus war.

Dabei würde Edith nicht einmal bemerken, wenn er die Dekoration veränderte. Sie hatte momentan ganz andere Interessen: Der belgische König Baudouin heiratete in Brüssel die spanische Gräfin Fabiola. Und Edith klebte am Fernsehgerät. In Anbetracht der royalen Hochzeit hatte sie keinen Sinn für Schweine, auch nicht für solche aus Plastik. Den Laden versorgte derweil eine langjährige Aushilfe namens Emma.

 

Fechner hielt inne und betrachtete sein Werk. Die letzten Lücken wollte er mit den besonders teuren Rinder- und Schweinefilets füllen. Das tat er immer erst kurz vor dem Eintreffen der ersten Kunden, damit die Stücke möglichst lange ansehnlich blieben. Aber vorher nickte er Gemüse-Eugen zu. Der nickte zurück, und die beiden Männer machten sich gemeinsam auf den Weg nach draußen, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen. Ohne dieses Ritual begann der Tag in der Halle einfach nicht auf die richtige Weise.

Als Fechner wieder an seinen Fleisch- und Wurststand zurückkehrte, waren die Lücken hinter dem Thekenglas bereits gefüllt. Allerdings anders, als er es geplant hatte. Mit dem Gesicht nach unten, ein Messer im Rücken, direkt neben den Blutwürsten, lag ein Mann. Reglos. Tot. Dafür hatte Fleischermeister Fechner einen Blick. Er wusste auch: Das bedeutete Ärger. Gemüse-Eugen fasste Fechners Bedenken zusammen. «Oje!», brummte er Wurst-Fritz hinterher, der bereits zum nächsten Fernsprecher spurtete, um die Polizei zu alarmieren.

Die Arminiushalle wurde für diesen und die nächsten Tage geschlossen. Das ordnete Kriminaloberkommissar Otto Kappe von der Mordkommission als Erstes nach seinem Eintreffen eine halbe Stunde später an. Er hatte den Kollegen Hans-Gert Galgenberg an seiner Seite. Aller Protest von Gemüse-Eugen und Wurst-Fritz blieb vergebens. Kappe konnte nachvollziehen, dass die Hallensperrung für die Händler mehr als ärgerlich war. An den Tagen vor Weihnachten machten sie besonders gute Geschäfte. Doch es führte kein Weg daran vorbei. «Erst ist die Spurensicherung dran! Wir müssen die gesamte Halle durchsuchen, danach können Sie weiterverkaufen», erklärte er in einem derart preußisch-bestimmten Ton, dass Wurst-Fritz und Gemüse-Eugen klein beigaben.

Derweil trocknete auf dem Hemd der Leiche langsam das Blut, ebenso auf dem Hallenboden und auf den umliegenden Wurstwaren. Kappe betrachtete zusammen mit Galgenberg die Bescherung. «Das kann noch nicht lange her sein», stellte er fest. Er hatte im Laufe seiner Jahre bei der Kriminalpolizei genügend Blut gesehen, um aus dessen Zustand Rückschlüsse auf den Zeitpunkt der Tat ziehen zu können.

«Denk ick och.» Polizeihauptkommissar Karl Schulz, Leiter des zuständigen Reviers 24 in der Oldenburger Straße, besah sich die mörderische Angelegenheit ebenfalls eingehend. Kappe war froh, ihn dabeizuhaben. Er war der Beste, den er sich vorstellen konnte, um die Absperrung der Halle zu organisieren und, falls nötig, erregte Gemüter zu beruhigen. Schulz kannte seine Moabiter Pappenheimer gut, vor allem schon lange, und er stand in dem Ruf, dass er auch mal kräftig dazwischenfahren konnte. Unter den Händler gab es so einige, die zu – nicht immer gewaltfreien – Temperamentsausbrüchen neigten.

Schulz, sonst die Ruhe in Person, wirkte an diesem Tag allerdings ungewöhnlich angespannt. Die Angehörigen der Polizei wurden gerade auf mögliche persönliche Verstrickungen in Verbrechender Nationalsozialisten überprüft. Vielleicht waren die Ermittler gerade an Schulz dran, überlegte Kappe. Er mochte den Mann, obwohl er mal gehört hatte, dass der 51-jährige gebürtige Niedersachse einst als SS-Hauptsturmführer im «Führerbegleitkommando» zu Hitlers berüchtigter Schlägertruppe gehört habe. Kappe hatte keine Ahnung, ob das stimmte. Er konnte es eigentlich nicht so recht glauben. Schulz war schließlich nicht gerade ein seltener Name. Nun, wie auch immer es gewesen sein mochte, der Polizeihauptkommissar kannte sich in der Halle aus wie in seiner Westentasche und konnte den Leuten von der Spurensicherung wichtige Hinweise geben.

Schulz nickte Otto Kappe zu. «Gerade eben den Weg allen Fleisches gegangen, könnte man sagen.»

Niemand lachte.

Dr. Konrad König von der Gerichtsmedizin trat näher an den Toten heran. «Heidenei, so eine Sauerei!» Manchmal konnte König den gebürtigen Schwaben noch immer nicht ganz verleugnen, obwohl er sich größte Mühe gab, dem Berliner Jargon alle Ehre zu erweisen. So sagte er stets «Schrippe», nie «Weckle». König war schnell, sogar kurz vor Kappe eingetroffen. Die Gerichtsmediziner saßen nämlich ganz in der Nähe, in einem Gebäudeteil des Krankenhauses Moabit in der Turmstraße Nr. 21. Noch. Im letzten Jahr hatten die Planungen für ein neues Haus in der Invalidenstraße begonnen.

Der 34-jährige König war vor Jahren nach Berlin gekommen, der Liebe wegen, und hatte in der Stadt Medizin studiert. Die Liebe war weg, König noch immer da. Spillerig, etwas linkisch, mit dünnem aschblondem Haar, das sich am Hinterkopf und an der Stirn bereits erheblich lichtete. Die Kollegen gaben sich redlich Mühe, König bei der Suche nach einer Freundin mit Tipps zu versorgen, aber es wollte nicht so recht klappen. «Dem vielen Blut nach zu urteilen hat’s eine wichtige Blutbahn verletzt. Ich kann aber noch nicht genau sagen, wann und wie der Mann gestorben ist, zumal das Messer noch im Rücken steckt. Danach wollten Sie doch fragen, oder, Herr Kriminaloberkommissar? Das Messer im Rücken scheint zwar eindeutig, aber das Offensichtliche lässt nicht immer auf die eigentliche Todesursache schließen. Hab da schon manche Überraschung erlebt.»

Das hatte Otto Kappe tatsächlich fragen wollen. Obwohl er schon geahnt hatte, dass er genau diese Antwort bekommen würde. Es war ein immer wiederkehrendes Ritual. Die Mordermittler brauchten möglichst schnell möglichst verlässliche Zeitangaben und Fakten, um den Tathergang rekonstruieren zu können. Die Kollegen von der Gerichtsmedizin bestanden vor genauen Angaben auf einer gründlichen Leichenschau.

«Eines ist aber sicher: Da hat einer heftig zugestochen! Das Ding steckt ganz schön tief drin. Der Mörder muss ziemlich wütend gewesen sein», fuhr Konrad König fort, wobei sein linkes Augenlid zuckte. Das passierte immer, wenn ihn etwas irritierte. Ganz anders, als sein Name vermuten ließ, war er sehr schüchtern, dafür aber kräftiger, als er aussah. Jetzt packte er den Griff der Tatwaffe mit den beiden behandschuhten Händen, stellte sich leicht breitbeinig hin, holte Luft und tat einen Ruck. Die Klinge flutschte aus dem Fleisch. König hielt das Messer hoch und besah es. «Scharf wie die Sau.»

«Noch Witze machen über meine Wurstwaren, wa? Meine Schweine sind eins a … Det is mein bestes Messer, ’n besseret hab ick nich zum Entbeinen. Det will ick wiederham!», forderte Fleischermeister Fechner.

Otto Kappe schüttelte den Kopf. «Daraus wird nichts, das ist ein Beweisstück.»

Fechner schaute mürrisch.

Konrad König zitierte mit einer Handbewegung einen Kollegen von der Spurensicherung herbei, der gerade damit begonnen hatte, die Scheibe von Fechners Theke auf der Suche nach Fingerabdrücken mit Graphitpulver abzupudern. «Hallo! Kommen Sie mal hierher! Ich könnte Sie vielleicht brauchen.»

«Schwarzet Pulver an unserer Theke – det wird meiner Ollen nich jefalln», meinte der Fleischermeister. «Würde Ihnen raten, det Sie det später wieda schön saubermachen. Sonst bläst Ihnen meine Edith den Marsch. Und det kann se.»

Der Kollege legte seine Utensilien ziemlich unsanft nieder und trottete herbei. König übergab ihm das Messer. Dann packte er ein weiteres Mal zu und drehte den Toten um.

Alle hielten den Atem an. Ein Gesicht mit weit aufgerissenen, fast erstaunt wirkenden blauen Augen starrte sie an. Ein sehr merkwürdiges Gesicht, denn es trug eine Clownsbemalung, ziemlich ungelenk ausgeführt. Die Linien um Mund und Augen wirkten krakelig, die weiße Farbe war verschmiert. In der Mitte saß eine rote Clownsnase. Wer auch immer die Maske aufgetragen hatte, schien darin nicht besonders geübt zu sein, befand Oberkommissar Otto Kappe und sagte: «Komisch.»

«Bei dem is jetzt aber Schluss mit lustig!», meinte Hans-Gert Galgenberg. «So wat passiert offenbar selbst Clowns.»

«Haha!», kam es trocken von Kappe, während er sich daranmachte, die Taschen der Winterjacke des Toten zu durchstöbern. Er wollte wissen, ob der Papiere bei sich hatte, fand aber nichts. Er richtete sich wieder auf. «Entweder der oder die Mörder haben seine Taschen geleert, oder der Clown ist ohne Papiere hierhergekommen. In beiden Fällen stellt sich die Frage: Warum?»

In diesem Augenblick erklang eine weibliche Stimme: «Oh, wen haben wir denn da?»

Kappe wandte sich um. Sein Herz machte einen Hüpfer.

«Die Kollegen vom Dauerdienst haben mich geschickt», erklärte Kriminalmeisterin Lilli Lenné auf seinen fragenden Blick hin. «Die dachten, es wäre vielleicht besser, wenn eine Frau bei den Befragungen dabei ist. Und wer weiß, vielleicht ist der Mörder ja noch da. Sieht für mich jedenfalls so aus, als hätte jemand ganz hastig eine Clownsbemalung auf das Gesicht gepinselt. Wahrscheinlich nach dem Mord. Was meinen Sie, Doktor König?»

«Vor der Autopsie meine ich nie etwas», antwortete König und wurde unvermittelt rot.

Otto Kappe sah vom einen zur anderen. Er wusste ziemlich genau, was in König vor sich ging. So war es immer mit diesem Fräulein Lenné: Die Kollegin hatte einfach eine besondere Wirkung auf Männer, ihn selbst eingeschlossen. Obwohl sie keine klassische Schönheit war – stämmig, sportlich, Trägerin des schwarzen Gürtels beim Judo –, konnte man einfach nicht wegsehen, wenn sie mit schwingenden Hüften vorüberging oder einen mit ihren großen blauen Augen anschaute. Sie hatte etwas Französisches. Was allerdings nicht weiter verwunderlich war, stammte sie doch von einer jener hugenottischen Familien ab, die im 17. Jahrhundert aus dem streng katholischen Frankreich nach Berlin geflüchtet waren. Wie alt sie wohl sein mochte? Vermutlich ungefähr so alt wie König. Der war 1926 in irgendeinem schwäbischen Kaff geboren, dessen Namen Kappe sich nicht merken konnte.

«Was meinen Sie, wie lange die Tat her ist? Könnte der oder könnten die Täter noch in der Halle sein?» Lilli Lenné beharrte auf Antworten.

«Ein Täter, vermutlich ein Mann, Linkshänder womöglich», wich König aus. «Aber vor der Autopsie meine ich …»

«Wissen wa, wissen wa. Vor der Autopsie meinen Sie nie was», fuhr Galgenberg dazwischen.

Lilli Lenné lächelte König zu.

Otto Kappe verspürte einen Anflug von Eifersucht und fragte sich zum wiederholten Mal, warum ihm das gerade bei Lilli so ging. Seine Gertrud war schließlich eine prächtige Person, praktisch, handfest und tüchtig. Eine Frau zum Herzerwärmen. Er wollte keine andere. Und trotzdem …

Der Ablenkung wegen, aber nicht nur deshalb, sah er sich um. Vielleicht war der Täter tatsächlich noch irgendwo in der Halle. Auf den ersten Blick konnte Kappe keine möglichen Verstecke erkennen. Aber so viel stand für ihn fest: Nach Lage der Dinge war der tote Clown nur wenige Minuten nach seinem gewaltsamen Dahinscheiden gefunden worden. Also hätte jemand den Täter sehen müssen! Fechner und sein Kollege Schreiber vom Obststand hatten vor dem nächstgelegenen Ein- und Ausgang der Halle eine Zigarette geraucht und Stein und Bein geschworen, sie hätten niemanden fortlaufen sehen. Allerdings gab es mehrere Ein- und Ausgänge. Um zu einem der anderen zu gelangen, hätte der Kerl an jeder Menge Stände vorbeikommen müssen. «Würde mich mal interessieren, ob jemand von den anderen Händlern eine Person gesehen hat, die nicht hierher gehört», murmelte Kappe vor sich hin. Er ließ seinen Blick erneut schweifen und schaute dann nachdenklich nach oben, zur hohen Decke. Wegfliegen ging ja wohl nicht. Anschließend sah er auf die Umstehenden. Einige Personen waren noch in die Halle gekommen, bevor die abgesperrt worden war, hatten sich bei Fechners Fleischtheke versammelt und gafften, während die Kollegen von der Spurensicherung verzweifelt versuchten, die Herrschaften auf Abstand zu halten. Es war vielleicht ein halbes Dutzend, darunter zwei Frauen mittleren Alters und ein etwa zehnjähriger Junge, der sich an die grüne Schürze seiner Mutter drückte.

Ein Kollege von der Schutzpolizei raunte Otto Kappe zu, dass das provisorische Vernehmungszimmer inzwischen eingerichtet und die Kollegen vor der Tür dabei seien, die Personalien der Händler aufzunehmen.

«Halten Sie die Leute fest, wir brauchen sie noch! Lassen Sie niemanden gehen! Besorgen Sie sich außerdem die Liste sämtlicher Hallenbeschicker, und karren Sie schnellstens diejenigen hierher, die uns durch die Lappen gegangen sind! Ich denke, es ist sinnvoll, wenn sich alle der Reihe nach den Toten ansehen. Dann haben wir sie gleich beieinander. Ich fange mit denen an, die hier rumstehen.» Kappe machte eine einladende Handbewegung. «So, meine Damen und Herren, dann wollen wir mal!», dröhnte seine Stimme. «Sie kommen bitte nach hinten zum Fisch, Ausgang Nord, Bugenhagenstraße! Einer nach dem anderen. Ich warte da auf Sie.» Und dann sagte er etwas leiser: «Galgenberg, du übernimmst die Verkehrsführung! Und Sie, Fräulein Lenné, schreiben bitte das Protokoll! Soweit ich weiß, können Sie Steno.»

 

«Na, da müssen wir uns aba beeiln, sonst stinkt die Leiche bald genauso wie der Fisch. Für ewig wolln die von der Rechtsmedizin och nich auf den Toten warten», murmelte Hans-Gert Galgenberg vor sich hin und trabte hinter Kappe her.

In den Gewölben unter der Arminiushalle hockte ein dunkler Schatten zusammengesunken und reglos am Boden, die Knie angezogen, die Hände vors Gesicht geschlagen, einen Rucksack und eine Jacke neben sich. Er wusste, er hätte längst weg sein müssen. Doch er war wie gelähmt. Ihm war speiübel. Er hatte einen Menschen getötet, ein Messer in eine lebende Person gerammt. Gegen den Widerstand des Fleisches und der Knochen war es schließlich zwischen den Rippen hindurchgeglitten. Mehr als die Tat selbst machte ihm der Umstand zu schaffen, dass er überhaupt dazu fähig gewesen war. Dass er nicht links und nicht rechts geschaut hatte in diesem Tunnel aus blankem Hass und Abscheu. Er richtete sich etwas auf, nahm die Hände herunter. Nein, das war kein Mord gewesen, das war Gerechtigkeit. Jarusch würde niemals wieder einem anderen Menschen schaden können. Er musste würgen. Der Brechreiz wurde immer stärker.

Dann hörte er Stimmen. Er sah den Lichtkegel einer Taschenlampe und ergriff hastig den Rucksack und die Jacke. Verflucht, er hatte doch gewusst, dass es knapp werden würde! Wieso war er nur nicht früher abgehauen?

Er vernahm Schritte. Panik stieg in ihm auf. Wohin? Er begann zu rennen. So geräuschlos wie möglich. Die Keller unter der Halle waren weitläufig. Bis zum Notausgang würde er es nicht mehr schaffen. Seine Augen suchten hektisch die Gewölbe ab.

Das große Fass stand ganz hinten, es war wohl für ein halbes Fuder ausgelegt. Problemlos kletterte er hinein. Starker Weingeruch umnebelte ihn. Er versuchte, seine Gedanken klar zu halten. Hauptsache, die Polizei brachte keine Hunde mit. Aber die würden durch die Weinausdünstungen wahrscheinlich ohnehin irritiert sein. Sobald die Polizisten wieder weg waren, wollte er den Notausgang Richtung Bugenhagenstraße nehmen. Vom Fass bis dahin waren es nur etwa zehn Schritte.