Tod eines Clowns

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KAPITEL ZWEI

Rückblende: Sonntag, 27. März 1960

HOLGER GERICKE hatte sich für die Elektrische entschieden. Linie 95. Die galt als eine der sichersten für Republikflüchtlinge. Die Straßenbahnen wurden ohnehin weniger kontrolliert als die U- und die Stadtbahnen. Sie würden zunächst bis Endhaltestelle Ost fahren. Die lag vor dem Übergang. Nach einem kurzen Fußmarsch ging es dann mit der 95 West weiter.

Die Elektrische quietschte und ruckelte über die Mittelpromenade der Sonnenallee. Die Gleise wurden nur noch notdürftig instand gehalten.

Noch gab es sie, diese Straßenbahnlinien, die von Ost-Berlin in Richtung West-Berlin führten. Doch jeder wusste: Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie verschwinden würden. Auch die Strecke über die Sonnenallee war wahrscheinlich ein Auslaufmodell. Der Berliner Senat hatte bereits die Umstellung auf Busse beschlossen.

Die Stimmung zwischen Ost und West spitzte sich erneut zu. Als zweite Berlin-Krise wurde dieses Machtgerangel bezeichnet. Gericke verstand nicht viel von Politik. Er wollte einfach nur leben dürfen und seine Familie ernähren, genug zu essen und zu trinken haben. Vor allem wollte er seine Würde bewahren und nicht schikaniert werden wegen der Mutter seiner Frau. Die war aus politischen Gründen in den Westen gegangen. Sie hatte sich als alte Sozialdemokratin einfach nicht mit der Zwangsvereinigung von SPD und SED abfinden können. Die inzwischen fast Achtzigjährige war kurzerhand in ein Altersheim in Berlin-West gezogen. Sie hatte Krebs, würde nicht mehr lange leben und wurde deshalb von ihrer Tochter so oft wie möglich besucht.

Das Gespräch im vergangenen Jahr, oder besser den Monolog von Wolfgang Müller, seines Zeichens Pressechef beim VEB Zentral-Zirkus, für den Holger Gericke arbeitete, würde er für den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen. «Gericke, reden Sie mit Ihrer Frau! Muss sie denn wirklich so oft in den Westen? Besuche dort sind nun mal nicht gern gesehen. Das ist ein sensibles Thema, seitdem sich Harry Barlay und sein Kompagnon Brumbach vor zehn Jahren mit ihrem halben Zirkus in den Westen davongemacht haben. Das wissen Sie so gut wie ich, mein lieber Gericke.»

Und ob Gericke das wusste! Barlay hatte nach der Teilung Deutschlands schwer zu kämpfen gehabt. Zuerst, um überhaupt aus dem Westen für Gastspiele in die Zone kommen zu können. Er hatte sich die Rettung seines kränkelnden Zirkusunternehmens erhofft. Als es dann einigermaßen lief, spekulierte er auf einen eigenen Zirkusbau an der Friedrichstraße.

Den Zirkusbau an der Friedrichstraße bekam Barlay 1948. Doch seine Pläne gingen nicht auf. Der Circus Busch musste sogar mit Dressuren aushelfen und schickte ihm nicht nur Epi Vidane mit seinen vier Elefanten, sondern auch Hermann Ullmann und Hildegard Noris mit der Hohen Schule der Pferdedressur. Und dann tauchten die Hinweise in den westlichen Blättern auf, die ihm ordentlich zu denken gaben. In der Neuen Zeitung stand, dass in Kürze die drei Unternehmen Aeros, Richard Busch in Bitterfeld und Barlay verstaatlicht würden. Harry Barlay wollte das wohl nicht miterleben, klamm und heimlich wanderte er mit den meisten Tieren und viel wertvollem Material in den Westen ab, der Zirkus Barlay an der Friedrichstraße blieb weiter bestehen. Die Bildung des DDR-Staatszirkus hatte dann doch noch rund zehn Jahre gedauert. Seit Januar 1960 waren die einst privaten Zirkusse Busch und Barlay nun unter dem sozialistischen Dach des VEB Zentral-Zirkus vereint. Aeros würde folgen. Barlay sollte dann offiziell Olympia heißen, doch für die Menschen blieb er Barlay. Der ehemalige Direktor des Zirkus Barlay hatte vom Westen aus nur noch zuschauen können, er war bankrott. Nein, die Republikflucht hatte ihm kein Glück gebracht, ebenso wenig wie seinem Kompagnon Brumbach. Gericke konnte nur hoffen, dass es ihm und seiner Familie besser erging und sie sich im Westen ein gutes Leben aufbauen konnten.

Bei dem Gedanken an Barlays Zirkustreck gen Westen musste Holger Gericke schmunzeln. Seine Frau sah es und lächelte ihm zu. Sie nahm wohl an, dass er weit weniger Befürchtungen hatte als sie selbst, was ihren Neuanfang anbelangte. Doch er war kein mutiger Mann, auch wenn er so tat, um seine Familie nicht zu verunsichern – und weil Feigheit einfach nicht in das Bild passte, das man sich gewöhnlich von einem Raubtierdompteur machte. Raubtiere flößten ihm weniger Angst ein als das Leben und dieser Wechsel in eine neue Welt voller Unwägbarkeiten. Er brauchte die Sicherheit alltäglicher Routinen, das Wissen, dass bestimmte Dinge am nächsten Tag noch genauso sein würden wie am Tag zuvor. Sein Bett, die Wohnung, das Lächeln seiner Frau. Sogar die Mucken der Kinder. Die seines Sohnes Thomas, der sich langsam anschickte, seine eigenen Wege zu gehen, und die seiner Tochter Monika, die sich bald in der schwierigen Phase der Pubertät befinden würde.

Er hatte Harry Barlay immer für dessen selbstsicheres Auftreten bewundert. Der schien keine Ängste zu kennen, auch nicht in Zeiten, in denen es drunter und drüber ging. Für den heimlichen Treck in den Westen hatte er sich eine wunderbare Legende verschafft: Er musste sich angeblich wegen einer Augenbehandlung in eine Klinik in Braunschweig begeben. Durch ein zuvor ausgekundschaftetes Tor einer Bahnunterführung im Norden Berlins war ein Großteil der Tiere in den französischen Sektor gebracht worden. Die berühmten Elefanten des Zirkus Barlay hatten nicht geschmuggelt werden müssen, die waren ohnehin auf Tournee in Westdeutschland gewesen.

Die Organisation des Wagentrecks in den Westen hatte Barlays Kompagnon Gustav Brumbach übernommen. Und das auf eine ziemlich trickreiche Weise, das musste der Neid ihm lassen. Er hatte im Vorfeld schon einmal heimlich mit den Westalliierten gesprochen, ganz unverbindlich. Als die dann diskret durchblicken ließen, dass sie auch mal wegschauen könnten, ließ er sofort die Wagen umstreichen, so dass man den Namen Barlay nicht mehr lesen konnte, und schmuggelte sie auf verschiedenen Wegen über die innerstädtische Grenze. Zwei dieser Wagen wurden zum Beispiel hinter einen Traktor gespannt. An der Sektorengrenze erfuhren die überaus aufmerksamen Volkspolizisten zu ihrer Beruhigung, dass es sich um Wagen von West-Berliner Schaustellern handle, die man zurückbringen wolle. Damals konnten Schausteller aus dem Westen noch in allen vier Sektoren gastieren. Ein anderes Mal argumentierte Brumbach auf seine übliche joviale Weise und daher besonders einleuchtend, dass man nur deshalb West-Berlin durchqueren wolle, um schneller wieder am anderen Ende Berlins, in der Heimat der Werktätigen, zu sein. Auf Westgebiet wurde dann einer der beiden Wagen ausgehängt – und Brumbach fuhr mit nur einer Karre zurück in die Friedrichstraße, dann natürlich über einen anderen Sektorenübergang.

Von West-Berlin aus gelangten Tiere und Material, ebenfalls mit diskreter Unterstützung der Westalliierten, nach Helmstedt: 90 Wagen, 35 Pferde sowie Tiger, Bären und andere Tiere. Anschließend ging die Reise in die kleine Industriestadt Eschweiler weiter, östlich von Aachen. In Eschweiler, auf dem dortigen Kasernengelände, war das Winterquartier der Republikflüchtlinge eingerichtet worden. Dort ging Harry Barlay letztendlich das Geld aus.

Holger Gericke arbeitete damals schon bei Barlay und wusste, was vor sich ging. Er selbst wollte aber in Ost-Berlin bleiben. Er glaubte an eine Zukunft des Zirkus Barlay, war sich sicher, dass es wieder aufwärts gehe, dass der «Restzirkus» an der Friedrichstraße eine gute Überlebenschance habe. Heute fragte er sich, wie er so naiv hatte sein können.

Im Osten zurückgeblieben war nämlich ein ausgebluteter Zirkus, der zwar über einen Bau an der Friedrichstraße verfügte, ansonsten aber nur noch über wenige, meist kranke Tiere und schrottreifes Material – ein Schatten seiner einstigen Größe. Der Zirkus kam einfach nicht wieder auf die Beine, trotz wechselnder Direktoren und West-Artisten machte er ständig Verluste. Das neue Chapiteau – in Grün, der Farbe der Hoffnung –, die neuen Stallzelte, die zunehmende Zahl der neugestrichenen Wagen, all das half nichts: Barlay schrieb weiter rote Zahlen. Gericke selbst versuchte sich an einer neuen Dressur, einer kleineren, mit Tieren, die ihre besten Zeiten längst hinter sich hatten.

Der Magistrat war es schließlich leid, die finanziellen Löcher zu stopfen. So wurde der Zirkus Barlay kurzerhand zum volkseigenen Betrieb umgewandelt. Das weckte neue Hoffnungen, mobilisierte noch einmal Kräfte. Und für eine kurze Zeit wurde es tatsächlich besser.

Holger Gericke verzog den Mund und drehte den Kopf, schaute zum Fenster der Elektrischen hinaus. Er wollte nicht, dass seine Frau Anita ihm ansah, worüber er nachdachte. Er war der Mann, er hatte Zuversicht auszustrahlen – und gab sich deshalb gelassen. Doch seine Gedanken kreisten voller Wehmut um die vergangenen guten Tage. Es brach ihm beinahe das Herz bei der Erinnerung an das, was sie verloren hatten.

Gustav Brumbach hatte sich nach der Flucht von Barlay getrennt und einen eigenen Zirkus aufgemacht. Holger Gericke hatte gehört, dass auch dieser vor dem Aus stand. Das konnte er kaum glauben. Vielleicht wollte er es auch einfach nicht glauben. Während er seine eigene Flucht plante, hatte er insgeheim gehofft, bei Barlays früherem Kompagnon ein Engagement als Dompteur zu bekommen. Schließlich hatte Brumbach es ihm versprochen. «Sie sind einer der Besten, die ich kenne, Gericke. Wann immer Sie sich entschließen, uns nachzuziehen, kommen Sie zu mir! In meinem Zirkus gibt es immer einen Platz für einen guten Dompteur», hatte er getönt.

Und dann, vor einigen Tagen, war auch noch der Betriebsleiter des VEB Zentral-Zirkus, Harry Michel, in den Westen geflüchtet. Am 13. März. Holger Gericke würde dieses Datum nicht vergessen. Er verstand Michel sogar. Dieser hatte sich bis zuletzt gegen die Zentralisierung gewehrt. Seine Flucht war ein herber Schlag für Gericke, denn Michel war sein letzter Unterstützer gewesen, einer, der seinen eigenen Kopf hatte. Als ihm die Stellung als Pressechef beim Circus Busch Berlin in Aussicht gestellt wurde, ging er. Mit Werner Weber, Michels Stellvertreter, kam Gericke einfach nicht klar.

 

Da hatten er und seine Frau gewusst, dass auch für sie der Zeitpunkt gekommen war, ihr Zuhause zu verlassen und in den Westen zu gehen.

Müller hatte ihn sofort nach Michels Flucht zu sich zitiert und ihm einen gehörigen Warnschuss verpasst. Anfangs hatte Gericke nur mit halbem Ohr hingehört. Hauptsache, er nickte an den richtigen Stellen. Jeder wusste, dass Müller einer war, der im Dienste der Staatssicherheit große Ohren machte. Doch dann hatte er gesagt: «Gericke, denken Sie nicht mal an Flucht! Sie würden es bereuen. Barlay hat es bereut, und Brumbach wird es bereuen. Ebenso wie Michel. Sie werden sehen, der bleibt nicht lange Pressechef bei Busch. Auch in Westdeutschland erkennen sie Verräter. Unser Land blutet aus. Zu viele gute Leute gehen, angezogen von den Verlockungen eines ausbeuterischen, kapitalistischen Systems. Statt beim Wiederaufbau unseres Landes zu helfen, laufen sie feige davon. Geben Sie uns keinen Anlass zu glauben, dass Sie solche Pläne hegen! Gericke, ich spreche zu Ihnen als Freund. Seit dem Zusammenschluss von Barlay und Busch zum VEB Zentral-Zirkus im Januar hat sich vieles geändert. Ich rede jetzt mal Klartext: Sie sind ein guter Artist, wir wollen Sie nicht verlieren. Und was ich über Ihren Sohn höre, klingt auch sehr vielversprechend. Ich habe erst neulich mit einem Freund geredet, der im Gebäude des Kulturzentrums sitzt. Der behauptet, der Leiter der Staatlichen Artistenschule habe Thomas in den höchsten Tönen gelobt. Gericke, die Mutter Ihrer Frau wird ohnehin bald sterben. Soweit ich weiß, hat sie Krebs. So hart das vielleicht klingen mag, aber die Zukunft Ihres Sohnes ist doch wichtiger als eine alte Frau, die nicht mehr lange zu leben hat.»

Es war absurd. So richtig und so falsch zugleich. Aber wie auch immer die Situation sein mochte – Anita würde ihre Mutter nie im Stich lassen. Er wusste das und hatte sich sofort heimlich Arbeit im Westen gesucht. Aus dem einst gefeierten Dompteur einer gemischten Raubtiergruppe würde ein Pausenclown und Stallarbeiter auf Probe bei Reiz werden. Der kleine Familienzirkus hatte sich draußen in Kladow ein Winterquartier in einem alten Bauernhof eingerichtet und tingelte das ganze Jahr über durch die West-Berliner Bezirke, um Vorführungen zu geben – mit einem Zweimastzelt, einer kleinen Manege, einem Pony, Kamelen, einem Lama, einer Hundedressur, Clowns, Jonglagen und einer Seiltänzerin, die ihre besten Jahre bereits hinter sich hatte und viel Schminke benötigte, um jung zu wirken. Dann war da noch der alte Braunbär mit den grauen Haaren an der Schnauze, der in seinem Käfig sehnsüchtig in die Ferne starrte oder rhythmisch den Kopf hin und her schwang, um den Hals eine Eisenkette, die an einem Betonklotz befestigt war.

Bei Reiz packte jeder überall mit an. Viel Geld gab es nicht. So hatte sich Gericke für ein paar Stunden die Woche eine Stelle als Aushilfstierpfleger im Zoologischen Garten verschafft.

Und nun saßen sie hier in der Elektrischen. Ob seine Tiere im Zentral-Zirkus ihn schon vermissten? Ein wenig vielleicht. Doch bald hätten sie ihn vergessen. Der bereits lendenlahme Leopard, die beiden alten Löwinnen und der Bär hatten stets fleißig mitgemacht – und er ließ sie für eine einzige Hoffnung im Stich: dass in West-Berlin nicht die politische Überzeugung ausschlaggebend war, sondern das, was ein Mensch leistete, und dass man für sein Geld auch etwas bekam. Vielleicht würde er ja irgendwann wieder in den Raubtierkäfig zurückkehren können und einen Zirkus finden, der ihm eine neue Chance gab. Dieser Wunsch trieb ihn an. Immerhin durfte er im Zoo aufgrund seiner Erfahrungen bei den Raubtieren mithelfen.

Gericke schaute wieder zu seiner Familie. Sie hatten in der Elektrischen sogar alle vier Sitzplätze beieinander bekommen. Jetzt mussten sie nur noch diese Fahrt, nur noch eine einzige Kontrolle überstehen, dann waren sie West-Berliner. Er beugte sich vor, nahm die Hand seiner Frau Anita und küsste sie.

In ihren Augen schimmerten Tränen, doch sie hielt sie zurück und lächelte ihrem Mann erneut zu. «Wir konnten nichts anderes tun, Holger. Es ist schon richtig so. Wenn wir mal alt sind, wollen wir bestimmt auch nicht, dass unsere Kinder uns im Stich lassen.»

Die dreizehnjährige Monika schmiegte sich an die Mutter, die trotz des Frühlingstags ihren Pelz trug. Sie alle hatten mehrere Lagen Kleidung übereinandergezogen. Es war besser, nicht durch einen Koffer aufzufallen, wenn man mit der Elektrischen von Berlin-Ost nach Berlin-West reiste. Das weckte nur Aufmerksamkeit bei den Kontrolleuren.

Sohn Thomas schaute mit muffigem Gesicht am Vater vorbei nach draußen. An den Bäumen links und rechts der Straße bildeten sich die ersten Knospen, doch das konnte den Jungen nicht aufheitern. Er hatte sich mit Händen und Füßen gegen die Umsiedlung in den Westen gewehrt. Holger Gericke verstand seinen Sohn. Der hatte in der Artistenschule hart gearbeitet. Er war talentiert und auf dem besten Wege, ein guter Hochseilartist zu werden. Aber nun musste er von vorne beginnen, wie der Vater. Thomas kannte seine Großmutter kaum. Für diese alte Frau, deren Leben zu Ende ging, musste er seinen großen Traum aufgeben. Wer die Staatliche Artistenschule absolviert hatte, bekam ohne Probleme eine Anstellung im Zirkusbetrieb. Der Siebzehnjährige war allerdings alt und klug genug, um zu begreifen, dass das nur für zuverlässige Volksgenossen galt. Und für die Söhne von zuverlässigen Volksgenossen. Nicht für die Söhne von Republikflüchtlingen.

Ein weiteres Ruckeln, ein Quietschen – Endstation. Sie hatten ihr Ziel erreicht. Jetzt mussten sie nur noch an den beiden Männern vorbei, die den Übergang bewachten. Die unterhielten sich gerade. Einer lachte. Der andere nickte der vierköpfigen Familie zu und blickte dann wieder seinen Kollegen an. Gericke atmete auf. Der Übergang war passiert. Der goldene Westen lag vor ihnen. Dennoch erreichten die Sonnenstrahlen dieses Frühlingstags zwar die Haut von Holger Gericke, nicht aber sein Herz. Ihm war, als schöbe sich ein dunkler Schleier zwischen ihn und seine Umgebung, als drücke ihn plötzlich eine harte Hand nieder. Er bemühte sich zum wiederholten Mal, sich nichts anmerken zu lassen. Ihm wurde heiß, er schaute zurück. Die Grenzer beachteten sie nicht. Er schälte sich aus seiner Winterjacke und half seiner Frau aus dem Pelz. Auch die Kinder legten die oberste Schicht ihrer Kleidung ab.

In etwa einer halben Stunde würden sie in Moabit sein, in der Turmstraße. Dort wartete ein Zimmer zur Untermiete auf sie. Holger Gericke hatte seiner Anita bestimmt hundert Mal erzählt, woher er Karl, den Inhaber der Wohnung, kannte. Karl hatte nach dem Krieg auch mal beim Zirkus Barlay gearbeitet, unter anderem als Clown und Tierpfleger. Der ehemalige Akrobat war mit einem kaputten Bein von der Ostfront zurückgekehrt. Da war es mit den Salti vorbei gewesen. Sie hatten auch nach Karls Weggang von Barlay lose Kontakt gehalten. Und unter Artisten half man einander. So hatte Karl Holger Gericke unter die Arme gegriffen, als der eine Bleibe in West-Berlin suchte.

In der Turmstraße lebte Karl den Winter über. Wenn Menschen und Tiere wieder auf die Reise gingen, suchte er sich eine Anstellung als Pausenclown bei einem der kleineren Zirkusse. Durch Karl hatte Holger Gericke auch die Stelle als zweiter Pausenclown bei Reiz bekommen. Er hatte sich zudem bereit erklärt, Holger und seiner Familie in der Wohnung, die er vom Vater geerbt haben sollte, gegen einen geringen Obolus ein Zimmer zu überlassen. Die Miete war für drei Monate im Voraus bezahlt.

In den letzten Tagen hatte Gericke Stück für Stück ihre Habe in diesem Zimmer untergebracht. Es handelte sich um Dinge, die ohne Aufsehen zu transportieren gewesen waren, um Schmuck und Familiensilber und alles, was den Krieg überstanden hatte. Anita, geborene Bernauer, war eine Frau aus gutbürgerlichem Hause. Ihr Vater war Arzt der Nationalen Volksarmee und Leiter der Bad Saarower Kliniken, des zentralen Armeelazaretts, gewesen. Er hatte sich von seiner Frau scheiden lassen, als diese in den Westen ging. Ihr Engagement bei der SPD hatte er ohnehin nie gebilligt, es ihr aber auch nicht verwehrt. Mit ihr in den Westen zu flüchten, weg von der Arbeit, die er liebte, hatte er sich nicht vorstellen können.

Anita war nach dem Weggang der Mutter beim Vater geblieben. Der war nicht sonderlich begeistert gewesen, dass sein Liebling, die einzige Tochter, einen Zirkusdompteur heiraten wollte. Holger Gericke und sie waren sich zufällig auf der Straße begegnet, als sie in Berlin einkaufen gewesen war. Anita wurde von einem Mann angerempelt und ging mitsamt den Tüten zu Boden. Dann stellten sie fest, dass ihre Geldbörse verschwunden war. Holger Gericke legte ihr das Geld für die Heimfahrt aus. Beim nächsten Treffen, bei dem sie ihm das Geld zurückgab, verliebten sie sich Hals über Kopf. Am Ende hatte Anitas Vater trotz seiner Bedenken keine Einwände gegen ihre Heirat. Er war zwar durch und durch ein Militär gewesen, aber auch ein Mann mit großem Herzen und weitem Denken. Das war in diesen Zeiten keine Selbstverständlichkeit. Nun ja, vielleicht ahnte er auch, dass seine Tochter ein Kind erwartete. Anita schwor bis heute, dass sie es ihm erst nach der Hochzeit erzählt habe.

Vor zwei Jahren war ihr Vater gestorben. Holger Gericke war ihm bis heute dankbar für sein Vertrauen und hoffte inständig, dass er sich dessen als würdig erwies.

Diese Hoffnung fiel eine halbe Stunde später innerhalb weniger Minuten in sich zusammen. Als sie in der Turmstraße ankamen, war es still in der Wohnung, und auch auf das Klingeln hin rührte sich nichts. Holger Gericke machte sich noch keine Sorgen, er hatte ja den Schlüssel. Auf direktem Weg führte er seine Familie in das helle Zimmer im Vorderhaus, das Karl an ihn untervermietet hatte.

Anita und Holger Gericke lächelten einander zu. Geschafft! Sie waren endlich in ihrem neuen Leben angekommen. In einem Leben, in dem eine Tochter ihre kranke Mutter so oft besuchen konnte, wie sie wollte.

Als die Tür aufschwang, schien die Frühlingssonne auf abgezogene Dielen – in einem komplett leeren Zimmer. Holger Gericke und seine Frau erstarrten. Sie konnten zunächst nicht glauben, was sie sahen. Als sich Gericke schließlich gefasst hatte, stürmte er los, öffnete die beiden anderen Zimmertüren, die Tür zur Küche, zum Bad. Die Räume waren ebenfalls vollkommen leer und wurden nur noch von der Stille bewohnt. Von Karl, dem Freund, war nichts zurückgeblieben, nicht die kleinste Spur. Er war fort. Mit allen Möbeln. Und der gesamten Habe der Familie Gericke.

Anita Gericke schwankte. Ihr Mann konnte sie gerade noch auffangen.

Auch ihm wären fast die Tränen in die Augen geschossen, doch er bemühte sich, die Verzweiflung nicht zu zeigen, die in ihm aufstieg und ihn fast zu ersticken drohte. «Harry Barlay wird uns helfen. Oder Gustav Brumbach. Du wirst sehen, ich kann wieder als Dompteur arbeiten.»

«Ich will aber nicht mit einem Zirkus durchs Land ziehen. Das weißt du. Die Kinder brauchen ein festes Zuhause. Und außerdem kann ich meine Mutter nicht alleinlassen.» Anita Gericke liefen die Tränen über die Wangen.

Holger Gericke nahm seine Frau in die Arme. Sie lehnte sich an seine Brust, und er streichelte ihren Rücken. «Dann suche ich mir was anderes. Ich habe ja Arbeit für den Übergang. Es wird schon, du wirst sehen, es wird schon. Und wenn alle Stricke reißen … Ich habe noch andere Kontakte in der Zirkuswelt, die ich nutzen kann.»

Über den Kopf seiner Frau hinweg sah er seinen Sohn Thomas an. Der Siebzehnjährige schaute grimmig, seine Kiefer mahlten. Gericke begriff, dass sein Sohn den Kontakten des Vaters nicht mehr traute. Wenn er es recht bedachte, ging es ihm selbst nicht anders. Harry Barlay, Gustav Brumbach, Harry Michel – alles unsichere Kandidaten. Er wusste ja noch nicht einmal, wo Barlay und Brumbach sich derzeit aufhielten. Aber immerhin waren es Möglichkeiten, etwas, an dem man ansetzen konnte. Und das war immer noch besser als nichts.

Sie hörten, wie jemand die Wohnungstür aufschloss. Sofort keimte wieder Hoffnung in Gericke. «Siehst du, da ist er. Jetzt wird sich alles aufklären.»

 

Ein älterer Mann erschien im Türrahmen und fuhr sie wütend an: «Wer sind Sie? Was machen Sie in meiner Wohnung? Wenn Sie nicht sofort hier verschwinden, rufe ich die Polizei!»