Dieses viel zu laute Schweigen

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„Was soll ich denn machen?“, flüsterte ich hilflos.

„Halt dich einfach da raus, Anna“, sagte Kathi eindringlich. „Bitte. Du kannst es eh nicht ungeschehen machen, und ich will nicht, dass dir auch etwas passiert.“

Sie klang ehrlich besorgt. Doch das war nicht alles, was ich aus ihren Worten heraushörte. „Das heißt, du glaubst auch, dass es die Typen von der Haltestelle waren?“, vergewisserte ich mich.

„Nein“, antwortete sie zögernd. „Ja … Ich … Ach, keine Ahnung. So was passiert doch sonst alles immer woanders oder im Fernsehen. Aber … Überleg dir einfach gut, was du tust, okay?“

„Hmhmm.“

Für einen Moment herrschte Schweigen im großen, weiten Handynetz.

„Anna?“, sagte Kathi dann leise.

„Hm?“

„Ich kann verstehen, dass dir das keine Ruhe lässt. Aber wenn du wirklich zur Polizei gehst, dann verschwinde wenigstens eine Weile von der Bildfläche, bis die Täter gefasst sind, okay? Kannst du nicht vielleicht ein paar Nächte bei Nele unterkommen?“

Ich stieß ein trauriges Lachen aus. „Die hat selbst kaum Platz, seit sich ihr Bruder bei ihr einquartiert hat.“

„Du kannst auch zu uns kommen“, schlug sie vor, doch wir wussten beide, wie unrealistisch das war. Von Kathis Zuhause aus würde ich locker doppelt so lange bis zur Arbeit brauchen. Außerdem hatte sie bereits genug um die Ohren mit dem kleinen Flo. Aber ihr Angebot rührte mich.

„Danke“, erwiderte ich. „Ich werde drüber nachdenken.“

„Du wirst schon das Richtige tun, Anni! Und meld dich, wenn was ist!“

Mit diesen Worten verabschiedeten wir uns voneinander, und ich war wieder alleine mit der Frage, was ich jetzt tun sollte. Zur Polizei gehen oder nicht? Oder wenigstens mit Felix reden?

Verzweifelt vergrub ich das Gesicht in meinen Händen und sah sofort wieder seinen ratlosen, mutlosen, hilflosen Blick vor mir. Diese Angst um seinen Bruder und eine Traurigkeit, die sehr viel tiefer ging. Ich wollte nicht diejenige sein, die ihm mit diesem weiteren Vorfall den Rest gab. Aber ich musste, denn nur so würde die Tat möglicherweise aufgeklärt werden können und Felix wieder etwas zur Ruhe finden. Und Lukas … ihm war ich es ebenfalls schuldig, dass die Täter, die ihm das angetan hatten, ihre gerechte Strafe bekamen. Wurden diese Haltestellen nicht alle videoüberwacht? Dann müsste es doch ein Leichtes sein, die Pöbeltruppe darauf zu erkennen, oder? Ich musste der Polizei bloß den entscheidenden Hinweis geben, dann würden sie die Kerle schnappen, und ich musste keine Angst mehr vor ihnen haben.

Vorher wollte ich allerdings noch mit Nele telefonieren und hören, was sie dazu sagte. Außerdem musste ich Olli unbedingt Bescheid geben, was ich erfahren hatte.

Entschlossen wischte ich mir über die Augen, riss ein Stück Küchenpapier von der Rolle ab und putzte mir die Nase. Anschließend brachte ich zuerst Olli auf den Stand der Dinge und rief dann meine Freundin an. Als Nele hörte, was los war, fackelte sie nicht lange und machte sich sofort auf den Weg zu mir. Keine zehn Minuten später saß sie neben mir auf dem Sofa, und ich erzählte ihr alles über Felix und Lukas, meine Ängste und Zweifel und das, was Kathi gesagt hatte.

„Scheiße“, brachte Nele die Sache sehr knapp, aber ziemlich treffend auf den Punkt. Sie runzelte die Stirn, brütete einen Moment still vor sich hin und erklärte dann, dass sie an meiner Stelle auf jeden Fall zur Polizei gehen würde. Und dass ich jederzeit bei ihr unterkommen könnte, wenn ich mich zu Hause nicht sicher fühlte. Ihren Bruder würde sie einfach rausschmeißen, der ginge ihr eh auf die Nerven. Sie klang dabei so selbstsicher und entschlossen, dass ich ihr am liebsten blind vertraut hätte. Aber in der Zwischenzeit hatten sich auch Kathis Bedenken so tief in mir verwurzelt, dass ich wie immer viel zu lange zögerte und Was-wäre-wenn-Gedanken wälzte.

„Ach, Anna-Maus“, seufzte Nele. „Was ist das alles für ein Mist. Also wenn du mich fragst, schlafen wir jetzt erst mal eine Nacht drüber, und morgen früh kannst du dann mit klarem Kopf entscheiden, was du tun willst, okay? Und sei es, dass du diesen Felix zum Frühstück einlädst und wenigstens mit ihm redest.“

„Hmhmm.“ Ich nickte und kaute nachdenklich auf meiner Unterlippe herum, als meine Freundin urplötzlich das Thema wechselte und fragte: „Sieht er eigentlich auch so unverschämt gut aus?“

Ungläubig riss ich den Kopf hoch und schaute sie fassungslos an. „Sag mal, geht’s noch?“

Die Frage war typisch Nele, doch als sie mich dabei frech angrinste, verzogen sich meine Mundwinkel wie von Geisterhand geführt nach oben. Sie hatte die faszinierende Gabe, selbst in der schlimmsten Situation ihren Humor zu behalten, ohne dass es sich falsch oder gefühllos anfühlte. Es war einfach ihre Art, und letztendlich war ich ihr jedes Mal dankbar, wenn sie es schaffte, mich damit aus dem Sumpf zu ziehen. Heute jedoch verpuffte die Wirkung sofort wieder.

Ich dachte an Felix, sah seinen verlorenen Blick vor mir und fragte mich, was er gerade machte. Ob er wenigstens ein bisschen schlafen konnte? Zu hören war jedenfalls nichts aus der Nachbarwohnung.

„Was glaubst du denn?“, antwortete ich mit einem Moment Verzögerung traurig. „Wie soll man schon aussehen, wenn einem die Nachricht, dass sein Bruder brutal überfallen wurde, den Boden unter den Füßen weggezogen hat? Genetisch sind sich die beiden vielleicht sehr ähnlich, aber ansonsten ist Felix gerade das genaue Gegenteil von einem Strahlemann.“

„Hmmm“, machte Nele. „Kann ich mir denken. Aber stell dir mal vor, eines Tages ist alles wieder gut und du hast plötzlich zwei solche Prachtexemplare vor dir stehen! Nicht, dass du dann Probleme kriegst, dich für einen von ihnen zu entscheiden.“

„Nele“, knurrte ich drohend. „Es reicht. Das ist jetzt echt nicht mehr komisch.“

Sie lachte und knuffte mich liebevoll in die Seite. „Ach, Süße. Du weißt doch, dass ich nur versuche, dich aufzumuntern. Es nützt ja nichts, in Trübsinn zu verfallen. Damit ist niemandem geholfen.“

„Ja, ich weiß“, gab ich widerwillig zurück.

Anschließend diskutierten wir darüber, ob Nele heute Nacht bei mir bleiben sollte oder nicht, und nachdem ich sie endlich überzeugt hatte, dass sie mich alleine lassen und nach Hause fahren konnte, umarmte sie mich fest und ging.

Als sie im Treppenhaus außer Sichtweite war, wanderte mein Blick wie von selbst rüber zur Nachbarwohnung. Unwillkürlich tauchte ein trauriges Paar blauer Augen vor mir auf. Und tatsächlich hatte ich in den letzten zwei Stunden fast genauso oft an Felix gedacht wie an Lukas. Aber bestimmt nicht so, wie Nele es vorhin gemeint hatte.

Kopfschüttelnd schloss ich die Tür und machte mich fertig fürs Bett. Doch an Schlaf war wie erwartet nicht zu denken. Mir gingen tausend Dinge durch den Kopf, während gleichzeitig Bilder von einem strahlenden Lukas und einem am Boden zerstörten Felix auf meiner inneren Leinwand auftauchten. Vergeblich versuchte ich, abzuschalten und endlich zur Ruhe zu finden, schaffte es aber nicht. Denn das, was mir am unerträglichsten und lautesten im Schädel herumhämmerte, war mein eigenes Schweigen.

Felix

Nachdem Anna gegangen war, lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wohnungstür und sackte erschöpft in mich zusammen. Das Gespräch mit Lukas‘ Nachbarin hatte mir die letzte Kraft geraubt. Ich kannte sie nicht und wusste nicht, was zwischen ihr und Lukas eigentlich lief. Aber diese paar Minuten hatten ausgereicht, um zu erkennen, was für ein liebenswürdiger Mensch sie war, und ich würde meinen Bruder ordentlich zur Sau machen, wenn er es wagen sollte, sie nur als eine seiner Gespielinnen zu benutzen. Wenn er es denn überhaupt noch konnte …

Ich verbot mir, den Gedanken weiterzuverfolgen, und griff stattdessen zum Handy, um Martin zurückzurufen. Anschließend schleppte ich mich ins Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf. Im Traum wirbelten zahlreiche Erinnerungsfetzen durcheinander und vermischten sich mit allerhand Blödsinn, den das Chaos in meinem Kopf dazwischenwarf: Es klingelte an der Tür, und als ich öffnete, lag ein völlig zertrümmerter Lukas davor; meine verstorbene Oma hielt mich im Arm und sagte: „Du musst jetzt ganz tapfer sein, mein Junge“; und dann war da Anna, die mir den Schlüsselbund reichte, mir mit der anderen Hand so sanft über die Wange strich, wie sie es vorhin bei dem kleinen Holz-Hai getan hatte, und erklärte, dass alles wieder gut werden würde.

Schweißgebadet wachte ich auf und wusste im ersten Moment nicht, wo ich war. Es war halb sechs Uhr morgens. Keine Nachrichten oder verpassten Anrufe auf meinem Smartphone. Das wertete ich als gutes Zeichen. Trotzdem packte mich sofort wieder die Ruhelosigkeit. Also zog ich mich an, legte einen kurzen Zwischenstopp im Bad ein, schloss äußerst vorsichtig die Wohnungstür zu, um nicht mit dem Hai an den Rahmen zu poltern, und machte mich dann auf den Weg ins Krankenhaus.

Lukas‘ Zustand war unverändert schlecht, und die Ärzte hielten ihn weiterhin im künstlichen Koma, damit sich sein Körper in Ruhe auf die Heilung konzentrieren konnte.

Nach wie vor fassungslos, wie jemand so gewalttätig sein konnte, beobachtete ich, wie sich der Brustkorb meines Bruders im Takt der Beatmungsmaschine hob und senkte. Anschließend harrte ich erneut stundenlang im Wartebereich vor der Intensivstation aus. Während ich dort saß und nichts anderes tun konnte, als zu warten, tauchten aus meinem Gedächtnis bruchstückhaft Bilder aus der Vergangenheit auf. Szenen aus unserer Kindheit und Jugend, die trotz des frühen Todes unserer Eltern glücklich gewesen waren und geprägt von der Liebe unserer Großeltern und absolutem Zusammenhalt. Feli und Luka gegen den Rest der Welt, mit allem Jungs-Blödsinn, der dazugehörte.

 

Wie gerne würde ich die Zeit dorthin zurückdrehen. Aber jetzt waren wir erwachsen und spätestens seit dem Tod von Oma Grete vor sechs Monaten auf uns alleine gestellt – so, wie man es mit Ende zwanzig bzw. Anfang dreißig eigentlich ohnehin sein sollte. Trotzdem war es ein Unterschied, ob da noch jemand war, den man jederzeit um Rat fragen konnte, oder nicht. Besonders in einer Situation wie dieser, auch wenn Oma gerade dafür vorgesorgt hatte.

Nach dem frühen Unfalltod unserer Eltern hatte sie darauf bestanden, dass wir uns jeweils mit achtzehn mit dem Thema Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Organspendeausweis befassten, und ließ dabei keine Ausrede gelten. Sie wollte nicht diejenige sein, die eines Tages darüber entscheiden musste, ob unser Leben unnötig verlängert werden sollte oder unsere Organe gespendet werden durften. In unserem jugendlichen Leichtsinn hatten wir natürlich amüsiert die Augen verdreht und das alles ausgefüllt, als hätte es nichts mit uns zu tun. Doch jetzt saß ich hier und wusste seit dem Gespräch mit dem Arzt heute Morgen, dass ich nachher in Lukas‘ Wohnung einen ganz bestimmten Ordner suchen musste, auch wenn sich alles in mir dagegen sträubte. Was, wenn die Ärzte aufgrund der Unterlagen die Maschinen abstellen wollten, ich aber nicht bereit dazu war? Bis zu diesem Gespräch hatte ich den Gedanken erfolgreich verdrängt, dass es dermaßen schlimm um Lukas stand. Doch die Realität war leider eine andere.

Am Nachmittag brauchte ich dringend eine Pause von der erdrückenden Krankenhausatmosphäre und dem Dunst aus Desinfektionsmitteln. Ich holte mir in der Cafeteria einen Kaffee und ein belegtes Brötchen und setzte mich damit draußen im Park in die Sonne.

Als ich mein Handy aus der Tasche zog, sah ich, dass den Tag über zahlreiche Nachrichten eingetroffen waren. Ich hatte das Gerät auf der Intensivstation in den Flugzeugmodus und auf lautlos gestellt und erschrak, als ich unter anderem die Nachricht über drei verpasste Anrufe einer Nummer hier aus der Stadt entdeckte. Die Polizei? Sonst kannte hier niemand außer dem Krankenhaus meine Kontaktdaten.

Ich holte tief Luft und tippte nervös auf das Display. Wie erwartet musste ich erst weiterverbunden werden, dann landete ich bei Frank Oppermann, dem leitenden Ermittler in Lukas‘ Fall. Er bedankte sich für meinen Rückruf und erklärte mit ernster Stimme, dass es neue Informationen gab. Statt mich gleich darüber aufzuklären, fragte er jedoch: „Wissen Sie zufällig, ob Ihr Bruder am Samstagabend mit der S-Bahn unterwegs war? Und falls ja, wann er ungefähr von zu Hause weggefahren ist?“

Ich hätte beinah spontan „Nein“ gesagt, doch dann fiel mir ein, dass ich mit Lukas telefoniert hatte, als er gerade loswollte … und dass ich den Maklertermin absagen musste, weil ich momentan andere Sorgen hatte, als das Haus meiner Oma zu verkaufen.

„Ähm … ja“, antwortete ich und zwang mich zur Konzentration. „Er muss so gegen acht mit der Bahn gefahren sein. Lukas hat seit seinem Umzug kein eigenes Auto und meinte, dass er in der Stadt auch keins braucht.“

„Hmhmm“, brummelte der Beamte vor sich hin.

„Warum wollen Sie das wissen?“, hakte ich irritiert nach. „Der Überfall war doch erst viel später, und zwischendurch war er wie geplant beim Public Viewing, hatte Ihr Kollege gesagt.“

„Ja, das ist richtig. Aber es gibt möglicherweise einen Zusammenhang zu einem Vorfall, der sich bereits vorher an der Haltestelle Georgstraße ereignet hat“, sagte er. Dann erzählte er mir von einer Zeugenaussage, laut der eine junge Frau an eben jener Haltestelle, an der Lukas eingestiegen war, von ein paar Männern belästigt worden war. Mein Bruder hatte anscheinend eingegriffen, um ihr zu helfen, und war anschließend selbst zur Zielscheibe der jungen Männer geworden. Bevor es allerdings zu weiteren Handgreiflichkeiten kommen konnte, wäre die Bahn eingetroffen und jeder seiner Wege gegangen, erklärte der Beamte. Es sei nicht sicher, ob es dabei einen Zusammenhang zu dem Überfall gab, aber sie müssten der Spur nachgehen.

Ich sackte in mich zusammen und stieß geräuschvoll die Luft aus. Nein! Bitte nicht!

Ich konnte mir allzu gut vorstellen, wie Lukas dieser jungen Frau geholfen hatte. Er hatte schon immer einen ausgeprägten Beschützerinstinkt gehabt und war unerschrocken genug, um bei einer solchen Szene beherzt einzugreifen. Besonders, wenn es sich dabei um eine gut aussehende junge Frau handelte. Aber beim Gedanken daran, dass er für diese gute Tat so übel zugerichtet worden sein könnte, stellten sich mir die Nackenhaare auf.

„Und … wie geht es jetzt weiter?“, fragte ich zögernd. „Gibt es überhaupt eine Chance, die Täter zu kriegen und herauszufinden, ob beides miteinander zu tun hat?“

„Wir tun, was wir können“, sagte Frank Oppermann. „Es gibt ein paar vage Beschreibungen der Männer, mit denen wir morgen an die Öffentlichkeit gehen. Wir hoffen dadurch auf weitere Zeugenaussagen. Aber einfach wird es tatsächlich nicht. Ich wünschte, der Vorfall wäre uns sofort gemeldet worden, dann hätten wir die Videoaufzeichnung vom Bahnsteig sichern können. Aber so werden die Aufnahmen bedauerlicherweise nach vierundzwanzig Stunden überschrieben.“

Was?! Oh, shit!

„Aber … da waren doch bestimmt noch mehr Leute an der Haltestelle, oder?“, überlegte ich laut. „Hat denn von denen niemand eingegriffen?“

„Leider nein“, antwortete der Beamte knapp. „Aber wir hoffen wie gesagt darauf, dass uns der Zeugenaufruf weiterbringt. Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald es etwas Neues gibt.“

„Okay, danke.“ Ich beendete die Verbindung und starrte fassungslos das Smartphone in meiner Hand an, als wäre das Gerät für irgendetwas von dem verantwortlich, was ich gerade erfahren hatte. Gleichzeitig überlegte ich, was schlimmer wäre: Wenn Lukas das Zufallsopfer eines Räubers geworden war oder wenn es wirklich einen Zusammenhang zu seiner Hilfsaktion am Bahnsteig gab. Letztendlich war es jedoch egal. Denn das Einzige, was im Moment zählte, war, dass er überlebte.

Ich fuhr mir mit der Hand müde übers Gesicht, atmete tief durch und machte mich auf den Weg zurück zur Intensivstation. Nach Absprache mit den Ärzten durfte ich zum Glück auch außerhalb der Besuchszeiten zu Lukas rein, wenn ich nicht zu lange am Stück blieb oder die Schwestern und Pfleger gerade etwas bei ihm zu erledigen hatten. Doch länger als ein paar Minuten hielt ich es diesmal ohnehin nicht bei ihm aus. Nachdem ich erfahren hatte, dass mein Bruder möglicherweise nur deshalb so zugerichtet worden war, weil er helfen wollte, konnte ich es noch weniger ertragen, so hilflos neben seinem Bett zu sitzen und einfach nichts tun zu können. In mir kochte die Wut hoch, und am liebsten hätte ich um mich geschlagen und irgendetwas zertrümmert. Dabei war ich eigentlich eher ein friedlicher Mensch. Aber die ganze Situation warf mich völlig aus der Bahn. Deshalb verabschiedete ich mich kurz darauf von Lukas und versprach ihm, später wiederzukommen. Ich musste dringend raus an die Luft, mich bewegen und diese überschüssige Energie in mir loswerden. Also marschierte ich los, ließ den Klinikparkplatz links liegen und folgte der Straße, die am ehesten ein bisschen Grün zwischen all dem Teer und Beton zu bieten hatte. Sie führte aus der Stadt raus Richtung Außenbezirke, und während der Verkehr sich immer mehr lichtete, wurde auch ich allmählich etwas ruhiger.

Ich hatte keine Ahnung, wie weit ich gelaufen war oder wo ich mich überhaupt befand, als die ersten Regentropfen auf meine nackten Arme fielen. Überrascht blickte ich zum Himmel rauf, an dem sich in der Zwischenzeit dicke graue Wolken zusammengeballt hatten. Und wie aufs Stichwort fing es an zu donnern.

Fluchend suchte ich nach einem schützenden Unterstand und entdeckte ein Stück weiter das Wartehäuschen einer S-Bahn-Haltestelle. Wie sich herausstellte, hatte ich Glück im Unglück und die Linie führte direkt zum Klinikum.

Nichtsdestotrotz war ich ziemlich nass, als ich dort ankam, deshalb ging ich nicht zu Lukas rauf, sondern gleich zu meinem Auto. Alles in mir drängte zwar danach, noch einmal nach ihm zu sehen. Aber wenn ich keine Erkältung riskieren wollte, sollte ich jetzt lieber fahren und mir etwas Trockenes anziehen, bevor ich in den nächsten Tagen gar nicht mehr zu ihm durfte. Denn selbst einem Laien wie mir war klar, dass die kleinste Infektion meinen Bruder mit größter Wahrscheinlichkeit umbringen würde.

Anna

Als ich am späten Mittwochnachmittag Feierabend machte, regnete es in Strömen. Deprimiert beobachtete ich, wie die Tropfen an der Fensterscheibe der S-Bahn herunterliefen, und hing meinen Gedanken nach. Die Sache mit Lukas ließ mich einfach nicht los, von daher passte das Wetter perfekt zu meiner Stimmung. Wenigstens hatte ich heute Morgen in weiser Voraussicht einen Schirm eingepackt, sodass ich auf dem Weg zum Supermarkt und nach Hause nicht klatschnass wurde.

An unserem Wohnblock angekommen, sah ich in der Parkreihe davor ein Auto mit fremdem Kennzeichen stehen. Das war an und für sich nichts Ungewöhnliches, denn die Studenten bei uns im Haus kamen oft von weiter weg. Merkwürdig war jedoch, dass das Licht daran brannte und eine Gestalt vollkommen reglos hinter dem Lenkrad kauerte. Beim Näherkommen erkannte ich, dass es Felix war. Er starrte durch die Windschutzscheibe raus in den Regen und schien in Gedanken meilenweit weg zu sein. Wenn ich mich nicht täuschte, sah er noch schlechter aus als am Abend zuvor, und prompt schlug mir das Herz bis zum Hals. Was, wenn etwas mit Lukas war? Wenn er …

Nein!, unterbrach ich mich selbst. Es gab sicherlich eine ganz simple Erklärung dafür, warum er nicht ausstieg und nach oben ging. Vielleicht hatte er keinen Schirm dabei und wollte nicht nass werden. Außerdem konnte ich sein Gesicht durch die leicht beschlagene und vollgetropfte Scheibe gar nicht richtig erkennen und mir alles Mögliche einbilden.

Entschlossen holte ich Luft und klopfte vorsichtig an die Seitenscheibe, um Felix nicht zu erschrecken. Aber natürlich tat ich es doch. Ruckartig drehte er den Kopf zu mir herum, schien einen Moment zu brauchen, bis er regis­triert hatte, wer ich war, und ließ dann das Fenster herunter.

„Hey“, sagte ich lächelnd. „Willst du hier warten, bis der Regen aufhört, oder kann ich dir ein Stück von meinem Schirm anbieten?“

Felix blickte wieder nach vorne, als hätte er gar nicht bemerkt, dass es überhaupt regnete. Dabei war sein ganzes Shirt voll mit nassen Flecken.

„Alles okay bei dir?“, vergewisserte ich mich zögernd.

Er zuckte mit den Schultern, und so hilflos und verloren, wie er dabei wirkte, hätte er auch gleich den Kopf schütteln können.

„Felix? Bitte sag was! Ist mit Lukas alles in Ordnung?“

Daraufhin stieß er ein bitteres Lachen aus. „Nein. Ganz bestimmt nicht.“

„Aber er lebt?“, bohrte ich weiter.

Für einen Moment passierte gar nichts, und ich befürchtete schon das Schlimmste, dann nickte er.

Ich atmete erleichtert auf. So weit, so gut. Aber irgendetwas musste trotzdem geschehen sein.

„Kommst du mit rein?“, versuchte ich es erneut. „Dann können wir in Ruhe reden. Hier ist es grad etwas ungemütlich.“

Außerdem wollte ich sowieso mit ihm sprechen. Jedenfalls war das bis vorhin mein Plan gewesen. Doch jetzt war ich unsicher, wie viel ich ihm in seinem Zustand noch zumuten konnte.

Felix sah mich an, ließ die Fensterscheibe wieder hochfahren, zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und stieg aus.

Auf dem Weg die Treppe rauf bemerkte ich, dass sein Shirt auf dem Rücken ebenfalls nass war. Doch als ich ihn darauf ansprach, nuschelte er bloß etwas vor sich hin, das wie „verlaufen“ klang. Ich fragte nicht weiter nach, schlug ihm vor, sich erst mal umzuziehen, und bot ihm an, dass er danach gerne zu mir rüberkommen und später mit mir essen konnte.

„Danke“, erwiderte er leise, und ich rechnete fest mit einem Aber, doch es kam nicht.

Eine knappe halbe Stunde verging, und ich fragte mich gerade, ob Felix wirklich kommen würde, als es endlich klingelte. Er hatte sich nicht nur umgezogen, sondern auch geduscht, denn er roch frisch nach Shampoo oder Seife. Genauso wie Lukas am Samstagabend im Treppenhaus. Die Erinnerung daran war wie ein Schlag in die Magengrube, doch ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, hielt ihm einladend die Tür auf und sagte: „Komm rein! Essen dauert noch einen kleinen Moment. Willst du was trinken?“

„Nein, danke.“ Er folgte mir in die Küche und beobachtete schweigend, wie ich meinen Auflauf in den Ofen schob. „Anna … Das mit der Einladung zum Essen ist wirklich nett von dir“, bemerkte er, nachdem ich mich wieder aufgerichtet hatte. „Aber … Ehrlich gesagt habe ich überhaupt keinen Appetit, und ich glaube, ich bin heute auch keine so gute Gesellschaft.“

 

Da war es, das Aber. Ich sah ihn an und wartete, bis er mich ebenfalls anschaute. In seinen Augen tobte ein Sturm an Gefühlen, doch ich konnte unmöglich erkennen, was genau darin vor sich ging.

„Was ist passiert?“, fragte ich leise.

Felix musterte mich einen Augenblick lang stumm, ehe er niedergeschlagen antwortete: „Es war vielleicht doch nicht nur ein Raubüberfall.“

„Was?! Aber was … Ich meine, wieso …“ In meinem Kopf überschlug sich plötzlich alles. Es konnte nicht sein, dass er schon von dem Vorfall am Bahnsteig gehört hatte. Ich wollte ihm doch gleich erst davon erzählen.

„Die Polizei hat mich heute angerufen“, begann er und erklärte mir genau das, was ich ihm bisher verschwiegen hatte.

Atemlos hörte ich ihm zu und überlegte nebenbei fieberhaft, wer diese Zeugin war, die den Vorfall an der Haltestelle gemeldet hatte. Die blonde Frau aus dem Drogeriemarkt? Oder eine von den beiden Alten? Auf jeden Fall jemand, der mutiger gewesen war als ich, denn nach den ganzen Grübeleien der Nacht hatte ich beschlossen, erst mit Felix zu reden und dann zur Polizei zu gehen, vielleicht sogar mit ihm zusammen. Aber jetzt war die Situation eine völlig andere.

Ich schluckte schwer. „Felix, ich …“, setzte ich an, ihm endlich zu sagen, was ich wusste. Doch er war zu sehr in seinen eigenen Gedanken gefangen und redete unbeirrt dazwischen.

„Kannst du dir vorstellen, dass die anderen Leute wirklich nur zugeguckt und nichts getan haben? Sie haben diese junge Frau einfach ihrem Schicksal überlassen und Luka genauso. Ich würde ja sagen, er hat Glück gehabt, dass die Bahn in dem Moment kam, aber … Was, wenn der Überfall wirklich damit zu tun hat und sich der Racheakt dieser Truppe bloß auf später verschoben hat?“

Jeder einzelne Satz von ihm fühlte sich an wie eine Ohrfeige, und genau die hatte ich verdient. Verbissen presste ich die Lippen aufeinander und spürte, wie mich der Mut verließ. Statt ihm alles zu erklären, sagte ich deshalb nur vorsichtig: „Vielleicht hatten sie Angst, da auch mit reingezogen zu werden.“

Felix schnaubte. „Ja. Das würde mir alleine bestimmt genauso gehen. Und vielleicht war es zu leichtsinnig von Luka, so vorzupreschen. Aber da war niemand alleine! Und zusammen hätten sie es ja wohl mit vier Halbstarken aufnehmen können oder die Polizei rufen oder was weiß ich was.“

Ich schrumpfte immer mehr in mich zusammen und wollte wie schon bei Nele ins Feld werfen, dass die Polizei ohnehin zu spät da gewesen wäre. Aber ich brachte keinen Ton heraus. In meiner Kehle sammelte sich ein riesengroßer Kloß an Tränen, und wenn ich es selbst nicht tat, würde der mich jeden Moment verraten. Und mit seiner nächsten Bemerkung verpasste Felix mir den Gnadenstoß.

„Wenn bloß einer rechtzeitig den Mund aufgemacht hätte, hätte die Polizei jetzt wenigstens die Aufnahmen von der Überwachungskamera. Aber so ist es zu spät.“

Was?! Ich riss erschrocken den Kopf hoch, doch er merkte es nicht einmal, weil er völlig in Gedanken versunken auf die Tischplatte starrte. Eine eisige Hand schnappte sich mein Herz und drohte es zu zerreißen.

„Warum ist es zu spät?“, fragte ich mit belegter Stimme.

„Weil die Aufzeichnungen nur vierundzwanzig Stunden gespeichert und dann überschrieben werden“, antwortete er niedergeschlagen.

Nein! Das war jetzt nicht wahr, oder?

Vierundzwanzig Stunden. Sonntagabend. Wenn mir bis dahin doch bloß aufgefallen wäre, dass Lukas nicht nach Hause gekommen war. Oder wenn ich meinem Bauchgefühl gefolgt wäre, als ich erkannt hatte, dass die Pöbeltruppe mit ihm zusammen am Berliner Platz ausgestiegen war.

„Ich … Entschuldige mich kurz“, presste ich mit letzter Kraft heraus, verließ fluchtartig die Küche und stürzte ins Bad. Mir war plötzlich furchtbar übel, doch letztendlich waren es nur Tränen, die in Sturzbächen aus mir herausschossen. Wie gerne hätte ich meine Schuldgefühle einfach ausgekotzt, aber so leicht wollte es mir mein Gewissen nicht machen.

Ich hatte schon eine ganze Weile zusammengekauert auf dem Klodeckel gesessen, als es leise an der Tür klopfte.

„Anna?“, hörte ich Felix gedämpft durch das Holz. „Ist alles okay?“

„Ja“, rief ich mit zittriger Stimme. „Bin gleich wieder da.“

„Gut. Ich habe den Ofen schon mal abgestellt“, sagte er.

Unwillkürlich musste ich lächeln. Und weinen. Wie sehr hatte ich mir gewünscht, mit Lukas näher in Kontakt zu kommen, ihn zu besuchen oder zu mir einzuladen, gemeinsam zu essen, zu reden, zu lachen. Stattdessen war es jetzt sein Bruder, der hier war und sich wie selbstverständlich in meiner Küche zu schaffen machte. Nur das Lachen fehlte. Und das mit dem Reden war so eine Sache, an der ich dringend arbeiten musste.

Ich atmete tief durch, putzte mir die Nase und klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht, um meine verheulten Augen wenigstens einigermaßen zu kaschieren. Es war allerdings vergeblich, also gab ich es auf, band mir die Haare neu zusammen und ging zurück in die Küche.

Felix saß am Küchentisch und starrte gedankenverloren vor sich hin. Als er mich kommen hörte, hob er den Kopf und musterte mich einen Moment schweigend.

„Sorry“, murmelte ich verlegen und wandte mich geschäftig dem Schrank zu, um ein paar Teller und Gabeln herauszuholen. Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken und fragte mich, was er gerade dachte. Doch ich musste gar nicht weiter überlegen, denn die Antwort darauf gab er mir selbst.

„Anna, ich will dir ja nicht zu nahetreten“, begann er zögernd. „Aber … Ich fürchte, dass das, was du für Luka empfindest, ziemlich einseitig ist. Er ist einfach so ein Typ …“ Er stockte. „Keine Ahnung, wie ich das am besten ausdrücken soll.“

Ich drehte mich zu ihm um und lächelte traurig. „Meinst du, ich weiß nicht, dass jemand wie er nicht zu haben ist? Mir ist schon klar, dass Männer wie Lukas entweder vergeben oder bloß auf ein Abenteuer aus sind. Aber darum geht es nicht. Es ist …“

Sag’s ihm!, wisperte eine Stimme in mir.

Felix hielt meinen Blick fest und wartete schweigend ab, dass ich weiterredete. Verstohlen wischte ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Es ist nur im Moment alles etwas viel auf einmal“, quetschte ich heraus, wandte mich von ihm ab und hasste mich selbst für meine Feigheit.

„Ja, das ist es“, hörte ich ihn leise hinter mir sagen.

Verzweifelt biss ich mir auf die Unterlippe und wünschte mir plötzlich, dass er doch lieber wieder gehen würde. Ich erstickte beinah an meinem Schweigen, aber ich bekam einfach nicht heraus, was ich ihm eigentlich sagen wollte. Sagen sollte. Sagen musste.

Geistesabwesend griff ich nach der heißen Auflaufform und merkte in allerletzter Sekunde, dass ich die Topflappen vergessen hatte. Das wäre schmerzhaft geworden.

Ich zwang mich zur Konzentration, atmete tief durch und stellte das Essen auf den Tisch. Felix beobachtete mich still dabei und lächelte verlegen, als sein Magen im selben Moment ein eindeutiges Knurren von sich gab. Der beste Beweis dafür, dass Appetit und Hunger zweierlei Dinge waren. Auch mir war nicht nach Essen zumute, aber dem Körper war das leider herzlich egal.

Schweigend füllte ich uns auf, stellte zwei Gläser und eine Flasche Wasser auf den Tisch und setzte mich. Felix bedankte sich leise, darüber hinaus waren uns die Worte irgendwie ausgegangen.

Als ich die Stille nicht länger aushielt, versuchte ich es mit Small Talk und fragte ihn: „Was ist mit dir? Hast du eine Freundin?“