Dieses viel zu laute Schweigen

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Die Nacht wurde wie erwartet furchtbar. Statt zu schlafen, lauschte ich auf jedes kleine Geräusch im Treppenhaus, doch nie blieben die Schritte an der Tür nebenan stehen, sondern polterten jedes Mal weiter rauf ins Dachgeschoss.

Als ich am Dienstagmorgen zur Arbeit kam, war ich wie gerädert. Und ausgerechnet heute hatten wir nach Feierabend eine weitere Schulung für die neue Buchungssoftware. Das perfekte Timing, denn meine Konzentration ging mit jeder Stunde mehr Richtung null. Aber auf wundersame Weise schaffte ich es, auch diesen Tag zu überstehen.

Zwischendurch schaute ich ständig auf mein Handy und hoffte, dass Olli sich mit Neuigkeiten gemeldet hatte. Doch alles, was er am frühen Nachmittag schrieb, war, dass er bisher nichts gehört hatte.

Abends um halb zehn hatte ich endlich Feierabend. Auf dem Weg nach Hause versuchte ich vergeblich, meine hoffnungsvolle Erwartung, dass Lukas wiederaufgetaucht sein könnte, zu bremsen und mich gegen die Enttäuschung zu wappnen, wenn es eben nicht so sein sollte. Alles in mir kribbelte vor Nervosität, und sobald unser Wohnblock in Sichtweite kam, suchte ich mit den Augen die Fassade nach den Fenstern von Lukas‘ Wohnung ab. Die zwei außen rechts waren meine und daneben …

Ich schnappte überrascht nach Luft. Da war Licht hinter einem der Fenster! Vorsichtshalber zählte ich noch einmal nach, aber es war definitiv das vierte Fenster von rechts im zweiten Stock, also die Wohnung von Lukas!

Schlagartig schoss mein Puls in die Höhe. Am liebsten wäre ich sofort losgerannt, um bei ihm zu klingeln und mich erleichtert in seine Arme zu stürzen. Stattdessen blieb ich wie erstarrt stehen und blickte mit wild klopfendem Herzen weiter nach oben. So ganz traute ich der Sache nicht über den Weg. War das wirklich Lukas da in der Wohnung? Sollte tatsächlich auf einmal alles wieder gut sein? Oder war es vielleicht doch bloß ein Angehöriger, der gekommen war, um ihm ein paar Sachen fürs Krankenhaus zu holen?

Während ich noch zögerte, tauchte eine Silhouette am Fenster auf, und ich keuchte vor Erleichterung auf. Größe, Statur, Haare – alles, was ich von hier unten erkennen konnte, passte. Das war Lukas! Er war wieder da! Ihm war nichts passiert!

In Rekordzeit legte ich das letzte Stück bis zur Haustür zurück und schaffte es nur mit Mühe, sie aufzuschließen, weil meine Finger vor Aufregung so stark zitterten. Ich hätte heulen können vor Freude, zwang mich aber, es nicht zu tun. Was sollte Lukas denn denken, wenn ich plötzlich tränenüberströmt vor seiner Tür stand? Es würde schon schwer genug sein, ihm nicht sofort um den Hals zu fallen.

Ohmeingottohmeingottohmeingott! Er war wirklich wieder da. Die ganze Angst war umsonst gewesen. Völlig überwältigt taumelte ich die Treppe rauf, während auf jeder einzelnen Stufe ein Lukas-ist-da in meinem Kopf herumtanzte.

Als ich schließlich vor seiner Wohnungstür stand, flatterten unzählige Schmetterlinge in aufgeregter Vorfreude in meinem Bauch herum. Ich freute mich so wahnsinnig darauf, ihn zu sehen. Nur dass das in diesem Fall wenig mit Verliebtheit zu tun hatte, sondern mit der unfassbaren Erleichterung, dass ihm nichts passiert war. Dass die Szene an der Haltestelle kein Nachspiel gehabt hatte und ich deshalb dieses furchtbare Was-wäre-wenn-Karussell in meinem Kopf endlich abstellen konnte.

Ich atmete tief durch und drückte mit zitternden Fingern auf die Klingel.

Hinter der Tür hörte ich Schritte näher kommen, dann ein „Hallo?“ und ein leises Fluchen: „Wie funktioniert denn dieses Mistding?“

Im selben Moment rutschte mir das Herz in die Hose. Das war nicht Lukas. Es war nicht seine Stimme. Außerdem hätte er im Gegensatz zu dem Mann in seiner Wohnung gewusst, wie man die Gegensprechanlage im Flur bediente. Aber wer war es dann? Und wo war Lukas?

Für einen Augenblick stand ich wie gelähmt vor der Tür und fragte mich, ob es das zu bedeuten hatte, was ich glaubte. Dann hob ich wie in Zeitlupe die Hand und klopfte sacht an die Wohnungstür, um dem Fremden zu verstehen zu geben, dass ich hier oben direkt davor stand. Die Tür öffnete sich, und dahinter kam ein Mann zum Vorschein, der einerseits unglaubliche Ähnlichkeit mit Lukas hatte und andererseits überhaupt nicht. Er war genauso groß, genauso blond, genauso gut trainiert, doch damit hörten die Gemeinsamkeiten bereits auf. Seine Augen waren zwar auch blau, aber wesentlich weniger intensiv, eher schon grau und glanzlos, statt so strahlend und funkelnd wie die von Lukas. Überhaupt wirkte er furchtbar blass und matt und war das genaue Gegenteil von diesem lebenslustigen Strahlemann, der normalerweise hier wohnte. Es musste sein älterer Bruder sein, von dem Lukas mir bei unserem gemeinsamen Frühstück erzählt hatte. Und in dem Zustand, in dem er sich befand, wurde mir schlagartig klar, dass sich jeden Moment alle meine Befürchtungen bestätigen würden.

Felix

Bis Montagabend um elf hatte ich immer noch nichts von Lukas gehört und startete für diesen Tag einen letzten Versuch, ihn anzurufen. Für den Fall, dass er doch Spätschicht gearbeitet hatte, müsste er jetzt definitiv Feierabend haben. Aber es ging wieder nur die Bandansage ran. Verdammt! Hatte der Kerl sein Handy ausgeschaltet, oder was?

Ärgerlich legte ich mein Smartphone zur Seite und beschloss, ins Bett zu gehen. So langsam konnte Lukas mich gerne haben.

Als ich eine halbe Stunde später gerade eingeschlafen war, läutete es an der Haustür. Verwirrt schlug ich die Augen auf, warf einen Blick auf den Radiowecker und überlegte, wer zum Teufel um diese Zeit bei mir klingelte. Hauptsache, das waren nicht diese Jugendlichen, die bei uns in der Straße ständig Blödsinn machten.

Im Nachhinein fragte ich mich, wieso ich nicht gleich auf das Offensichtliche gekommen war. Wenn es spät­abends an der Tür klingelte, bedeutete das doch nie etwas Gutes. Vor allem dann nicht, wenn man bereits den ganzen Tag vergeblich versucht hatte, seinen Bruder zu erreichen. Aber diese Verbindung hatte ich nicht gesehen und wurde von den beiden Polizeibeamten vor meiner Tür eiskalt erwischt.

Sie wollten wissen, ob ich der Bruder von Lukas Engelhardt war. Sie fragten, ob sie einen Moment hereinkommen könnten. Sie erzählten etwas von einem Überfall und dass ich mit in die Klinik kommen sollte, um zu bestätigen, dass es sich bei dem Opfer um meinen Bruder handelte.

In meinem Kopf herrschte schlagartig Chaos. Krankenhaus? Überfall? Lukas? Nein! Das musste ein Irrtum sein!

Die nächsten anderthalb Stunden versanken in einem Nebel aus Hoffen und Bangen. Knapp hundert Kilometer waren definitiv zu weit für die Angst, die sich mit dem Auftauchen der Polizisten in meinem Bauch zusammengeballt hatte.

Das kann nicht Lukas sein!, redete ich mir gut zu. Wer sollte ihm so etwas antun wollen? Das ist doch absurd. Aber ich schlage mir gerne die Nacht um die Ohren, um euch zu sagen, dass ihr euch vertan habt.

Doch tief in meinem Inneren ahnte ich, dass diese Hoffnung vergeblich war. Die Polizei würde nicht über die weite Strecke solchen Aufwand betreiben, wenn sie nicht einen guten Grund dafür hätte, oder?

Oh, shit! Konnte mich bitte mal jemand wecken und aus diesem Albtraum erlösen?

Aufgewühlt fuhr ich mir mit den Händen übers Gesicht und griff nach meinem Handy, in dem naiven Glauben, dass dort unverhofft eine Nachricht von Lukas eingegangen sein könnte und dem Spuk ein Ende machte. Aber abgesehen von der Uhrzeit war das Display leer.

Nach einem unübersichtlichen Gewirr von Gängen und Fahrstühlen stand ich schließlich mit schweißnassen Händen auf der Intensivstation. Wie ferngesteuert folgte ich einem Arzt in einen Raum, der vorne, rechts und links aus Glaswänden bestand, trat an das Bett heran und hätte meinen eigenen Bruder beinah nicht erkannt. Überall an ihm waren Kabel und Schläuche und führten in zahlreiche blinkende und piepende Maschinen, die fast die komplette vierte Wand einnahmen. Lukas‘ Gesicht war tiefrot und blau und geschwollen und eins der wenigen Körperteile, die nicht in einem Gips oder Verband steckten.

Vollkommen schockiert starrte ich auf ihn herunter und brachte vor Entsetzen keinen Ton heraus. Erst als der Arzt mich zum wiederholten Mal fragte, ob das Lukas war, schaffte ich es zu nicken. Das kleine Muttermal an seiner linken Schläfe ließ keinen Zweifel daran. Plötzlich hatte ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und musste mich am Fußende des Bettes festhalten, um nicht in die Knie zu gehen.

„Was ist mit ihm?“, würgte ich an dem Kloß in meinem Hals vorbei. „Er wird doch wieder gesund, oder?“ Selbst in meinen Ohren klang die Frage nach einem verzweifelten Flehen. Und genau das war es, was ich fühlte: pure Verzweiflung.

Der Arzt dagegen verzog keine Miene, als er mir etwas von zahlreichen Knochenbrüchen, inneren Verletzungen, Prellungen, Quetschungen und künstlichem Koma erzählte. Aber es gab wohl auch keinen Weg, jemandem schonend beizubringen, dass der Patient in Lebensgefahr schwebte und Glück hatte, es überhaupt bis hierher geschafft zu haben.

Mir war kotzübel von all den Informationen und der Angst, dass ich meinen Bruder verlieren könnte. Gleichzeitig kochte die Wut in mir hoch. Wer hatte ihm das verdammt noch mal angetan? Und warum überhaupt? Die Polizei tappte bei diesen Fragen völlig im Dunkeln und vermutete einen Raubüberfall, da Lukas kein Portemonnaie und Handy bei sich gehabt hatte, als er gefunden wurde. Hätte sich nicht ein Kollege auf dem Revier gemeldet, wüssten sie nicht einmal, wer er war.

Völlig neben der Spur sank ich auf einen der Besucherstühle im Wartebereich vor der Intensivstation. Dort harrte ich die ganze Nacht und den folgenden Tag aus, bis die Schwestern mich nach Hause schickten, damit ich mich ausruhte und ein wenig schlief. Sie sagten, ich könnte sowieso nichts tun und sie würden mich sofort benachrichtigen, wenn sich an Lukas‘ Zustand etwas änderte.

 

Ich glaubte kaum, dass ich auch nur ein Auge zukriegen würde, war aber mittlerweile so erschöpft, dass ich es zumindest versuchen musste. Also raffte ich mich auf und fuhr zu Lukas‘ Wohnung. Die Polizei hatte mir seinen Schlüssel überlassen, und zu mir nach Hause wäre ich jetzt eh nicht gefahren. Ich wollte auf jeden Fall in der Nähe meines Bruders bleiben und würde höchstens noch einmal zurückfahren, wenn ich unbedingt etwas aus meiner eigenen Wohnung brauchte. Bei der Arbeit hatte ich mich für den Rest der Woche abgemeldet, und weiter reichte mein Horizont momentan nicht. Im Gegenteil. Genau genommen konnte ich gar nicht mehr denken und war einfach froh über jede Stunde, die verging und in der Lukas überlebt hatte.

Nachdem ich die Wohnungstür hinter mir zugemacht hatte, blieb ich eine Weile reglos im Flur stehen und lauschte in diese unerträgliche Stille hinein. Lukas sollte jetzt hier sein und so etwas sagen wie: „Hey, Bruderherz, was stehst du denn so bedröppelt da rum? Komm rein und mach’s dir bequem. Hätte ich dich erwartet, hätte ich doch einen Kuchen gebacken.“

Dabei wussten wir beide, dass er eine absolute Niete in der Küche war.

Mit einem traurigen Lächeln legte ich den Schlüsselbund mit Lukas‘ geliebtem Hai-Anhänger auf die Kommode und ging langsam durch die Wohnung. Dafür, dass mein Bruder manchmal ein echter Chaot war, war es hier überraschend ordentlich. Seit seinem Umzug vor sechs Wochen war ich nicht mehr hier gewesen, und ich staunte, wie gemütlich er es sich gemacht hatte. Auf der Anrichte neben dem Fernseher standen ein paar Fotos, doch ich zwang mich, nicht hinzuschauen. Ich wusste, dass ich es jetzt nicht ertragen würde, ein Bild von unseren Eltern oder einem frech grinsenden Lukas zu sehen. Stattdessen ging ich weiter in die Küche, und wie aufs Stichwort fing mein Magen an zu knurren.

Im Kühlschrank fand ich ein paar Eier, einen Rest Schinken und etwas Milch. Obwohl ich davon überzeugt war, keinen Bissen runterzukriegen, haute ich es zusammen in die Pfanne und machte mir ein Rührei.

Nach dem Essen suchte ich mir ein paar frische Klamotten aus dem Schrank und ging duschen. Zum Glück hatten Lukas und ich dieselbe Größe, sodass ich mir zunächst mit seinen Sachen weiterhelfen konnte.

Anschließend rief ich meinen besten Freund Martin an, um ihm zu erzählen, was passiert war. Auch er war völlig erschüttert und bot mir sofort seine Hilfe an, wenn ich etwas benötigte oder Beistand brauchte. Es tat gut, mit ihm zu reden, aber wirklich helfen konnte er nicht. Das konnte niemand, denn momentan half bloß abwarten und beten, in der Hoffnung, dass es tatsächlich eine höhere Macht gab, die selbst die untreuesten Schäfchen in einer solchen Situation erhörte.

Als Martin sich nach einigem „Kopf hoch“ und „Halt die Ohren steif“ verabschiedet hatte, nahm ich mein Smartphone vom Ohr und starrte nachdenklich auf das Display. Es waren nur zwei, drei Stichworte, die ich bei Google eingeben musste, um nachlesen zu können, was mit Lukas passiert war. Aber wollte ich das? War das, was die Polizisten mir erzählt hatten, nicht schon schlimm genug, als dass ich mir jetzt einen mehr oder weniger wahrheitsgemäßen Abklatsch davon antun sollte?

Mitten in meine Überlegungen hinein klingelte es an der Tür. Ich zuckte erschrocken zusammen und spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich.

Bitte lass das nicht die Polizei mit schlechten Neuigkeiten aus der Klinik sein!

Das war zwar totaler Blödsinn, jetzt wo das Krankenhaus meine Telefonnummer hatte, aber zum logischen Denken war ich gerade nicht in der Lage. Deshalb hatte ich auch keine Idee, wer sonst bei Lukas klingeln sollte. Eine seiner Liebhaberinnen jedenfalls nicht, denn so gut kannte ich meinen Bruder, dass er seine Eroberungen nie mit zu sich nach Hause nahm, um später keine Heulsusen vor seiner Tür stehen zu haben, die etwas missverstanden hatten.

Zögernd ging ich in den Flur, kämpfte mit diesem Türöffner-Sprechapparat-Ding und drehte mich überrascht zur Tür um, als es leise dagegenklopfte.

Draußen stand eine junge Frau, die mich einerseits ziemlich verschreckt anschaute, andererseits aber nicht so wirkte, als hätte sie mit Lukas gerechnet. Sie musterte mich schweigend, während in ihren Augen ein Kampf aus bitterer Erkenntnis und naivem Nicht-wahr­haben-wollen tobte. Diese Gefühlsregung kam mir bekannt vor. Allerdings fragte ich mich, was bei ihr der Grund dafür sein mochte, denn von Lukas‘ Zustand konnte sie kaum etwas wissen. Also, wer war sie und was wollte sie?

„Hallo“, sagte ich, und es klang selbst in meinen Ohren eher wie eine Frage.

„Hallo“, gab sie unsicher zurück. „Ich wollte eigentlich zu Lukas. Ist er da?“

Ich sah sie an und spürte, dass sie die Antwort bereits kannte. Doch in ihrem Blick lag so ein flehendes Bitte-sag-ja, dass ich meine eigene Verzweiflung darüber fast vergaß.

„Nein“, presste ich mit seltsam belegter Stimme heraus und fühlte mich wie ein Arschloch, weil ich ihre Hoffnung so gnadenlos zerstören musste. „Tut mir leid.“

Die junge Frau senkte den Kopf und sackte dabei regelrecht in sich zusammen. Ich beobachtete sie einen Moment nachdenklich und war jetzt wirklich neugierig, wer sie war.

Als ich sie danach fragte, stammelte sie hektisch: „Oh … ja … ähm, sorry. Ich bin Anna … von nebenan.“ Mit der Hand deutete sie rüber zu ihrer Wohnungstür.

Ah, die Nachbarin. Lukas hatte mal von ihr erzählt. Aber ich konnte mich nicht daran erinnern, dass die beiden besonders dicke miteinander gewesen wären. Jedenfalls nicht so, dass es ihr komisches Verhalten erklärt hätte.

„Du bist sein Bruder, oder?“, fragte diese Anna, bevor mir selbst eingefallen war, was ich als Nächstes sagen sollte.

Ich nickte schwach und antwortete: „Ja, Felix.“

Anschließend breitete sich erneut Schweigen zwischen uns aus. Ich sah ihr an, dass ihr eine Frage auf der Zunge lag. Aber ich wollte sie nicht hören und schon gar nicht darauf antworten, denn wenn ich erst mal ausgesprochen hätte, was mit Lukas passiert war, dann wäre es plötzlich real und kein beschissener Albtraum mehr. Mit Martin darüber zu reden, war eine Sache. Aber warum sollte diese fremde Frau in einem solchen Traum auftauchen? Konnte sie nicht einfach wieder verschwinden? Ihr Nachbar war nicht da, Punkt, Ende der Durchsage. Wenn ich sie mir so anschaute, war ihr Lukas ohnehin wichtiger, als er sein sollte. Der typische Moment, bevor die armen Häschen erkannten, was für ein Weiberheld Lukas war, und sich Hoffnungen auf mehr machten. Andererseits … wieso hatte ich das Gefühl, dass sie mehr wusste, als sie eigentlich wissen konnte? Hatte mein Bruder in den letzten Wochen etwa eine wundersame Wandlung durchlebt und sich ausgerechnet von seiner Nachbarin bekehren lassen? Unter anderen Umständen hätte ich mich wahnsinnig darüber gefreut. Doch jetzt verkomplizierte es die Sache nur unnötig, denn ich wollte mich neben meiner eigenen Angst nicht auch noch mit ihrer auseinandersetzen. Aber ich konnte ihr ja schlecht die Tür vor der Nase zuschlagen.

Anna

Es fühlte sich an wie ein Tanz auf rohen Eiern, den ich hier mit diesem Felix veranstaltete. Er schien mich so schnell wie möglich wieder loswerden zu wollen, ohne etwas erklären zu müssen. Ich dagegen würde nicht eher gehen, bevor ich nicht erfahren hatte, was mit Lukas war, auch wenn ich gleichzeitig furchtbare Angst davor hatte.

„Ihm ist etwas passiert, oder?“, fragte ich leise.

Felix schluckte schwer und sah so mitgenommen aus, dass es eigentlich Antwort genug war. „Luka ist im Krankenhaus“, erklärte er zögernd, und alleine dieses liebevoll weggelassene S am Namen seines Bruders machte deutlich, wie viel er ihm bedeutete. „Er … Es war wahrscheinlich ein Überfall, sagt die Polizei.“

Nein! Nein, nein, nein! Bitte nicht!, schrie eine Stimme in mir, obwohl ich es die ganze Zeit geahnt, befürchtet, gewusst hatte.

„Also doch“, flüsterte ich entsetzt, mehr zu mir selbst als zu ihm. Aber natürlich hatte er es gehört und schaute mich überrascht an.

„Was heißt das, also doch?“

Ich wich seinem intensiven, fragenden Blick aus und wurde plötzlich von meinen Schuldgefühlen erdrückt. Wie sollte ich Felix nur erklären, was ich alles wusste und vor allem, warum ich nichts getan hatte? Dass ich es vielleicht hätte verhindern können, aber stattdessen mein Bauchgefühl in die Ecke getreten hatte und mit meiner Freundin ein paar Cocktails trinken gegangen war? Das konnte ich nicht. Nicht, solange ich nicht wusste, wie es Lukas ging und ob das eine überhaupt mit dem anderen zu tun hatte. Immerhin bestand weiterhin die Möglichkeit, dass es gar keine Verbindung zwischen dem Überfall und der Pöbeltruppe am Bahnsteig gab. Mit einem voreiligen Geständnis würde ich Felix nur unnötig verrückt machen und er mich völlig umsonst hassen.

„Ich habe davon gehört“, antwortete ich ausweichend und wagte es nicht, ihm dabei in die Augen zu gucken. „Eine Nachbarin hatte es erwähnt, direkt nachdem ich unten vor der Tür Lukas‘ Kollegen getroffen hatte. Er war auf der Suche nach ihm und …“ Ich geriet ins Stocken, sammelte mich kurz und erklärte weiter: „Wir haben zusammen versucht, im Internet mehr über den Überfall in Erfahrung zu bringen, weil wir beide seit Samstagabend nichts mehr von Lukas gehört und gesehen haben. Und die Personenbeschreibung passte dann genau auf ihn, deshalb … Ich hatte so ein komisches Gefühl, also ist Olli zur Polizei gegangen, um denen das zu melden. Und jetzt sagst du, dass es wirklich Lukas ist.“

Meine Stimme versagte den Dienst, und mir liefen ein paar dicke Tränen über die Wangen. Hastig wischte ich sie mit dem Handrücken weg, doch es kamen immer neue.

Felix stand währenddessen vollkommen reglos vor mir und schwieg, starrte an mir vorbei ins Leere und hatte anscheinend seinen eigenen Film vor Augen. Erst als ich mich bewegte und überlegte, ob ich besser gehen sollte, reagierte er und sagte überraschend: „Willst du vielleicht mit reinkommen?“

Unentschlossen schaute ich rüber zu meiner Wohnungstür, dann wieder zu ihm. Felix hielt meinen Blick fest, und ich meinte in seinem so etwas zu erkennen wie: Lass mich bitte nicht alleine!

Ich bekam eine Gänsehaut und nickte schwach.

Er machte einen Schritt zur Seite, und ich betrat zögernd den Flur. Dabei fiel mir sofort der Schlüsselbund auf der Kommode ins Auge. Wie von selbst griff meine Hand nach dem hölzernen Hai und strich sanft mit dem Finger darüber.

Ich spürte Felix‘ fragenden Blick auf mir und legte den Hai schnell zurück. „Tut mir leid“, erklärte ich beschämt. „Es ist nur … das ist so ein Insidergag zwischen Lukas und mir, weil er es nie schafft, seine Wohnung aufzuschließen, ohne mit dem Ding gegen die Tür zu poltern.“

Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, doch es war so unendlich traurig, dass es mir das Herz brach.

„Der Hai hat eine tiefere Bedeutung für ihn, oder?“, hakte ich vorsichtig nach.

Felix nickte stumm. Sein gequälter Gesichtsausdruck sprach Bände, deshalb ließ ich es damit gut sein. Vielleicht würde ich eines Tages erfahren, was es mit dem Schlüsselanhänger auf sich hatte. Und wenn nicht, dann nicht. Jetzt hatten wir jedenfalls andere Sorgen.

Wir gingen weiter ins Wohnzimmer, das vom Grundriss genauso beschaffen war wie meins, nur spiegelverkehrt und deutlich karger und männlicher eingerichtet. Wäre ich jetzt mit Lukas hier gewesen, hätte ich ihn bestimmt nach Hobbys und Lieblingsfilmen, -büchern, -musik und Ähnlichem gefragt. Aber die Situation war eine völlig andere, und Felix wirkte hier genauso fehl am Platz wie ich. Er deutete einladend aufs Sofa, blieb selbst jedoch stehen und schien nicht zu wissen, wohin mit sich und seiner Ruhelosigkeit. Meiner Meinung nach gehörte er ins Bett, so übernächtigt und erschöpft, wie er aussah. Aber ich konnte mir vorstellen, dass er in seiner Situation sowieso nicht schlafen konnte.

„Erzählst du mir, was mit Lukas passiert ist?“, fragte ich leise, als Felix keinerlei Anstalten machte, von sich aus zu reden.

„Frag lieber, was ihm nicht passiert ist“, antwortete er matt. „Luka ist von oben bis unten kaputt. Brüche, Prellungen, Quetschungen.“ Er hielt kurz inne, und mir entfuhr ein entsetztes: „Oh mein Gott“.

Felix starrte geistesabwesend aus dem Fenster und fügte hinzu: „Der oder die Täter müssen ganze Arbeit geleistet haben. So viel Gewalt. Und das bloß für so ein paar Euro und ein Smartphone.“

 

Ich zuckte innerlich zusammen. Nicht nur wegen der Verletzungen, sondern weil ich nach wie vor davon überzeugt war, dass es eben kein gewöhnlicher Raubüberfall war.

„Ist denn schon sicher, dass nicht doch etwas anderes dahintersteckt?“, gab ich zögernd zu bedenken.

„Was sollte das denn sein?“, meinte er wenig überzeugt. „Luka ist so ein Everybody’s darling, der keiner Fliege was zuleide tun kann. Und da soll ausgerechnet er sich mit jemandem schlagen? Eher quatscht er den Gegner mit seinem Charme unter den Tisch.“

Bei der Vorstellung musste ich beinahe lächeln, doch die Last meines schlechten Gewissens war stärker.

„Und wenn er an einen Gegner geraten ist, bei dem das nicht gewirkt hat?“

Felix drehte sich um und bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick.

„Ich meine ja nur“, erklärte ich schnell, bevor er auf die Idee kam, dass ich irgendetwas wissen könnte. „Olli hat zum Beispiel erwähnt, dass Lukas was mit einer Frau am Wickel hatte. Was, wenn da plötzlich ein eifersüchtiger Freund aufgetaucht ist? Oder er sich in etwas anderes eingemischt hat, was jemandem nicht gefallen hat?“

Wie zum Beispiel die Belästigung einer jungen Frau durch vier ekelhafte Typen an der Bahnhaltestelle, dachte ich im Stillen, während eine leise Stimme in mir drängte, es auch auszusprechen.

Doch sofort wurde sie von Felix übertönt, der sich stöhnend neben mir aufs Sofa fallen ließ und haareraufend sagte: „Ich weiß es nicht. Und ich hoffe nur, dass wir es überhaupt jemals erfahren werden und der oder die Täter dafür verknackt werden. Aber bis jetzt hat die Polizei keinen einzigen Anhaltspunkt.“

Er blickte wieder auf und starrte einen Moment geradewegs durch mich hindurch. „Das kann doch nicht sein, oder?“, überlegte er laut. „Da stehen ein paar große Wohnblocks drum herum, und keiner will etwas gehört oder gesehen haben? Wenn du mich fragst, haben die alle bloß weggeguckt, weil sie zu feige waren. Aber können sie dann nicht wenigstens jetzt eine Zeugenaussage machen?“

Er war zum Ende hin immer lauter geworden, und jedes Wort fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Denn ohne es zu wissen, hatte er damit auch mich gemeint. Betroffen presste ich die Lippen aufeinander, hin- und hergerissen, ob ich ihm von dem Vorfall an der Haltestelle erzählen sollte. Aber ehe ich eine Entscheidung treffen konnte, klingelte sein Handy.

Felix und ich zuckten gleichzeitig zusammen. Angespannt schaute er auf das Display, nicht bereit, weitere schlechte Nachrichten zu empfangen. Aber offenbar kannte er den Anrufer oder die Anruferin und entspannte sich schlagartig. Er ging ran, versprach, dass er gleich zurückrufen würde, und legte sofort wieder auf.

„Ein Freund“, sagte er knapp.

Wir sahen uns an, und sein Blick brachte mich völlig aus der Fassung. Das Blau seiner Augen war bei genauerem Hinsehen doch intensiver, als ich gedacht hatte, und erinnerte mich viel zu sehr an Lukas. Allerdings an einen ernsthaften, niedergeschmetterten Lukas, den ich so nie kennengelernt hatte. Und die Vorstellung, dass sein Strahlen und Funkeln dem Überfall zum Opfer gefallen und für immer erloschen sein könnten, zerriss mir das Herz. Ich hatte das Gefühl, es keinen Moment länger in Felix‘ Gegenwart auszuhalten – und schaffte es gleichzeitig doch nicht, mich von ihm abzuwenden.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir uns so angeschaut hatten, als Felix vollkommen unerwartet sagte: „Weiß Luka eigentlich, was er hier gerade verpasst?“

Ich blinzelte verwirrt und konnte mir auf diese Frage keinen Reim machen. „Wie meinst du das?“

„Was du für ihn fühlst“, erwiderte er mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass es mir die Sprache verschlug.

Wieso glaubte eigentlich jeder, über mein Gefühlsleben Bescheid zu wissen? Jeder, außer demjenigen, den es betraf. Ich presste die Lippen fest aufeinander und schüttelte den Kopf.

„Hätte mich auch gewundert“, meinte Felix.

Stirnrunzelnd bemerkte ich: „Du sprichst gerne in Rätseln, oder?“

Um seine Mundwinkel zuckte es, was mir eine klitzekleine Vorstellung davon verschaffte, dass auch der Ernsthaftere der beiden Brüder lächeln konnte.

„Nein, eigentlich nicht“, erklärte er. „Aber Luka ist … Ach, egal. Ist jetzt nicht wichtig.“

Natürlich machte er mich damit erst recht neugierig, doch ich hatte den leisen Verdacht, dass ich gar nicht wissen wollte, was Lukas seiner Meinung nach war.

Für einen kurzen Moment schwiegen wir uns gedankenverloren an, dann sagte ich leise: „Tja, also … Dann will ich mal gehen, damit du telefonieren kannst.“

Felix nickte, allerdings spürte ich ein leichtes Zögern dahinter. Unentschlossen stand ich auf, nahm meine Tasche und steuerte die Wohnungstür an. Draußen im Hausflur drehte ich mich noch einmal zu ihm um.

„Wenn was ist, weißt du ja, wo du mich findest.“ Mit einem einladenden Lächeln deutete ich rüber zu meiner Wohnung.

„Danke“, erwiderte er und sah dabei so verloren aus, dass ich ihn am liebsten umarmt hätte.

„Es wird bestimmt alles wieder gut“, versuchte ich ihn zu trösten, während ein kleines Teufelchen in mir empört erklärte: Was bist du doch für eine elende Heuchlerin!

Schnell verabschiedete ich mich von Felix und flüchtete rüber in meine eigenen vier Wände, aus Angst, dass er mir die Gedanken an der Nasenspitze ablesen könnte.

In der Stille und Einsamkeit meiner Wohnung bohrte sich die brutale Wahrheit schließlich ungehindert einen Weg in mein Bewusstsein: Lukas war wirklich dieser aufs Übelste zugerichtete, halb totgeprügelte junge Mann aus den Nachrichten. Und ich hätte es vielleicht verhindern können.

Verzweifelt ließ ich mich auf einen Küchenstuhl fallen und griff nach meinem Handy, um Nele anzurufen, doch ich erreichte nur die Mailbox.

Verdammt! Warum ging sie denn ausgerechnet jetzt nicht ran?!

Ich musste unbedingt mit jemandem reden, und die Nächstbeste, die mir einfiel, war meine Schwester. Kathi hörte sich mein unzusammenhängendes Gestammel und Geschniefe an und machte keinen Hehl daraus, wie erschüttert sie war. Erst als ich darauf beharrte, dass es bestimmt einen Zusammenhang zu der Pöbeltruppe am Bahnsteig gab, und erklärte, dass ich zur Polizei gehen musste, um eine Aussage deswegen zu machen, verfiel sie wieder in den Vernünftige-große-Schwester-Modus.

„Bist du dir sicher?“, bemerkte sie zweifelnd. „Warte doch erst mal ab. Die Polizei wird schon …“

„Worauf soll ich denn warten?“, unterbrach ich sie ungeduldig. „Die Polizei hat nichts. Gar nichts. Und wenn keiner etwas sagt, werden die Täter nie gefasst und lachen sich ins Fäustchen. Aber wenn erst einer den Anfang macht, und das kommt an die Öffentlichkeit, dann ziehen vielleicht andere nach und melden sich auch. Felix hat vollkommen recht. Da, wo es passiert ist, wohnen so viele Leute drum herum. Irgendjemand muss doch etwas davon mitbekommen haben.“

Ich hörte Kathi tief durchatmen und nachdenklich schweigen. „Ja“, meinte sie schließlich. „Einerseits hast du sicher recht. Aber andererseits … Hast du dabei mal an dich gedacht? Wenn es an die Öffentlichkeit kommt, wissen auch deine S-Bahn-Täter, dass sie verpfiffen wurden. Und dir ist schon klar, dass die wissen, wo sie dich finden, oder? So viele Leute waren an dem Abend nicht am Bahnsteig, wie du gesagt hast. Da werden die bestimmt ganz schnell drauf kommen, wer bei der Polizei geplaudert hat. Und wenn sie tatsächlich so böse sind, wie du denkst, möchtest du dann wirklich jeden Tag von dort mit der Bahn losfahren?“

„Aber …“, wollte ich protestieren, doch die Worte blieben mir auf halbem Weg im Hals stecken. Weil es genauso war, wie sie sagte, und das verursachte mir eine eisige Gänsehaut. Ich war auf die S-Bahn angewiesen, und zwar auf genau diese Haltestelle, denn die nächste war zu weit entfernt, um dorthin zu laufen. Was, wenn die Typen wirklich da auftauchten und sich an mich erinnerten? Andererseits … deshalb konnte ich doch nicht schon wieder nichts tun, oder?