Dieses viel zu laute Schweigen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Anna

Als ich an der Haltestelle ankam, stellte ich fest, dass meine S-Bahn wegen der Baustelle in der Nordstadt ausfiel und ich auf die nächste warten musste. Ich sollte mir wirklich angewöhnen, vorher online den aktuellen Fahrplan zu checken. Andererseits wäre ich Lukas nicht begegnet, wenn ich erst später losgegangen wäre …

Seufzend ging ich am Raucherbereich vorbei, lehnte mich ein Stück weiter an die Metallbrüstung und zog mein Handy aus der Tasche, um Nele eine Nachricht zu schicken, wann ich bei ihr sein würde.

Für einen Samstagabend war an der Haltestelle nicht viel los. Außer mir waren etwa eine Handvoll Leute da, und kaum einer kannte den anderen, wie es in unserer Wohngegend typisch war. In der Nähe des Ticket­automaten standen zwei ältere Frauen, die beinah ununterbrochen plapperten. Sie waren die Einzigen, die nicht alleine unterwegs waren, und sie redeten für die anderen drei gleich mit. Völlig unbeeindruckt davon tippte der Skater aus dem Nachbarhaus auf seinem Smartphone rum. Die Blondine aus dem Drogeriemarkt saß auf einer der Bänke und war in eine Zeitschrift vertieft. Und der Anzugträger mit dem Blumenstrauß starrte gedankenverloren vor sich auf den Boden und rauchte.

Plötzlich wurde es hinter mir unangenehm laut. Fünf Jugendliche oder eher schon junge Erwachsene kamen mit einem Bluetooth-Lautsprecher über die Straße und beschallten mit einem nervtötenden Gangsta-Rap und ihrem eigenen Gegröle den Bahnsteig. Vorneweg lief ein Mädchen bzw. eine junge Frau, hinter ihr vier Jungs, die lautstark johlten, sich über das Musik-Geplärre hinweg anschrien und sichtlich betrunken waren. Sie waren geschätzt Anfang zwanzig, trugen schwarze Kapuzenpullis und Hosen, die ihnen bis in die Kniekehlen hingen. Einer von ihnen hielt eine Schnapsflasche in der Hand.

Unwillkürlich kroch ich etwas tiefer in meine Jacke, als könnte ich mich dadurch unsichtbar machen. Solche Typen waren mir nicht geheuer, und ich hatte keine Lust, mich von denen blöd anquatschen zu lassen. Doch zum Glück steuerte die Gruppe direkt die andere Seite des Bahnsteigs an, ohne mich weiter zu beachten. Sie waren ganz auf die Frau vor sich fixiert, doch die schien auch genug von den Jungs zu haben und drehte sich gerade um, um ihnen mit wütend blitzenden Augen die Meinung zu geigen. Aber die jungen Männer lachten nur.

Das arme Mädel. In dem Alter alleine mit vier Typen unterwegs zu sein, war echt kein Spaß. Vermutlich war einer von denen ihr Freund oder zumindest Schwarm und musste sich jetzt betrunken vor seinen Kumpels beweisen, was ihr gehörig auf die Nerven ging. Wenn es so war, war dieser Kerl ein Idiot, denn mit ihren kupferroten Haaren war sie in meinen Augen wunderschön und hätte wahrscheinlich jeden haben können. Aber was ging es mich an?

Ich überließ die fünf ihrem Gezanke und Gegacker und zog mein Handy hervor, das soeben vibrierend den Eingang einer neuen Nachricht gemeldet hatte. Es war allerdings nicht wie erwartet Nele, sondern meine Tante, die eine Entscheidungshilfe brauchte, ob sie im Urlaub wirklich nach Spanien fliegen oder doch lieber in Deutschland bleiben sollte. Ich unterdrückte ein Stöhnen, beschloss, dass die Antwort Zeit bis morgen hatte, und steckte das Handy wieder weg.

Als ich anschließend aufblickte und über den Bahnsteig schaute, hatten die vier jungen Männer ihre weibliche Begleitung umringt, und der größte von ihnen rückte ihr ziemlich auf die Pelle. Na also. Hätte ich darauf wetten müssen, wer zu der Rothaarigen gehörte, hätte ich auf genau ihn getippt. Was immer sie an ihm fand, denn von meinem Freund hätte ich mir gewünscht, dass er seine Kumpels auf Abstand hielt. Aber offenbar waren sie dafür bereits zu betrunken. Wie zum Beweis reichten sie jetzt dem Mädchen die Schnapsflasche, doch sie schüttelte den Kopf und versuchte, einen der Typen von sich zu stoßen. Der Große direkt vor ihr hob eine Hand, um ihr beruhigend eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen.

Nun nimm sie schon in den Arm und bring sie von deinen blöden Freunden weg!, dachte ich im Stillen und wollte mich gerade von der Szene abwenden, als ich bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Sie ließ sich nämlich nicht in den Arm nehmen, stieß auch den Großen von sich und schien mit aller Macht einen Ausweg zu suchen.

Ich runzelte nachdenklich die Stirn und versuchte zu verstehen, was dort vor sich ging. Im selben Moment schaute die junge Frau in meine Richtung, und als sich unsere Blicke trafen, sah ich die Panik in ihren Augen. Schlagartig wurde mir klar, dass das keine normale Zänkerei unter Jugendlichen war, sondern dass sie überhaupt gar nichts mit den jungen Männern zu tun hatte und unfreiwillig in ihre Fänge geraten war.

Angespannt stieß ich mich von der Metallbrüstung ab. Das Herz schlug mir plötzlich bis zum Hals, und ich blickte Hilfe suchend über den Bahnsteig. Die anderen mussten doch auch merken, was da los war. Aber niemand rührte sich. Im Gegenteil. Der Skater hatte sich eher ein Stück vom Schauplatz entfernt. Die Quasselstrippen tuschelten mittlerweile nur noch miteinander. Die Frau aus der Drogerie hatte sich der Scheibe des Wartehäuschens zugewandt, um in deren Spiegelbild ihre Haare zu richten. Und der Anzugträger zündete sich die nächste Zigarette an und tat so, als linste er nicht ständig verstohlen zu der Szene rüber.

Na toll! Hallo?! Konnte bitte mal jemand dahin gehen und dem Mädchen helfen?

Ein Teil von mir drängte, dass ich selbst etwas tun sollte. Ein anderer zweifelte noch. Was, wenn ich die Situation falsch interpretierte und das Mädel doch zu den Jungs gehörte? Und überhaupt … Sollte ich mich hier vor allen zum Affen machen? Die Typen würden mich sowieso bloß auslachen und sich darüber freuen, ein weiteres Opfer gefunden zu haben. Und wer wusste schon, was sie dann mit mir anstellen würden?

Hin- und hergerissen schaute ich ein weiteres Mal in die Runde, während die junge Frau immer mehr in Bedrängnis geriet. Sie wurde von einem der Halbstarken zum nächsten herumgereicht und dabei eindeutig gegen ihren Willen angefasst.

Mist! Ich musste irgendetwas tun. Aber was? Und warum ausgerechnet ich? Die anderen waren schließlich auch noch da! Doch sie alle taten weiterhin so, als ginge sie das nichts an, und ich war mir sicher, dass ich ebenso wenig Hilfe zu erwarten hatte, wenn ich es wagen sollte, in die Szene einzugreifen. Also was tun?

Verstohlen blickte ich zur Anzeigetafel hoch, in der Hoffnung, dass jeden Moment die S-Bahn eintreffen und dem Spuk ein Ende bereiten würde. Doch das Display zeigte weitere vier Minuten Wartezeit an.

Ich schloss die Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sich die Situation wie durch Zauberhand plötzlich auflösen möge und alles wieder gut wäre. Warum musste das ausgerechnet jetzt passieren? Warum hier direkt vor meiner Nase? Und das nur, weil ich mich von Nele bequatschen lassen hatte, mit ihr auszugehen.

Nachdem ich die Augen wieder geöffnet hatte, sah ich auf der anderen Seite jemanden die Stufen zur Haltestelle hochkommen und keuchte erleichtert auf, als ich erkannte, dass es Lukas war. Er blickte den Bahnsteig entlang und grinste mir wie immer fröhlich entgegen. Doch ich war so aufgewühlt wegen der jungen Frau, dass die Schmetterlinge in meinem Bauch wie erstarrt in ihrer Höhle blieben. Statt ihn ebenfalls anzulächeln, schaute ich nervös rüber zu der Pöbeltruppe und wieder zurück zu Lukas. Ich wollte ihm mit den Augen zu verstehen geben, dass etwas nicht stimmte, und ihm entgegengehen, um zu erklären, was los war. Aber Lukas war meinem Blick bereits gefolgt und zögerte bloß den Bruchteil einer Sekunde, bevor er die Situation erfasst hatte und zielstrebig auf die fünf jungen Leute zusteuerte.

Diese Wendung der Ereignisse kam so unerwartet, dass ich ein paarmal blinzeln musste, um zu registrieren, dass ich die Szene nicht nur träumte. Ich hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass Lukas ebenfalls mit der Bahn zum Public Viewing fahren würde. Aber wie aus heiterem Himmel war er plötzlich hier, als wäre er sprichwörtlich von eben jenem geschickt worden. Genau so jemand wie er hatte an dieser Stelle gefehlt – einer, der nicht bloß zuguckte, sondern machte. Ich kannte ihn zwar gar nicht gut genug, um das beurteilen zu können, aber es passte zu dem romantisch-verklärten Bild, das ich von ihm hatte: der immer gut gelaunte Strahlemann, der beherzt eingriff, wenn jemand Hilfe brauchte, und wirklich böse werden konnte, wenn man seiner Liebsten etwas tun wollte. In diesem Fall war es zwar nicht seine Liebste, sondern eine fremde junge Frau, aber dieser ausgeprägte Beschützerinstinkt sprach für ihn. Außerdem war er ein großer, sportlicher Mann und würde allein dadurch diesen Möchtegern-Gangstern Respekt einflößen.

Ich atmete erleichtert auf und beobachtete fasziniert, wie Lukas sich selbstsicher vor der Truppe hinstellte, auf die junge Frau zeigte und etwas sagte. Leider konnte ich nicht verstehen, was, denn die Bluetooth-Box übertönte alles und plärrte irgendwas von „auf die Fresse hauen“. Die Jungs sahen aus, als hätten sie genau das am liebsten mit Lukas gemacht. Der Große reckte das Kinn und machte so ein Ey-Alter-was-willst-du-Gesicht. Auch seine Kumpels hatten sich vor Lukas aufgebaut und die junge Frau völlig vergessen.

Diese nutzte die Gelegenheit, um ein Stück in meine Richtung zu flüchten, und ich wollte zu ihr gehen und sie fragen, ob alles in Ordnung war. Doch ich konnte den Blick nicht von Lukas abwenden, der weiter mit ernster Miene auf die Typen einredete. Und das schien denen gar nicht zu gefallen.

Plötzlich fing der Anführer der Gang an, Lukas mit der Hand vor die Brust zu stoßen. Mein Puls schoss in die Höhe. Nein, nein, nein, nein, nein! So nicht! Die würden sich jetzt doch wohl nicht an Lukas vergreifen?! Von wegen Respekt! Er war vielleicht größer und kräftiger, aber die anderen waren zu viert.

 

Na und?, wisperte eine Stimme in mir. Mit den restlichen Wartenden zusammen bist du zu sechst, also tu was!

Ich blickte in die Runde und versuchte abzuschätzen, wer von den Anwesenden am ehesten bereit sein könnte, zu helfen und die anderen mitzuziehen, doch die Bilanz war ernüchternd. Sie erinnerten mich in diesem Moment an die drei berühmten Affen, die sich die Hände über Ohren, Mund und Augen hielten – nichts hören, sagen, sehen. Keiner rührte sich, als wären sie alle Teil eines festgefrorenen Standbilds. Außer dem rothaarigen Mädchen, das wie gelähmt vor Angst mit weit aufgerissenen Augen zusah, wie die vier Halbstarken ihren Retter attackierten.

Und jetzt?

Zögernd setzte ich einen Fuß vor den anderen, ohne genau zu wissen, was ich eigentlich tun wollte, als im selben Augenblick die Bahn an die Haltestelle heranfuhr und quietschend neben mir zum Stehen kam. Ich spürte, wie mir vor Erleichterung eine ganze Wagenladung Steine von der Seele fiel. Hätte mir vor einer Viertelstunde jemand gesagt, dass ich einmal so glücklich sein würde, dieses Graffiti-verschmierte und meist hoffnungslos überfüllte Vehikel vor mir auftauchen zu sehen, hätte ich ihn für vollkommen verrückt erklärt. Doch jetzt hätte ich den Lokführer vor Dankbarkeit umarmen können.

In dem naiven Glauben, dass damit schlagartig alles vorbei war, beobachtete ich, wie die junge Frau nach vorne lief und einstieg, so weit wie möglich entfernt von diesen miesen Typen. Auch die Affenbande, wie ich die anderen Wartenden im Stillen getauft hatte, flüchtete in irgendwelche versteckten Winkel.

Ganz so leicht war es für Lukas leider nicht, denn der Anführer der Pöbeltruppe war noch nicht mit ihm fertig. Ich sah, wie er weiter heftige Verwünschungen und drohende Gesten in seine Richtung schickte, und ich wollte lieber gar nicht wissen, was passiert wäre, wenn Lukas ihm den Rücken zugedreht hätte. Aber zum Glück hatten seine Kumpels anscheinend etwas vor, was ihnen wichtiger war als eine Prügelei, denn sie zogen ihn mit sich zu einer der hinteren Türen, und die Gefahr war gebannt. Gott sei Dank!

Meine Beine fühlten sich an wie Pudding, als ich ebenfalls in die Bahn stieg – gleichzeitig mit Lukas, und beide schauten wir im selben Moment rüber zum jeweils anderen Einstieg, sodass sich unsere Blicke trafen. Doch anders als sonst strahlten und funkelten seine Augen nicht, sondern der Ausdruck darin war undefinierbar und verursachte ein merkwürdiges Grummeln in meinem Magen. Lukas musste hundertprozentig mitbekommen haben, dass ich selbst zu feige gewesen war, um einzugreifen, und genau wie die anderen nur zugeguckt hatte, wie die Typen erst die junge Frau und dann ihn bedrängt hatten. Ich hätte zu gerne gewusst, was er jetzt über mich dachte. Und was immer es war, er hatte sicherlich recht damit. Aber … Ach, keine Ahnung. Es war ja zum Glück alles gut gegangen.

Trotzdem wäre ich Lukas am liebsten hinterhergelaufen, um es ihm zu erklären und ihm zu sagen, wie froh ich war, dass wenigstens er in der Situation eingegriffen hatte. Aber dafür waren wir zu weit voneinander entfernt. Stattdessen versuchte ich ihm mit den Augen ein wortloses: „Danke, dass du dich darum gekümmert hast“, rüberzuschicken, doch da war die Gelegenheit vorbei, und die Bahn hatte ihn verschluckt.

Ich ließ mich am anderen Ende des Waggons in den letzten freien Sitz fallen und bemerkte erst jetzt, wie sehr meine Hände zitterten. Das war definitiv nicht mein Tag heute. Und die Tatsache, dass die meisten Fahrgäste angetrunkene und johlende Fußballfans auf dem Weg zum Public Viewing waren, machte die Situation nicht besser.

Aufgewühlt zog ich mein Handy aus der Tasche und schrieb eine Nachricht an Nele.

Hast du noch was von dem Teufelszeug da? Ich könnte gerade einen Schluck vertragen.

Was ist passiert?, kam es von ihr zurück. Bist du in die falsche Bahn gestiegen? Das müsstest du als Reiseverkehrskauffrau besser können. Dahinter ein Zwinker-Emoji mit ausgestreckter Zunge.

Sehr witzig!, tippte ich grummelnd. Aber das wär mir sogar lieber als der Mist, den ich eben am Bahnsteig erlebt habe.

Was war denn los? Bist du okay?

Ja. Mir geht’s gut. Aber Lukas hätte es beinah erwischt. Erzähl ich dir gleich.

Oh nein! Jetzt machst du mich neugierig. Wo bist du denn gerade?

Schillerstraße. Bin in zehn Minuten da.

Gut. Bis gleich. Pass auf dich auf!

Ich steckte mein Handy wieder weg und schaute rüber zu der Pöbeltruppe. Ihre furchtbare Musik hatten sie in der Zwischenzeit zum Glück ausgemacht. Stattdessen redeten die jungen Männer aufgeregt aufeinander ein und mussten sich wahrscheinlich gegenseitig mit ihren Erzählungen übertrumpfen, wie sie es dem Kerl gezeigt hatten, der es gewagt hatte, ihnen den Spaß mit ihrem Opfer zu verderben. Was für ein paar Armleuchter! Wie gut, dass ich kein Wort von ihrem Gerede verstehen konnte.

Was wohl weiter vorne vor sich ging? Dummerweise konnte ich Lukas von meiner Position aus nicht sehen, obwohl er als einer der wenigen Männer ohne Fußball-Trikot eigentlich leicht auffallen müsste. Tat er aber nicht.

Schließlich siegte die Neugier, also opferte ich meinen Sitzplatz und tauschte ihn gegen einen Stehplatz an der Tür ein. Dennoch dauerte es einen Moment, bis ich meinen Nachbarn entdeckt hatte bzw. zuerst das rothaarige Mädchen neben ihm. Sie wischte sich gerade über die Augen und nickte, während er ihr eine Hand auf die Schulter gelegt hatte, etwas sagte und sie damit wenigstens kurz zum Lachen brachte. Unwillkürlich musste ich lächeln. Das war Lukas, der Sonnenschein vom Dienst. Man konnte direkt dabei zusehen, wie ihm ihr Herz zuflog, und ich hoffte bloß, dass sich dieses Teenie-Mädchen nicht gleich hoffnungslos Hals über Kopf in ihn verliebte. Ich an ihrer Stelle hätte es bestimmt getan, und in diesem Augenblick wünschte ich mir beinah, die Typen hätten es auf mich abgesehen gehabt und ich wäre diejenige, die sich jetzt von Lukas trösten lassen durfte. Dann sah ich wieder die Szene am Bahnsteig vor mir, und mir lief es kalt den Rücken runter. Nein, vielleicht doch lieber nicht.

Gedankenverloren schaute ich aus dem Fenster und träumte vor mich hin, während die Bahn ruckelnd zum Stehen kam, Leute ausspuckte und andere wieder einsammelte. Draußen auf dem Bahnsteig entdeckte ich plötzlich das rothaarige Mädchen, das zielstrebig auf einen jungen Mann zusteuerte. Ich beobachtete lächelnd, wie dieser die Arme ausbreitete, sie an sich zog und küsste. Ja, der passte definitiv besser zu ihr als einer dieser Pöbeltypen, und ich freute mich, dass da jemand war, der sich nach dem Schreck um die junge Frau kümmerte. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass Lukas jetzt alleine da vorne saß. Alles in mir drängte, zu ihm zu gehen. Doch die Bahn war mittlerweile unglaublich voll, und ich war kaum vorwärtsgekommen, als bereits die nächste Haltestelle erreicht war und Lukas aufstand und zur Tür ging.

Bedauernd schaute ich ihm hinterher, wie er umringt von einer Horde Fußballfans aus der Bahn stieg und am Waggon entlang Richtung Berliner Platz davonging. Ich beschwor ihn im Stillen, zu mir raufzugucken, und tatsächlich hob er einen Moment später den Kopf, sah mich und lächelte mir zu, genauso strahlend wie eh und je. Er hob grüßend die Hand und war kurz darauf aus meinem Blickfeld verschwunden.

Mühsam versuchte ich, die dummen Schmetterlinge im Bauch wieder zu beruhigen, aber die blöden Viecher hatten ihren eigenen Willen und kribbelten weiter. Ich war erleichtert, dass Lukas mir mein Verhalten am Bahnsteig nicht übel genommen hatte. Und trotzdem blieb ein nagendes Gefühl, dass ich es ihm erklären sollte. Dass ich ihm und auch der jungen Frau helfen wollte, aber keine Ahnung hatte, wie. Vielleicht sollte ich einfach aussteigen, um wenigstens kurz mit ihm zu reden. Die zwanzig Minuten, bis die nächste Bahn kam, würde Nele schon verkraften.

Mit plötzlicher Entschlossenheit drehte ich mich um und versuchte, an einem Kinderwagen vorbeizukommen, doch es war zu spät. Ehe ich am Ausstieg angekommen war, fing es an zu piepen, die Türen gingen zu, und die Bahn fuhr weiter. Durch das Fenster sah ich, wie Lukas die Straße überquerte, anschließend blieben mir nur meine Was-wäre-wenn-Gedanken. Was, wenn ich es geschafft hätte, rechtzeitig zur Tür zu kommen? Was, wenn er gemerkt hätte, dass ich bloß seinetwegen ausgestiegen war? Hätte er dann vielleicht erkannt, dass ich mehr von ihm wollte als eine gute Nachbarschaft? Und was, wenn er dabei festgestellt hätte, dass es ihm genauso ging? Oder eben nicht?

Oh Mann! Dieser Kerl war nicht gut für meinen Seelenfrieden. Nele hatte recht, ich musste etwas tun. Entweder würde dadurch diese blöde Sehnsucht nach Lukas gestillt werden oder ich würde krachend auf dem Boden der Tatsachen landen, wüsste dann aber wenigstens, woran ich war. Dumm nur, dass ich anschließend keine Möglichkeit hatte, ihm aus dem Weg zu gehen. Wie auch, wenn man Tür an Tür wohnte? Gar nicht so einfach, das Ganze.

Als ich an der nächsten Haltestelle ausstieg, wurde ich am Bahnsteig von Nele empfangen und in eine stürmische Umarmung gezogen.

„Ich dachte, ich hole dich lieber ab“, plapperte sie munter drauflos und hakte sich bei mir ein. „Nicht, dass dir wieder etwas Blödes passiert. Also erzähl! Was war da los?“

Ich war so froh, sie zu sehen, und atmete erleichtert auf.

„Da waren vier Typen, die eine junge Frau belästigt haben“, fing ich mit meinem Bericht an und drehte mich um, um mich zu vergewissern, dass die Idioten weiterfuhren und sich nicht als Nächstes hier an der Haltestelle ein neues Opfer suchten. Aber sie waren nicht mehr da, und an dem Platz, wo sie bis vorhin gesessen hatten, hatte sich in der Zwischenzeit eine Familie mit zwei Kindern niedergelassen. Ich überlegte kurz, ob ich mich in der Reihe vertan hatte, doch ich war mir hundertprozentig sicher, dass es genau dieser Platz gewesen war.

Nachdenklich runzelte ich die Stirn und warf einen prüfenden Blick über den Bahnsteig. Die Pöbeltruppe war nirgends zu sehen. Was einerseits gut war. Andererseits bedeutete das, dass sie an derselben Haltestelle wie Lukas ausgestiegen sein mussten, denn davor hatten sie definitiv im Waggon gesessen.

„Was ist?“, fragte Nele, als ich plötzlich stehen blieb.

„Ich weiß nicht“, murmelte ich unsicher, schaute nach rechts und links und scannte mit den Augen die zahlreichen Gesichter um mich herum ab, aber die Typen waren nicht unter ihnen. In Kurzform versuchte ich meiner Freundin zu erklären, was passiert war und dass ich ein mulmiges Gefühl hatte, weil die zwielichtigen jungen Männer mit Lukas zusammen ausgestiegen waren.

„Ach“, meinte Nele in ihrer unbekümmerten Art und lachte sogar dabei. „Das heißt gar nichts. Am Berliner Platz ist das Public Viewing. Da muss man sich, glaub ich, eher Gedanken um die Männer machen, die nicht dort aussteigen.“

Ich verzog das Gesicht zu einem halbherzigen Lächeln und versuchte, mich zu beruhigen. Sie hatte bestimmt recht damit, dass es bloß Zufall war, auch wenn mir dieser überhaupt nicht gefiel.

„Na komm!“ Nele stupste mich aufmunternd in die Seite. „Was du brauchst, ist etwas zu trinken und ein bisschen Ablenkung, dann sieht die Welt wieder anders aus. Sieh es doch mal so: Du hast jetzt einen super Grund, morgen ganz beiläufig bei Lukas anzuklingeln und zu fragen, wie es ihm geht nach der Geschichte.“

Sie grinste mich dermaßen selbstzufrieden an, dass ich lachen musste. „Du kannst es nicht lassen, oder?“

„Nö. Also, was meinst du? Auf ins Old Chap?“

Ich nickte langsam, rührte mich jedoch keinen Zentimeter von der Stelle, denn so leicht konnte ich den Gedanken an Lukas und die vier Typen nicht abschütteln.

„Ach, Anna-Maus“, sagte Nele sanft. „Ich kann ja verstehen, dass das eine Scheißsituation war. Aber Lukas ist ein großer Junge, und am Berliner Platz ist es rappelvoll. Was sollte ihm da passieren?“

Ich stieß ein bitteres Lachen aus, schließlich hatte ich vorhin selbst erst erlebt, dass es nichts zu bedeuten hatte, wie viele Leute da waren, wenn alle nur wegguckten und niemand reagierte. Schlagartig stieg heiße Scham in mir auf, weil ich ebenfalls nicht gehandelt hatte.

„Was hättest du eigentlich an meiner Stelle gemacht?“, wollte ich von meiner Freundin wissen, woraufhin sie nachdenklich die Unterlippe zwischen die Zähne zog.

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich den anderen Männern an der Haltestelle einen Tritt in den Hintern gegeben, damit sie etwas tun. Oder irgendwie so was.“

Tja, das hätte ich wohl auch tun sollen. Aber jetzt war es zu spät.

 

„Hast du seine Nummer nicht?“, fragte Nele in meine Gedanken hinein. „Dann ruf Lukas doch an und frag ihn, ob alles okay ist. Wenn das grad so übel war, wie du sagst, wird er verstehen, dass du dir Sorgen machst, und sich garantiert auch ein bisschen gebauchpinselt fühlen.“

„Schön wär’s. Aber woher sollte ich seine Nummer haben?“

„Mein Gott!“, stöhnte sie. „Ihr seid solche Trantüten! Ich an deiner Stelle hätte längst Nummern und Wohnungsschlüssel ausgetauscht und mich zum Blumengießen angeboten. Könnte ja immer mal ein Notfall sein, oder nicht?“

„Sagt die, die selbst den Klempner kaum ohne polizeiliches Führungszeugnis in ihre Wohnung lässt“, erwiderte ich skeptisch.

„Hallo?!“, gab Nele empört zurück. „Wir reden hier über deinen Lukas und nicht über einen völlig fremden, augenscheinlich notgeilen Testosteron-Strotz im Blaumann.“

Ich grinste sie kurz an und brütete anschließend weiter schweigend vor mich hin.

„Hey“, redete Nele beruhigend auf mich ein. „Dem geht’s bestimmt gut. Und wenn er wüsste, was in deinem Köpfchen grad so vor sich geht, wäre er ganz schön blöd, wenn er dich nicht sofort schnappen und dir deine ganzen Grübeleien einfach wegvö… äh … ich meine, wegküssen würde.“

Ob ich wollte oder nicht, ich musste lachen. „Du hast echt einen Knall.“

„Ich weiß. Und wenn du mich fragst, gibt es jetzt drei Möglichkeiten. Erstens: Wir gehen ins Old Chap, machen uns keinen Kopf mehr um Dinge, die eh nicht so sind wie du glaubst, und haben einen schönen Abend. Zweitens: Wir fahren zu dir nach Hause, igeln uns ein und erzählen uns gegenseitig Horrorgeschichten, bis Lukas nach Hause kommt und unsere panischen Schreie hört. Oder drittens: Wir fahren zum Berliner Platz und gucken nach, ob es ihm gut geht. Aber dir ist hoffentlich klar, dass eine Nadel im Heuhaufen nichts dagegen ist.“

Ich schaute sie an und wusste, dass meine Freundin ohne Weiteres auf ihre Chance mit dem Mann vom Postschalter verzichtet hätte, um genau das zu tun. Doch dann stellte ich mir vor, wie wir beim Public Viewing aufkreuzten und Lukas und seine Kollegen sich über meinen Auftritt als seine Babysitterin schlapplachen würden. Ganz abgesehen davon, dass wir ihn erst mal unter Tausenden Leuten finden mussten.

Innerlich schüttelte ich über mich selbst den Kopf und überlegte, was Lukas sagen würde, wenn er wüsste, was gerade in mir vorging. Auslachen würde er mich sicher nicht, dafür war er viel zu charmant. Aber ich konnte direkt vor mir sehen, wie seine Augen amüsierte Funken sprühten.

Also gut, rief ich mich selbst zur Ordnung. Mach dir nicht in die Hose, Anna! Der kommt schon klar und hat wahrscheinlich längst das erste Bier intus, während du dich hier von deinen Hirngespinsten veräppeln lässt.

Ich atmete tief durch und schaute meine Freundin an. „Okay“, sagte ich. „Lass uns ins Old Chap gehen. Ich brauche jetzt dringend einen Schnaps oder so was.“

Nele grinste zufrieden, hakte sich bei mir ein und dirigierte mich Richtung Ausgang. „So gefällst du mir schon besser.“

Am Ende wurde der Abend trotz allem unerwartet schön. Nachdem Nele mir gestanden hatte, dass ihr Traumprinz bloß bemerkt hatte, ob es sein könnte, dass er sie neulich im Old Chap gesehen hatte, glaubte ich kaum, dass er deshalb ausgerechnet heute hier auftauchen würde. Aber er kam tatsächlich kurz nach uns in die Kneipe und hatte zudem einen sehr sympathischen Freund mit dabei. Leon war zwar in festen Händen und ohnehin nicht unbedingt mein Typ, aber wir hatten eine Menge Spaß miteinander, während Nele und ihr Postmann baggerten, was das Zeug hielt. Timm schien völlig hingerissen von ihr zu sein und vergaß immer öfter, nebenbei einen Blick auf den Fernseher in der Ecke zu werfen, auf dem das Fußballspiel übertragen wurde.

Ich grinste vergnügt in mich hinein, als ich feststellte, dass Nele auch keinen Exoten erwischt hatte. Wobei ihm meine Freundin für den Moment wirklich wichtiger zu sein schien als das Spiel. Aber ich glaubte mich zu erinnern, dass es damals bei mir und Jan ebenso gewesen war, bevor ich nach und nach immer weiter ins Abseits abgeschoben wurde und die Sache beendete.

Um uns herum wurde laut gejubelt, als feststand, dass die deutsche Mannschaft das Spiel gewonnen und den Einzug ins Achtelfinale geschafft hatte. Auch Timm ließ sich davon mitreißen, zog meine verblüffte Freundin übermütig in seine Arme und wirbelte sie einmal in die Runde. Ihr Gesicht war goldwert. Sie strahlte mich glücklich an, und ich versuchte mühsam, mich für sie zu freuen und nicht daran zu denken, wie gerne ich selbst in diesem Moment jemanden an meiner Seite gehabt hätte. Lukas zum Beispiel. Sehnsüchtig nippte ich an meinem Cocktail und fragte mich, wie es ihm wohl gerade ging beim Rudelgucken.

Gegen ein Uhr verabschiedete ich mich von den anderen und gönnte mir ein Taxi für den Heimweg. Mein Bedarf an Bahnfahrten war für heute mehr als gedeckt. Außerdem war ich müde und angetrunken und wollte so schnell wie möglich ins Bett.

Draußen vor dem Haus schaute ich an der Fassade hoch zu Lukas‘ Wohnung in der Hoffnung, dass dort Licht brannte. Mein alkoholisiertes, wagemutiges Ich hätte dann vielleicht bei ihm geklingelt, um sich zu vergewissern, dass bei ihm alles in Ordnung war. Doch hinter seinen Fenstern war alles dunkel. Kein Wunder, nachts um halb zwei. Wahrscheinlich schlief er schon. Oder er war nach dem Public Viewing mit seinen Kollegen weiter durch die Stadt gezogen und machte das Nachtleben unsicher, denn Lukas war eigentlich nicht der Typ, den ich mir am Samstagabend alleine zu Hause auf dem Sofa vorstellen konnte.

Seufzend schloss ich die Haustür auf, stieg die zwei Stockwerke hoch zu meiner Wohnung und fiel von den Cocktails benebelt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Aus diesem wurde ich am nächsten Morgen unsanft herausgerissen, als das Handy klingelte und meine Schwester anrief. Im selben Moment, in dem ich ihren Namen auf dem Display las, fiel mir siedendheiß ein, dass ich etwas vergessen hatte. Kathi und ihr Mann waren heute zur Geburtstagsfeier seines Chefs eingeladen, und ich sollte den kleinen Flo hüten. Schon vor Wochen hatten wir verabredet, dass mein Schwager mich abholen und ich mich bei ihnen zu Hause um mein Patenkind kümmern würde.

Mist! Nele hatte mich gestern so mit ihrem blöden Old Chap überrumpelt, dass ich es völlig verschwitzt hatte. Also hieß es Beine in die Hand nehmen, denn Mark war bereits unterwegs und würde spätestens in einer halben Stunde bei mir sein.

Zwischen Dusche, Anziehen und einer schnellen Tasse Kaffee rief auch noch Nele an, die mir unerträglich glücklich jedes einzelne Detail über ihren Timm erzählen wollte. Ich vertröstete sie auf später und wappnete mich innerlich für den anstrengenden Tag mit einem extrem munteren Dreijährigen. Zum Glück hatte ich gestern Abend nicht allzu viel getrunken, sonst hätte ich jetzt ein echtes Problem.

Ich hatte gerade den letzten Schluck Kaffee runtergeschluckt und räumte meine Tasse in die Spüle, als es bereits an der Tür klingelte.

„Bin unterwegs!“, rief ich Mark durch die Gegensprechanlage zu, schnappte mir meine Sachen und machte mich auf den Weg.

Im Hausflur wanderte mein Blick wie von selbst rüber zur Nachbarwohnung, und ich fragte mich, ob Lukas wohl auch schon wach war. Flüchtig tauchte eine Erinnerung an die Szene vom Bahnsteig in meinem Kopf auf. Doch im Großen und Ganzen hatte ich den Vorfall bereits verdrängt und als ein kleines, unbedeutendes Zwischenspiel abgehakt. Stattdessen rief ich mir lieber Lukas‘ strahlendes Lächeln vor Augen, und wie auf Knopfdruck waren auch die Schmetterlinge wach, um mit mir in den Tag zu flattern.