Kunstmord

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Petra A. Bauer



Kunstmord



Kappes 11. Fall



Kriminalroman



Jaron Verlag





Petra A. Bauer, geboren 1964, lebt als freie Journalistin und Autorin in ihrer Geburtsstadt Berlin. Neben Krimis, Kinder- und Jugendbüchern schreibt sie Ratgeber, Fachartikel und Kolumnen zum Themenbereich Familie, Frauen und Lifestyle. Sie gehört sowohl der Vereinigung deutschsprachiger Krimiautorinnen an, den «Mörderischen Schwestern», als auch dem «Syndikat», der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur. In der Reihe «Es geschah in Berlin …» des Jaron Verlags erschien von ihr 2009 «Unschuldsengel». (www.writingwoman.de)



Originalausgabe



1. Auflage 2010



© 2010 Jaron Verlag GmbH, Berlin



1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH



Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.





www.jaron-verlag.de





Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin



ISBN 9783897730106




Inhaltsverzeichnis





Cover







Titelseite







Impressum







Widmung







Zitat







EINS







ZWEI







DREI







VIER







FÜNF







SECHS







SIEBEN







ACHT







NEUN







ZEHN







ELF







ZWÖLF







DREIZEHN







VIERZEHN







FÜNFZEHN







SECHZEHN







SIEBZEHN







ACHTZEHN







NEUNZEHN







ZWANZIG







Es geschah in Berlin …







Berliner Mauerkrimis







Für meine Familie, die auch beim 14. Buch

 wieder sehr viel Geduld bewiesen hat.





Wer heutzutage Karriere machen will, muss schon ein bisschen Menschenfresser sein.



Salvador Dalí




EINS



ER SCHLICH SICH an das Kind an. Wenn Kinder alleine waren und in Gedanken versunken spielten, war der Moment perfekt. Dann konnte er sie am besten einfangen.



Einige schnelle Linien reichten aus, um festzuhalten, was sie gerade taten. Bewegten sie sich dann, konnte er einige Details erhaschen, die Augenform zum Beispiel, ihren Gesichtsausdruck beim Anblick einer schleimigen Schnecke auf ihrer Hand. Rasch war das Skizzenblatt gefüllt, mit Anmerkungen versehen zu Lichteinfall und Farben. Wenn das Kind ihn genug faszinierte, bannte er es in seinem Zimmer auf eine Leinwand oder einen großen Bogen Aquarellpapier.



Manchmal wurden die Kleinen auf ihn aufmerksam und kamen schüchtern näher. Manche liefen wie zufällig vorbei, und wenn sie mit einem Seitenblick die Zeichnung sahen, wiederholten sie die herbeigeführten Zufälle, bis er sie mit einem Lächeln ermunterte, näher zu treten. Die Mutigen stellten ihm Fragen, so wie er selbst damals, als er die Maler am Montmartre gesehen hatte, wie sie mit ihren Leinwänden am Place du Tertre standen. Manche malten und zeichneten, während die fertigen Werke auf Käufer warteten.



Das kleine Mädchen war im Buddelkasten aufgestanden und klopfte sich den Sand von seinem kurzen Kleidchen. Das weiße Unterhöschen blitzte beim Nach-vorne-Beugen hervor. Es schien das Mädchen nicht zu stören, dass die Kniestrümpfe heruntergerutscht waren. Unschlüssig sah es erst zu den Müttern hinüber, die auf einer Parkbank saßen, außerhalb von Victors Sichtweite, durch einen Busch verdeckt. Doch er wusste, dass die Mütter sich dort immer angeregt unterhielten, während die Kleinen im Sandkasten waren und die größeren Geschwister im Park Fangen spielten. Niemand achtete darauf, dass das Mädchen sich umdrehte und geradewegs auf Victor zulief.



Es beobachtete ihn zunächst aus sicherer Entfernung. Victor wusste, dass es wichtig war, in diesem Stadium nicht aufzublicken, sondern weiterzuarbeiten, wenn er es nicht verscheuchen wollte. Langsam kam es näher, bis es direkt an sein Bein gelehnt stand und sich über das Bild beugte.



«Tatze!» Ein sandverkrusteter Finger tippte direkt auf die Zeichnung. Einige Sandkörner krümelten auf das Papier. Victor lächelte. Er wusste, dass Kinder Katzen liebten, daher hatte er eine neue Zeichnung auf billigerem Papier begonnen, als das Mädchen auf ihn zugelaufen war.



«Helda auch Tatze maln!» Energisch deutete der blondgelockte Engel auf Victors Bleistift.



Victor verstand. Er legte den Block beiseite und hob das Mädchen auf seinen Schoß. Dann platzierte er ein neues Blatt im Block zuoberst, legte den Block auf das kurze Spielkleidchen und drückte dem Mädchen den Stift in die Hand.



Die Kleine sah ihn an und grinste. «Maln!»



«Na, dann los!»



Vorsichtig setzte sie den Stift in die Mitte des Papiers und zog eine krakelige Linie. «Tatze!»



Victor nahm ihre Hand in seine. «Schau, da fehlt noch der Kopf!»



Gemeinsam malten sie einen Kreis an ein Ende der Linie.



«Und die Beine. Eins, zwei, drei … und vier, siehst du?» Die Kleine kicherte und rief fordernd: «Wanz!»



«Stimmt, du hast vollkommen recht. Was wäre eine Katze ohne Schwanz?» Schwungvoll führte er ihre Hand, bis ein verschnörkelter Katzenschwanz am anderen Ende der krakeligen Linie entstanden war.



Die Kleine lachte wieder, bis ein ohrenbetäubender Schrei durch den Park gellte: «Helga! Um Gottes willen!»



Eine junge Frau in taubenblauem wadenlangem Kleid rannte quer durch den Sandkasten, ungeachtet dessen, dass ihre Schleifenpumps dafür nicht geeignet waren. «Lassen Sie sofort mein Kind in Ruhe!»



Von ihren Rufen alarmiert, folgten drei weitere Mütter mit wehenden Röcken wie ein Haufen aufgescheuchter Hühner. Sie begannen auch sofort zu gackern: «Schämen Sie sich denn überhaupt nicht?»



«Wer weiß, was er dem Kind angetan hätte, wenn wir nicht rechtzeitig gekommen wären!»



Die Mutter riss das Kind von Victors Schoß. Der Zeichenblock fiel zu Boden.



Die Kleine fing an zu weinen, und die Mutter redete auf sie ein: «Helga, wie oft habe ich dir schon gesagt, du darfst nicht mit bösen Onkels mitgehen!»



«Nicht auszudenken, was hätte passieren können!», mischte sich eine der anderen Mütter mit hochrotem Kopf ein.



«Vielleicht passen Sie beim nächsten Mal ja besser auf Ihr Kind auf!», gab Victor trotzig zurück. «Ich verstehe überhaupt nicht, weshalb Sie so ein Geschrei veranstalten. Ich bin Künstler! Die Kleine hat mir beim Zeichnen zugeschaut, und dann wollte sie selbst eine Katze malen – sehen Sie?»



Victor hob den Block auf und zeigte den aufgebrachten Frauen, was die kleine Helga mit seiner Hilfe gezeichnet hatte.



Doch die Frauen ließen sich nicht beruhigen. «Ja, so fängt es immer an! Und als Nächstes hätten Sie gesagt: ‹Ich habe ein kleines Kätzchen zu Hause. Magst du es dir ansehen?› Und dann hätten Sie wer weiß was mit dem armen Ding gemacht. Wir wissen, wie so was läuft!»



«Ach, ist das so? Wie vergiftet muss Ihr Gemüt sein, wenn Sie stets nur das Schlimmste annehmen? Wenn ich als Kind den Künstlern zugeschaut habe, dann haben sie mir nur gezeigt, wie sie malen. Hätte mich jedes Mal jemand weggezerrt, so wäre ich heute Lagerarbeiter oder Straßenbahnschaffner!»



Nun hatte auch Victor einen roten Kopf bekommen. Es kam nicht häufig vor, dass er sich aufregte, weil er sich normalerweise von Menschen fernhielt, so gut dies in seinem Beruf eben ging. Das war das Schöne an Kindern: Sie machten kein großes Geschrei um selbstverständliche Dinge.

 



Doch die Frauen hörten ihm nicht zu. «Wir sollten die Polizei rufen! Wer weiß, wie viele unschuldige Kinder ihm schon zum Opfer gefallen sind! Stand da nicht kürzlich etwas in der Zeitung?»



Zeit, den Rückzug anzutreten, dachte Victor und raffte seine Zeichenutensilien zusammen. Das Krakelbild wollte er der kleinen Helga schenken, doch die Mutter schlug es ihm aus der Hand.



«Meine Tochter wird nichts von einem Perversen annehmen!» Da drehte Victor sich um und ging, während die Frauen hinter ihm sich nicht einigen konnten, was nun als Nächstes zu tun sei. Er hörte ihr Gezeter noch, als er längst die Hasenheide verlassen hatte.



Als er seine Dachkammer in der Steinmetzstraße betrat, atmete er erst einmal tief durch, um sich wieder zu beruhigen. Der Raum war nur kärglich eingerichtet. Unter der Dachschräge stand sein Bett. An einem winzigen Tischchen daneben pflegte er sein Essen einzunehmen, das er in einer Kochnische neben der Tür zubereitete. Ein breiterer Holztisch an der gegenüberliegenden Wand war im hinteren Bereich vollgestellt mit Farben, Wassergläsern, Pinseln, Terpentin. Der Tisch war über und über mit Farbklecksen bedeckt. Daneben, genau unter dem Dachfenster, stand eine hölzerne Staffelei mit einem unvollendeten Ölbild. Es zeigte einen kleinen Jungen, der in die Betrachtung eines Schmetterlings auf seiner Patschhand versunken war. Victor wollte später noch mehr Tiefe in den Hintergrund bringen, einige Lichtpunkte und dunklere Bereiche hinzufügen.



Damit war die Kammer auch schon voll, doch das störte ihn nicht. Hier war seine Zuflucht. Wenn er die Tür hinter sich schloss, war er sicher vor hysterischen Müttern und anderen Unbilden.



Was war das nur für eine Welt? Damals, am Montmartre, hatte niemand etwas dagegen gehabt, wenn er die Künstler beobachtete und wenn diese ihm etwas erklärten. Er hatte dabeigestanden, den Kopf in den Nacken gelegt und ihnen ins Gesicht gesehen. So konzentriert sahen sie aus und gleichzeitig zufrieden mit sich und der Welt. Er konnte ihre Nasenhaare sehen und die Falten um die Augen, die sich vom vielen Zukneifen beim Betrachten ihrer Kunst gebildet hatten.



Natürlich hatten ihn auch die Bilder fasziniert, damals, als er mit seinem Vater Paris besucht hatte, doch noch mehr hatte ihn die Mimik der Künstler beeindruckt. Ihr Anblick hatte sich ihm so tief ins Gedächtnis gebrannt, dass viele seiner Motive noch heute die Künstler vom Montmartre waren.



Victor ging zum großen Tisch hinüber und betrachtete die Zeichnungen, die er an diesem Tag angefertigt hatte. Er strich sich durch das Haar, wie um es zu glätten, doch die dunklen Wellen widerstanden dem Versuch. Einige Studien hatte er fertig, doch sie überzeugten ihn nicht recht. Kein Motiv war dabei, das er für würdig befunden hätte, auf einer großen Leinwand verewigt zu werden.



Es gab sie häufig, diese mittelmäßigen Tage, an denen nichts recht glücken wollte, an denen der Funke nicht übersprang. Umso glückseliger tauchte er in das Gefühl ein, das ihn dann und wann übermannte, wenn er merkte, dass das Bild, das er begonnen hatte, ein ganz besonderes zu werden versprach – was es dann meist auch wurde.



Doch was nützten all seine Bemühungen, wenn nur eine Handvoll Menschen diese Bilder je zu sehen bekamen? Die Zeiten waren schlecht, und er hatte kaum Ausstellungen. Von der Berliner Künstlerszene hielt er sich fern, denn er hielt diese Leute für arrogant und aufgeblasen. Er war allenfalls mal auf Sichtweite an einen von ihnen herangekommen, und das genügte ihm völlig. Er hatte nichts mit ihnen gemeinsam, das glaubte er auch aus der Entfernung zu erkennen.



Er, Victor Reimer, war stolz darauf, dass er niemals eine Kunstschule von innen gesehen hatte. Alles, was er konnte, hatte er sich selbst beigebracht. Sein Vater hatte ihn, als er nicht einmal sechzehn war, dazu gedrängt, eine Lehre als Lagerverwalter bei Opel in der Bessemerstraße zu machen, der Firma, in der er selbst als Einkäufer arbeitete. Victor wäre gerne weiter zur Schule gegangen, doch der Vater hatte darauf bestanden, dass er endlich Geld verdiente. Als Lehrling bekam er zwar nicht viel, aber doch genug, damit der Vater beruhigt war. Immerzu machte er sich Sorgen. Victor hatte ihn damals zu einem Freund sagen hören: «Was soll denn aus dem Jungen werden, wenn mir etwas zustößt? Sie schicken ihn ins Waisenhaus, wenn er nicht für sich selbst sorgen kann!»



In ein Waisenhaus wollte er keinesfalls. Er hatte Oliver Twist gelesen, und die Vorstellung, für eine Woche in einen Kohlenkeller gesperrt zu werden, wenn man sich im Heim nicht den Anordnungen fügte, erfüllt ihn mit Angst. Also gab er widerwillig dem Drängen seines Vaters nach, verschob fortan Kisten und Kästen bei Opel und katalogisierte Waren.



Er hasste diese Arbeit. Für körperliche Anstrengung war er nicht geschaffen. Schon als Kind war er dürr, blass und kränklich gewesen, und das hatte sich auch später nicht geändert.



Andere Jungen in seinem Alter hatten schon früh richtige Muskeln. Berni von nebenan zum Beispiel. Der hatte Hände groß wie Teller, mit kräftigen Fingern. Victor war häufig damit in Berührung gekommen, denn Berni benötigte keinen Grund, um sich zu prügeln. Es genügte, wenn man schwach war und Victor Reimer hieß. Berni wäre hervorragend für das Kistenstapeln geeignet gewesen, zumal zu viel Hirn bei dieser Art von Arbeit eher hinderlich war.



Victor aber litt unter der Anstrengung, und zusätzlich unterforderte das stupide Notieren der Warenein- und -ausgänge seinen Intellekt. So begann er immer häufiger, sich seinen Träumen vom Malen hinzugeben. Von seinem ersten Gehalt kaufte er sich einen Skizzenblock, einen Aquarellblock, gute Bleistifte, Pinsel und Aquarellfarben. Er war so lange glücklich, bis sein Vater die Sachen entdeckte. So wütend hatte er ihn noch nie erlebt.



«Mit diesem Teufelszeug will ich dich nie wieder sehen!», hatte er gebrüllt und die Sachen vom Tisch auf den Boden gefegt.



Victor war völlig verstört gewesen. Andere Väter regten sich weniger auf, wenn ihre Sprösslinge bei einer Straftat erwischt wurden oder wenn sie zur Unzeit ein Mädchen schwängerten. Doch Paul Reimer hatte Victor das Gefühl gegeben, eine Todsünde begangen zu haben.



Immerhin hatte er ihm die Zeichenutensilien nicht weggenommen. Schließlich hatte Victor sie von seinem eigenen Geld gekauft. Doch was änderte das, wo er ihm das Malen doch verboten hatte? Victor verstand einfach nicht, was seinen Vater so sehr daran störte, und der ließ ihn im Unklaren darüber.



So tat Victor zum ersten Mal in seinem Leben etwas gegen den Willen seines Vaters und malte nachts, wenn dieser schlief. Nacht für Nacht zeichnete er Gegenstände ab, so oft, bis sie perfekt aussahen, in verschiedenen Techniken und Stilen. Von Tag zu Tag war er unausgeschlafener und unkonzentrierter. Er trug die Waren in die falschen Spalten ein, und eines Tages brachte er einen großen Stapel Kartons zum Einsturz. Das war das Ende seiner Lehre. Ohnehin war er nur seines Vaters wegen eingestellt worden, und selbst das konnte ihn nun nicht mehr retten. Unter der Lawine der schweren Kartons wurde ein Arbeiter verletzt.



Sein Vater konnte ihm das nicht verzeihen. Bisher war Paul Reimer bei Opel immer durch gute Leistungen aufgefallen. Jetzt war er nur noch der Mann mit dem unfähigen Sohn.



Schließlich erwischte er Victor eines Nachts, als dieser gerade die Malutensilien unter dem Bett hervorholte. Dort befanden sich auch Victors Bilder. Paul Reimer zerriss sie in winzige Fetzen, weil ihm klar wurde, dass die heimliche nächtliche Malerei schuld daran war, dass Victor seine Aufgaben in der Firma nicht ordentlich erfüllt hatte.



Schließlich sank sein Vater ermattet auf einen Stuhl und verfiel in Selbstmitleid. «Womit habe ich einen Sohn verdient, der zu nichts zu gebrauchen ist? Ich kann mich bei niemandem mehr für dich verwenden.»



«Das habe ich auch nie von dir verlangt!»



«Aber was soll nun aus dir werden? Du musst doch von etwas leben.» Hilflos hob er die Hände und sah Victor tief in die Augen.



Dieser starrte trotzig zurück.



«Tu mir einen Gefallen: Lass die Finger von den Farben. Das bringt nur Unglück!»



Victor hatte seine Entscheidung längst getroffen. «Und wenn du jedes meiner Bilder zerstörst, du wirst mich niemals vom Malen abhalten!»



Noch in derselben Nacht packte er seine Sachen und verließ das Haus seines Vaters.




ZWEI



KOMMISSAR HERMANN KAPPE hielt sich die Hand vor den Mund und fluchte. Der Kaffee war noch viel zu heiß, doch er musste dringend los, wenn er nicht zu spät zum Dienst antreten wollte. Weiß der Himmel, weshalb sie heute alle verschlafen hatten. Das war ihm in all seinen Dienstjahren als Kriminaler noch nie passiert.



«Möchtest du nicht vielleicht doch wieder näher ans Präsidium ziehen?», fragte Klara, die die Schulbrote für Gretchen und Hartmut bereitete.



Kappe sah sie erstaunt an. Für Klara hatte er diese Wohnung in der Britzer Hufeisensiedlung ausgesucht, weil sie sich immer nach einer Wohnung im Grünen gesehnt hatte, vor allem der Kinder wegen. Er hatte die Wahl schon bald nach dem Einzug im März 1927 verflucht, als ihm bewusst wurde, wie früh er immer aufstehen musste, um zur Arbeit zu gelangen. Doch niemals hätte er vorgeschlagen, in Richtung Alexanderplatz zu ziehen, weil ihm Klaras Zufriedenheit sehr am Herzen lag. Nicht zuletzt seiner eigenen Nerven wegen, denn sie konnte schon sehr penetrant nachbohren, wenn sie etwas wollte, seine liebe Klara.



Doch es blieb keine Zeit, sich weiter zu wundern – er musste wirklich los. Typisch, dass sie solche Fragen stellte, wenn er in Eile war!



«Manchmal wünsche ich mir das schon», sagte er vorsichtig, denn bei Klara konnte man nie wissen, ob sie ihn mit einer solchen Frage nur auf die Probe stellen wollte, um das Gesagte hinterher gegen ihn zu verwenden und dann tagelang die Beleidigte spielen zu können. Frauen eben. Er schnappte seine Aktentasche, drückte Klara einen flüchtigen Kuss auf den Mund und hetzte im Laufschritt aus der Tür.



Die volle Kaffeetasse und die ernst dreinblickende Klara blieben in der Küche zurück.



«Wir fahren nach Paris!» Sein Vater hatte nicht gefragt, ob er mitkommen wolle auf diese Reise, mit Geschäften, von denen er, der Siebenjährige, nichts verstand. Er hatte es ihm mitgeteilt, so wie man seiner Frau sagt, dass am Abend noch überraschend Gäste zum Essen kämen und sie doch einen Teller mehr aufdecken möge. Was blieb auch als Alternative? Tante Gerda, die mit ihrem räudigen Hund in einem abbruchreifen Haus wohnte? Das war schon für einen Nachmittag kaum zu ertragen, für zwei ganze Wochen jedoch völlig inakzeptabel, und das wusste sein Vater glücklicherweise auch. Trotz allem hatte der kleine Victor sich vor der Reise gefürchtet, die so viele neue, unbekannte Eindrücke bringen sollte. Paris – das waren fünf aneinandergereihte Buchstaben für ihn. Wohl hatte ihm der Vater vom Eiffelturm berichtet, doch er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Menschen imstande waren, einen solch hohen Turm zu bauen. Als er dann davorstand, wurde ihm klar, dass dieser stählerne Gigant schier unbeschreiblich war, und ihn wunderte nicht mehr, dass dies in seinen kleinen Kopf im fernen Berlin einfach nicht hatte hineinpassen wollen.



Paris. Die fünf Buchstaben hatten in jenen Tagen einen anderen Klang für ihn bekommen und waren seither der Inbegriff für all seine Sehnsüchte. Nicht nur der Turm, nein, auch der Arc de Triomphe, die Tuileriengärten, die Seine und die Champs - Élysées hatten ihn tief berührt. Doch am stärksten hielt der Eindruck der Künstler vom Montmartre vor.



Anfangs hatte sein Vater ihn nicht ohne Aufsicht lassen wollen, doch wollte er seinen Geschäften ordentlich nachgehen, so konnte er sich nicht fortwährend um den Siebenjährigen kümmern und ihm die ganze Stadt zeigen. Victor hatte sich schließlich erbettelt, alleine durch die Umgebung streifen zu dürfen, und sein Vater hatte ihm mit ernstem Blick seine Uhr umgelegt und ihn ermahnt, nur ja wieder in der Unterkunft zu sein, wenn der große Zeiger auf der Zwölf und der kleine auf der Sechs stünde.



Nachdem dies am ersten Tag wunderbar geklappt hatte, war der Vater beruhigt. Offensichtlich kam der kleine Victor trotz der Sprachbarriere alleine zurecht, nachdem er ihm eingeschärft hatte, sich beim Gehen stets umzublicken und sich markante Häuser oder andere Orte für den Rückweg zu merken.



So konnte der kleine Victor den lieben langen Tag den Malern am Place du Tertre auf die Finger schauen, wie sie mit kräftigen Pinselstrichen ihre Gemälde bearbeiteten oder einfach neben ihren Werken saßen, die an die Bäume auf dem Bürgersteig gelehnt waren. Den einen oder anderen Namen schnappte er auf, mit dem er nichts anzufangen wusste, doch er hatte Zeit, also prägte er sich die Namen gut ein. Heute wusste er, welche Berühmtheiten oft dort gesessen und zwei Straßen weiter in einem Künstleratelier gewohnt hatten. Pablo Picasso und Georges Braque waren nur zwei von ihnen.

 



Ach, könnte er doch die Zeit zurückdrehen! Damals war er zum ersten Mal seit dem Tode seiner Mutter wieder glücklich gewesen.



Noch heute klangen ihm die Sprache und die Melodie der Stadt in den Ohren. Paris war voller Musik gewesen, wenn man nur darauf hörte. Doch es gab eines, das ihn traurig stimmte: Er würde die Künstler von damals dort sicher nicht mehr antreffen. Doch wer wusste schon, welcher der Künstler und Bohemiens des heutigen Paris der nächste Picasso werden könnte? Und er, Victor Reimer, könnte mit ihm reden, von ihm lernen!



Wenn er nur endlich genügend Geld beisammen hätte, um sich die Reise und den Aufenthalt dort leisten zu können! Zurück wollte er nicht mehr. Berlin war ebenfalls eine aufregende Stadt, das war unbestritten, doch es besaß nicht den Zauber, den er suchte.



«Die schaffen das doch sowieso wieder nicht!» Kappe nippte am Bureaukaffee und wünschte nicht zum ersten Mal, dass Gertrud Steiner, die Sekretärin, endlich lernen würde, den Kaffee weniger stark zu brühen. Er hatte seinen mit Wasser verdünnt, weil sein Löffel sonst senkrecht darin stehengeblieben wäre. Das hatte jedoch den Geschmack nicht gerade verbessert.



«Hast du ’ne Ahnung! Diesmal musset einfach klappen, da jibs keene Ausreden mehr! Viermal war unsre Hertha Vizemeister – diesmal tragen se den Pokal nach Hause, so wahr ick Gustav Galgenberg heiße!»



Von Grienerick nickte bekräftigend dazu. «Die sind sooo dicht dran!» Er deutete mit Daumen und Zeigefinger eine Lücke an, in die gerade drei Formulare gepasst hätten.



Kappe war erstaunt über die plötzliche Fußballbegeisterung im Präsidium. Galgenberg war zwar schon in früheren Jahren hin und wieder bei einem Herthaspiel gewesen, aber so fanatisch wie in diesem Jahr hatte er ihn und von Grienerick noch nicht erlebt. Die Begeisterung schien beinahe sämtliche männlichen Kollegen angesteckt zu haben, doch Kappe war das Ganze nicht geheuer.



Seine eigenen Fußballerfahrungen lagen lange zurück, und die Erinnerung daran war von Schmerz und Demütigung geprägt. Mehr als einmal hatte er mit der Nase im Dreck gelegen, und blaue Flecke am Schienbein waren an der Tagesordnung gewesen. Irgendwann hatte er das Spielen lieber den anderen überlassen. Sein Sohn Hartmut traf sich hin und wieder mit den Kindern aus der Nachbarschaft zum Fußball, doch Kappe war froh, dass der Kleine nicht auf die Idee kam, in einem Verein spielen zu wollen.



«Wir können ja eine Wette abschließen.» Von Grienerick riss Kappe aus seinen Gedanken. «Ich setze darauf, dass Hertha den Meistertitel gewinnt.»



«Ick ooch! Wat is mit dir, Kappe?»



«Wer wetten will, hat Lust zu betrügen», zitierte dieser einen Spruch seiner Mutter.



«Wie? Meinste, wir bestechen den Schiedsrichter, damit du deine fuffzich Pfennje verlierst?» Galgenberg lachte dröhnend. «Det wär ja noch schöner! Aba wat nützt ’ne Wette, wenn keener dajejenhält?»



«Na gut.» Kappe kapitulierte.



Galgenberg kramte eifrig in seiner Schreibtischschublade, bis er eine Streichholzschachtel zutage gefördert hatte. «Jeder legt hier fuffzich Pfennje rein. Jewinnt Kappe, kricht er die janze Penunze, wird Hertha doch Meister, teilen Grienerick und icke. Allet klar?»



«Vielleicht machen ja noch ein paar andere Kollegen mit. Dann lohnt es sich. Und wir könnten ja auch darauf setzen, auf welchen Platz die Hertha kommt, wenn sie nicht Meister wird.»



«Ach, das wird doch zu kompliziert», sagte Kappe.



«Was höre ich von Komplikationen, meine Herren?» Unvermittelt stand Brettschieß in der Tür. «Ich hoffe doch, dass alles seinen gewohnten Gang geht!»



Kappe verdrehte innerlich die Augen. Der Brettschieß hatte ihm gerade noch gefehlt. Sein Vorgesetzter war in Kappes Augen ein Störfaktor, und er wusste, dass er mit seiner Meinung nicht alleine dastand. Außerdem sympathisierte Brettschieß mit der zehn Jahre zuvor gegründeten NSDAP, und das war ihm wirklich ein Dorn im Auge. Von so jemandem ließ er sich nur ungern etwas sagen.



«Wir reden grade über ’ne neue Beobachtungstaktik», sagte Galgenberg und grinste, was Dr. Brettschieß jedoch nicht sehen konnte, weil dessen Aufmerksamkeit Kappe galt.



«Alles muss so einfach und effektiv wie möglich laufen. Komplizierte Vorgehensweisen beeinträchtigen das Ermittlungsergebnis. Merken Sie sich das stets, mein lieber Kappe!», dozierte Brettschieß.



Kappe fragte sich, wieso er sich diesen Sermon anhören musste. Immerzu redete Dr. Brettschieß geschwollen daher und sagte damit leider rein gar nichts. Heiße Luft aus einer Dampfmaschine war aussagekräftiger. Leute, die keinen Durchblick hatten, sich stattdessen aber gerne wichtig machten, waren Kappe zuwider.



Nachdem sein Vorgesetzter noch einen prüfenden Blick auf Kappes Schreibtisch geworfen hatte – Kappe fragte sich, was er dort zu finden hoffte –, ging er grußlos wieder hinaus.



«Welche Laus ist dem denn über die Leber gelaufen?»



Von Grienerick äffte ihn nach: «Alles muss so einfach und effektiv wie möglich laufen.» Dabei stand er stocksteif und schnitt die dümmste aller Grimassen, die er in seinem Repertoire hatte – und das waren so einige, wie Kappe wusste.



«Grienerick, meist steht der Veräppelte hinter einem, wenn man so wat macht. Hat dich das die Erfahrung nich jelehrt?» Galgenberg lachte, als von Grienerick sich erschrocken umdrehte. Doch da war niemand.



«Sollten wir uns nicht lieber unseren Akten zuwenden?», fragte Kappe in die Runde, bevor die beiden wieder mit ihren Fußballgesprächen anfangen konnten.



«Ick wusste ja schon immer, dass du ’n Spielverderber bist, Kappe, aber die fuffzich Pfennje zahlste trotzdem.» Galgenberg hielt ihm die Streichholzschachtel hin.



Kappe zog seufzend seine Geldbörse hervor. «Ihr macht mich arm!»



«Wieso, wenn Hertha verliert, biste doch reich!» Galgenberg gluckste.



«Kindsköpfe!», dachte Kappe, musste dabei aber schmunzeln. Er ging hinüber zum Aktenschrank und starrte auf die Ordner und Aktenzeichen. Mit einem Mal hatte er vergessen, was er eigentlich heraussuchen wollte, stattdessen ging sein Blick durch die Ordnerrücken hindurch, und er befand sich wieder mit Klara am Frühstückstisch. Wieso nur wollte ihm Klaras Vorschlag so gar nicht aus dem Kopf gehen? Er hätte froh sein müssen, dass sie sich mit dem Gedanken trug, seinen Arbeitsweg wieder zu verkürzen. Dann könnte er endlich wieder länger schlafen und wäre auch bei überraschenden Einsätzen schneller zur Stelle. Er könnte sich wahrlich darüber freuen – wenn der Vorschlag nur nicht so vollkommen untypisch für Klara gewesen wäre. Ihr Blick, ihr bemüht beiläufiger Tonfall – all das beunruhigte ihn. Sonst nörgelte sie lautstark und in einem fort, wenn ihr etwas missfiel. Da war etwas im Busch, und Kappe nahm sich fest vor herauszufinden, was das sein könnte. Gleich heute Abend wollte er sie fragen.



Er suchte nicht sehr häufig die Gesellschaft von Menschen – meist erschreckten sie ihn nur oder gingen ihm mit ihrer Dummheit auf die Nerven. Doch an jenem Tag zwang ihn ein unerklärlicher Drang nach Gesellschaft aus dem Haus. Normalerweise ging er nicht in Kneipen, schon gar nicht tagsüber. Er mied solche Orte – nicht nur wegen der Leute, sondern weil er sich mehrfach überlegte, ob er das Geld, das er für seinen Traum aufsparte, wirklich für ein Bier in zweifelhafter Gesellschaft ausgeben wollte. Doch heute war so ein Tag. Einer, an dem man an einem Scheideweg steht und nichts davon ahnt.



Er schlenderte durch die Straßen, bis er zur Oranienstraße kam, einer der besten Einkaufsstraßen Berlins, in der sich auch das Wirtshaus «Max und Moritz» befand. Dort verkehrte er gelegentlich, obwohl es mehreren Hundert Menschen Platz bot und somit eigentlich dem schüchternen Naturell Victors völlig widersprach. Doch das Gründerzeitmobiliar inmitten von Glasmosaiken, Stuck- und Schmiedearbeiten strahlte eine gewisse Gemütlichkeit aus, und er verband angenehme Erinnerungen mit dem Etablissement. Außerdem gab es ihm ein gutes Gefühl, dass der von ihm geschätzte Heinrich Zille Stammgast im «Max und Moritz» gewesen war, bevor er im Jahr zuvor verstorben war.



Am schönsten fand er jedoch