Kunstmord

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Doch zum Glück war niemand zu Hause, und sie konnte sich wieder in einen einigermaßen passablen Zustand versetzen. Allerdings nur äußerlich. In ihr drin, ganz tief, wüteten Lust und Verzweiflung, und die Erinnerung an den Kuss ließ ihre Hand in den Schoß wandern, wo sie sie beließ, bis sie sich Erleichterung verschafft hatte. Noch nie hatte sie Derartiges getan, und sie war mehr als erschrocken über sich selbst. Im Spiegel überprüfte sie, ob man ihr den Frevel ansah, den sie soeben begangen hatte. Hektisch rote Wangen strahlten ihr entgegen. Sie schrubbte ihre Hände mit Seife und begann dann, energisch Kartoffeln zu schälen, zerteilte sie, als gälte es, jemandem die Kehle durchzuschneiden. Was hatte sie nur getan?

VIER

KAPPE saß im Bureau und konnte es nicht fassen. Da hatte er zum Einschlafen an etwas Schönes denken wollen und war ausgerechnet bei Brettschieß gelandet! An so viel konnte er sich zumindest noch erinnern. Und daran, dass er sich Sorgen gemacht hatte, was aus ihm und seiner Familie werden würde, wenn die Zustände sich hier weiter änderten.

Er versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, um wenigstens etwas zu den Akten legen zu können. Zum Beispiel den Fall Paula Krauß, geborene Saenger. Sie waren gerufen worden, weil die Frau des Schauspielers Werner Krauß tot in ihrer Dahlemer Villa aufgefunden worden war. Werner Krauß war selbst dem kulturell eher wenig interessierten Kappe bekannt, weil Klara ihn vor rund zehn Jahren ins Kino geschleppt hatte, als Das Cabinet des Dr. Caligari lief. Krauß spielte in dem Film die Hauptrolle, die ihm schließlich zum Durchbruch verholfen hatte. Jetzt – so ganz ohne Filmschminke – hätte Kappe den Mann beinahe nicht wiedererkannt. Außerdem stand er unter Schock, was ihn noch älter erscheinen ließ.

«Wieso hast du mir denn kein Autogramm mitgebracht?», war Klaras erste Reaktion gewesen, als er davon berichtete. So war sie, seine Klara. Kappe seufzte bei dem Gedanken daran, wie pietätlos sie sein konnte. Wo sie doch selbst gerne etwas Besseres gewesen wäre.

Aber ob sie dann glücklicher wäre? Paula Krauß war sicher «etwas Besseres» in Klaras Sinne, doch die Ermittlungen hatten ergeben, dass die Dame eindeutig Hand an sich selbst gelegt hatte. So etwas tat kein glücklicher Mensch. Was hatte sie von all dem Glanz, in dem sie sich dank ihres Mannes sonnen konnte? Wer wusste schon, ob nicht gerade das die Depression ausgelöst hatte, die dieser Selbsttötung vermutlich zugrunde lag?

Kappe lochte die Papiere und heftete sie in den Ordner, der für Selbstmörder reserviert war. Fall abgeschlossen, Deckel zu. Was blieb von einem Menschenleben?

Das brachte ihn erneut dazu, darüber nachzudenken, welches Schicksal ihm und den Seinen beschieden wäre, wenn Brettschieß’

«anderer Wind» erst einmal durch die Gänge des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz wehen würde.

Als er 1910 nach Berlin gekommen war, hatte er noch hochfliegende Träume gehabt. Kriminaler hatte er werden wollen, und dieser Traum hatte sich auch erfüllt, nachdem er maßgeblich an der Aufklärung des Falles um eine verkohlte Leiche in Moabit beteiligt gewesen war.

Er hatte seine Arbeit gut gemacht und sich wohl gefühlt in der Gemeinschaft des Präsidiums am Alexanderplatz. Selbstverständlich war er nicht mit allen gleich gut ausgekommen. Da war beispielsweise der alte Oberregierungsrat von Canow. Waldemar von Canow hatte so manche Fehlentscheidung getroffen, und Kappe war öfter mit ihm aneinandergeraten. Aber wenigstens hatte «die größte Schlaftablette Berlins», wie von Grienerick ihn nannte, sich nicht in ihre tägliche Arbeit eingemischt. Als Dr. Brettschieß sein Nachfolger geworden war, war es mit der Gemütlichkeit vorbei gewesen. Alles wollte er reglementiert wissen, überall steckte er seine Nase hinein, egal, ob ihn die Angelegenheit etwas anging oder nicht.

Von Canow hatte auch taktische Entscheidungen getroffen, mit denen er bei den Herrschenden möglichst nicht aneckte, und das hatte ihm wieder und wieder Kappes Zorn eingetragen. Doch Kappe fürchtete, dass von Brettschieß noch viel Schlimmeres zu erwarten war. Der war in Kappes Augen eine falsche Schlange. Das würde Kappe natürlich niemals laut sagen, zumindest nicht hier im Präsidium. Er hatte Familie und somit Verantwortung. Er konnte seinen Arbeitsplatz nicht aufs Spiel setzen. Doch irgendwann musste er sich seine Bedenken wenigstens mal von der Seele reden.

Er würde sich gerne mal wieder mit seinem alten Freund Gottlieb Lubosch treffen. Mit Liepe, den er seit Kindertagen kannte, hatte er bisher immer über alles reden können. Doch leider hatte dieser sich zwei Jahre zuvor als Hotelbesitzer in Bad Saarow niedergelassen, da konnte Kappe nicht mal eben auf einen Sprung nach Dienstschluss vorbeischauen.

Trotzdem wollte er es gerne einmal einrichten. Vielleicht konnte er Klara mit einem Wochenendausflug überraschen? Kappe bekam kurzfristig gute Laune, bis er sich bewusst machte, dass Klara schon mehrmals die Nase gerümpft hatte, weil ihr die Beschreibung, die Liepe vom Hotel geliefert hatte, nicht vornehm genug gewesen war. Außerdem – wer sollte denn die Kinder nehmen? Mitnehmen wollte und konnte er sie nicht, sonst wäre das Wochenende keine Erholung.

Andererseits, wenn Klara dabei war, konnte er auch nicht offen mit Liepe über das reden, was ihn bedrückte. Genaugenommen konnte er dann überhaupt nicht reden. Wenn Liepe und er, manchmal auch noch Theodor Trampe und Ludwig Latzke, in Männerrunde zusammensaßen, passte keine Frau dazwischen. Männergespräche waren eben manchmal deftiger, und nicht alles war für Frauenohren bestimmt. Außerdem wollte er mit seinem besten Freund auch über Klara reden. Also war die ganze Expedition eine Schnapsidee – es sei denn, er konnte sich unauffällig alleine auf den Weg machen.

Sofort packte ihn das schlechte Gewissen. Klara hatte doch so schon genügend mit den Gören zu tun, wie Kappe die Kinder insgeheim nannte. Wenn er jetzt auch noch am Wochenende verschwand, ohne dass er dienstlich gebraucht wurde … Moment – ob das die Lösung war? Er könnte einen Einsatz vortäuschen.

Diese Überlegungen machten das schlechte Gewissen nicht besser. Doch er kam auf andere Gedanken, als Gertrud Steiner ihm eine Akte hereinreichte.

Kappe warf einen Blick darauf. «Was soll ich denn damit?», rief er ihr hinterher. «Da ist doch niemand umgekommen!»

Aber Bockwurst-Trudchen, wie die Abteilungssekretärin ihrer Leidenschaft für ebendiese Wurstwaren wegen auch genannt wurde, hörte ihn schon nicht mehr. Trotz ihrer Leibesfülle war sie nämlich erstaunlich flink.

Seufzend sah Kappe noch einmal auf die Akte. Es ging um einen Einbruch in der Flemingstraße in Thiergarten. Die Gebrüder Sass waren mal wieder bei einem Einbruch überrascht und verhaftet worden.

Seit 1927 führten die beiden Einbrecher, die aus ärmlichen Verhältnissen stammten, die Polizei schon an der Nase herum und genossen dabei in der Bevölkerung gewisse Sympathien, da sie das erbeutete Geld auch unter den Leuten verteilten. Wie einst Robin Hood nahmen sie von den Reichen und gaben es den Armen – behielten vermutlich jedoch auch etwas für sich. Dummerweise hatte man ihnen bisher nichts Konkretes nachweisen können, zumal die beiden sich inzwischen auch einen pfiffigen Anwalt leisten konnten.

Offenbar hatten sich die Kollegen jedoch wieder auf die Lauer gelegt. Vielleicht war Franz und Erich Sass diesmal etwas nachzuweisen. Die Polizei hatte sich schon lange genug der Lächerlichkeit preisgegeben.

Wie auch immer, die Akte war bei ihm falsch. Kappe machte sich auf den Weg, um sie den rechtmäßigen Bearbeitern zu bringen. Eine willkommene Ablenkung für ihn. Im Bureau grübelte er heute einfach zu viel.

Die Frau sprach ihn an, als er gerade in die Studie zu einem Katzenbild vertieft war. Nicht, dass er Katzen besonders mochte, jedoch verkauften sich solche Bilder erstaunlich gut, und wollte er das Geld für Paris irgendwann zusammenbekommen, so musste er eben auf Kundenwünsche eingehen. Die eigentliche Kunst machte er nebenher, auch wenn ihn mitunter das Gefühl beschlich, dass er dafür kaum noch Zeit hatte.

Er sah mürrisch von seiner Arbeit auf. Zumindest mürrischer, als er gewollt hatte, denn Kunden zu vergraulen lag nicht in seiner Absicht. Er hatte sie von weitem im Augenwinkel unter «blond und hübsch» abgebucht, nun jedoch, da sie nahe vor ihm stand, sah er, dass das Blond bereits von dünnen grauen Strähnen durchzogen war und sie sicher einmal noch hübscher gewesen war. Doch hatten sich einige Falten zum Teil schon tief in ihre Haut gefressen.

«Hallo …», sagte sie, offenbar unschlüssig, was sie noch hinzufügen sollte.

Er erwiderte den Gruß mit einem scheuen Lächeln. Vermutlich würde er sich nie an den Kontakt mit den Kunden gewöhnen, denn es waren ja Menschen, und Menschen, das wusste er, waren unberechenbar.

Mitunter glaubte er, dass seine Mitmenschen einzig dazu auf der Welt waren, um Pläne zu durchkreuzen. Jemand nahm sich etwas vor, und ein anderer versuchte, ihn daran zu hindern, als sei dies alles Teil eines teuflischen Plans. Victor hasste diese Vorstellung, und doch schien sie ihm allzu wahr. So bemühte er sich, den Kontakt zu anderen so weit wie möglich zu vermeiden.

Er suchte Verlässlichkeit, nichts durfte sich seinen Zielen in den Weg stellen. Menschen waren eine potenzielle Bedrohung, vor allem, wenn sie älter als fünf Jahre waren, obwohl er auch mit diesen kleinen Kerlchen schon üble Überraschungen erlebt hatte. Zum Beispiel der kleine Junge, der ihm Matsch auf ein fast fertiggestelltes Bild geworfen hatte. Die Mutter war schier untröstlich gewesen, doch bezahlt hatte sie den Schaden nicht.

Was mochte die Frau jetzt wollen, die ihn aus großen blauen Augen forschend anstarrte? Mit einem Mal zuckte er zusammen. Konnte es sein, dass sie ihn aus Argwohn so ansah? Auch wenn er zuweilen nicht sehr an der Welt um ihn herum interessiert war,

 

sofern er sie nicht malen oder zeichnen konnte, so war ihm doch nicht verborgen geblieben, dass Stimmen laut geworden waren, die all jene verteufelten, die nicht blond und blauäugig waren.

Doch er schien sich in ihr geirrt zu haben.

«Schöne Bilder, junger Mann. Man sieht die Leidenschaft darin.» Sie hielt inne, als erwarte sie eine Antwort auf ihre nicht gestellte Frage.

Doch er lächelte nur. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten, besann sich dann jedoch, mit der Grübelei aufzuhören. Vermutlich gefielen ihr tatsächlich einfach nur die Bilder. Weshalb war sie ihm dann aber so besonders aufgefallen?

Am Wochenende kam Kappe endlich dazu, die Zeitungen der letzten Tage durchzublättern. Hier und da blieb sein Blick an einem Artikel hängen. Normalerweise las er kommentarlos, heute jedoch schüttelte er heftig den Kopf: «Jetzt wird unser schöner Sportpalast schon wieder für eine Kundgebung dieser NSDAP genutzt! Machen die das jetzt jeden Monat?»

«Was haben die denn wohl zu verkünden?», wollte Klara wissen.

«Dieser Hitler und der andere da, Joseph Goebbels, reden über ‹Raum für unser Volk›. Und ich fürchte, sie meinen nicht, dass wir neue Wohnungen bauen sollen.»

«Was wollen die eigentlich?»

«Das wüsste ich auch gerne. Bisher habe ich nur mitbekommen, was sie nicht wollen: Juden und Menschen aus anderen Ländern. Am liebsten würden sie wohl auch noch verbieten, dass jeder sagen darf, was er denkt. Aber zum Glück können selbst die das nicht verhindern.»

«Dafür müssten sie überhaupt erst mal an der Regierung sein. Und es wird ja wohl niemand so dumm sein, die zu wählen!»

«Dein Wort in Gottes Ohr, Klärchen. Aber vergiss nicht: Mit der Dummheit der Menschen sollte man immer rechnen. Es gibt ja offenbar Leute, die es gut finden, was die NSDAP zu sagen hat,

sonst würden sie ihre Kundgebung in einer Eckkneipe abhalten und nicht im Sportpalast. Da passen immerhin rund zehntausend Menschen hinein. Wir werden ja sehen, wie die im September bei den Reichstagswahlen abschneiden.»

«Wenn ich ehrlich bin, mag ich über solche Dinge gar nicht nachdenken. Es gibt doch auch so schon genug Probleme. Ich mache mir lieber schöne Gedanken.»

«Bist du deshalb in letzter Zeit so zerstreut?»

Klara öffnete den Mund zu einer Antwort, als die Kinder in die Küche stürmten.

«Papa, dürfen wir rausgehen?»

Hartmut und Gretchen hatten ihre Sonntagssachen an. Einmal hatte er ihnen erlaubt, damit spielen zu gehen, und sich Klaras Zorn damit zugezogen. Die Kinder waren verdreckt wie die Ferkel wieder nach Hause gekommen. Er hatte aber auch keine Lust, ihnen zu sagen, dass sie sich umziehen sollten. Eigentlich hatte Kappe zu gar nichts Lust. Die Hitze machte ihn träge, und er hätte lieber noch weiter Zeitung gelesen. Auch Klara sah müde aus, doch zu seiner Überraschung schlug sie einen gemeinsamen Spaziergang vor.

«Och, nöööööö», maulten Hartmut und Gretchen im Chor. Karl-Heinz stimmte mit ein, vielleicht, weil es so lustig klang.

«Wir könnten uns ein wenig in der Stadt umschauen.» Die Stadt, damit war das Zentrum von Berlin gemeint. Wenn man so weit am Rand wohnte, war es fast schon eine längere Reise bis ins Innere Berlins.

Das fanden die Kinder schon besser.

Kappe sagte nichts und fügte sich in sein Schicksal, weil er Klara nicht verärgern wollte.

Es dauerte einige Zeit, bis sie endlich los konnten. Karl-Heinz nahmen sie in der Karre mit, weil der Kleine vom Herumrennen meist irgendwann müde wurde. Und inzwischen war er zu schwer, um ihn weite Strecken zu tragen. Sie fuhren bis zum Thiergarten, wo sie auf andere Ausflügler stießen, die das schöne Wetter genossen.

In der Nähe der Thiergartenschleuse standen einige Künstler und boten ihre Bilder dar. Der eine oder andere zeichnete währenddessen an neuen Werken.

«Schau mal, Mama, die süßen Katzen!» Gretchen lief auf einen der Künstler zu, einen ernsten dunkelhaarigen Mann, der diverse Leinwände mit Katzen- und Kinderbildern vor sich aufgebaut hatte. Aber auch abstrakte Malerei war darunter.

Kappe verzog das Gesicht, als sein Blick auf die bunten Gemälde fiel. «Das kann Karlchen auch», raunte er Klara zu.

Die grinste.

Doch die Katzenbilder und die Kinderporträts fand auch Kappe beeindruckend. Sein eigenes künstlerisches Talent beschränkte sich auf das Zeichnen von Strichmännchen und Kopffüßlern.

«Mama, kaufst du mir die?» Gretchen zeigte auf das größte Katzengemälde, das der junge Künstler im Angebot hatte.

«Aber Gretchen, das können wir uns sicher nicht leisten», sagte Klara lachend.

«Was kostet das?», fragte Grete ernsthaft und zog ihre kleine rote Geldbörse hervor.

Der junge Mann lächelte und nannte eine Summe, die in etwa Kappes Monatsgehalt entsprach.

Gretes Mundwinkel wanderten nach unten.

«Nicht traurig sein, kleine Mademoiselle! Schau her!» Der Künstler blätterte seinen Zeichenblock um, so dass ein frisches Blatt Papier zuoberst lag. Mit flinken Bleistiftstrichen zeichnete er zwei Katzenkinder, die sich um ein Wollknäuel stritten. Dann signierte er schwungvoll mit VIC und reichte Gretchen das Blatt.

«Das schenke ich dir. Und wenn du erwachsen bist und ganz viel Geld hast, dann denkst du an den alten Victor und kaufst ihm ein großes Katzenbild ab, einverstanden?» Er hielt der Kleinen die Hand hin.

Grete strahlte und schlug ein. «Abgemacht!» Dann lief sie los und zeigte Kappe und Klara stolz das Bild.

Hartmut interessierte sich nicht dafür. Er schaute sehnsüchtig einer Gruppe von Jungen hinterher, die mit einem Fußball durch den Park liefen, dem eindeutig einiges an Luft fehlte.

Karl-Heinz war in der Karre eingeschlafen.

Grete winkte dem netten Künstler zum Abschied, und dieser erwiderte die Geste.

«Ich bin immer froh, wenn ich sehe, dass es noch freundliche Menschen auf der Welt gibt», sagte Kappe und nickte dem Mann lächelnd zu.

Victor nahm ein frisches Blatt und wollte eben den Zeichenstift ansetzen, als er sich eines Besseren besann. Es war schon recht spät geworden, und er hatte das Gefühl, dass er nach dieser Unterbrechung nichts Vernünftiges mehr zu Papier bringen würde. Also räumte er die Malsachen ein, schnürte die Bilder zusammen, wie er es an jedem Abend tat, und trat den Heimweg an.

Nachts träumte er von der Frau und konnte doch am nächsten Morgen nicht sagen, weshalb er von ihr so fasziniert war. Es war nur eine zufällige Begegnung, wie sie jeden Tag vonstatten ging, denn immer kamen Menschen, um seine Bilder zu betrachten. Doch von dieser Frau war etwas Unerklärliches ausgegangen, etwas, das ihn beunruhigte.

Er versuchte, wieder einzuschlafen, doch da ihm das nicht gelingen wollte, ging er an seine Staffelei und sah das unvollendete Bild an. Er stellte es beiseite und nahm eine neue Leinwand.

Er musste darauf achten, nicht zu verschwenderisch mit seinen Malutensilien umzugehen, vor allem, da ein entfernter Freund ihm diese sensationelle Farbe besorgt hatte, die kürzlich erst erfunden worden war und noch nicht industriell hergestellt wurde. Die Farbpigmente waren nicht anders als in Ölfarben, doch das Bindemittel war ein völlig anderes: ein Kunstharz, das biegsam und elastisch blieb. Das Beste daran war, dass die Farben mit diesem Acrylat wasserlöslich wurden und somit viel einfacher zu handhaben waren, weil auch die Pinsel nicht mehr mit Terpentin gereinigt werden mussten. Da der Wasseranteil der Acrylfarbe rasch verdunstete, konnte man die Farben bereits nach ungefähr fünfzehn Minuten übermalen. Das beschleunigte den Schaffensprozess. Außerdem leuchteten die Farben beinahe überirdisch.

Er hatte die Farben zunächst skeptisch ausprobiert und war nun mehr als begeistert. Er hätte mit Öl- oder gar Aquarellfarbe kein Gemälde wie Sól schaffen können. Und nun wollte er mehr.

Dafür würde er noch Geld brauchen. Doch dann wäre er einer der Ersten, die mit Acrylfarbe experimentieren und vielleicht wahre Wunder zuwege bringen konnten. Wenn sie nur nicht so teuer wäre! Wenn nur mehr Menschen auf seine Kunst aufmerksam würden und den Geldbeutel ein wenig lockerer sitzen hätten!

Wenn, hätte, würde … Er seufzte und sah doch ein, dass die Zeiten für niemanden besonders rosig waren – er bildete da keine Ausnahme.

Er zog seinen hellgrauen Kittel über und malte schwungvoll ein Porträt aus dem Gedächtnis. Eckig, bunt, eng an sein großes Vorbild Picasso angelehnt und inspiriert von der Fremden, die seine Gedanken einfach nicht losließ. Für diese Werke lebte er, da durchströmte ihn ein Glücksgefühl! Jede Linie hatte etwas beinahe Erotisches an sich. Auf zu neuen Ufern! Nie Dagewesenes schaffen! Hier etwas dunkler, dort etwas heller, einen kontrastreichen Hintergrund schwungvoll auf die Leinwand bannen. Farben pur auftragen, Farben mischen – bunt für die Freude, Brauntöne für die düsteren Gedanken, mit denen er sich herumschlug. Doch alles in allem war er in diesem Moment glücklich: Malen – so zu malen, wie er es in seinem tiefsten Inneren wollte – machte ihn froh.

Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Etwas war heruntergefallen, und als er durch die Dachluke spähte, sah er eine Katze, die zu ihm hinunterschaute. Ganz entgegen seiner Gewohnheit öffnete er die Luke und ließ die Katze hinein. Warum er das tat, wusste er nicht. Es musste damit zusammenhängen, dass Katzenbilder einen immer größeren Raum bei seiner Malerei einnahmen.

Vielleicht lag es aber auch an Sól. Er hatte der Sonnengöttin katzenhafte Züge gegeben, obgleich nichts in der nordischen Mythologie darauf hindeutete, dass eine solche Verwandtschaft bestand. Doch das war seine Interpretation. Die Sonne buchstäblich als schöner Schein. Sie scheint gut zu sein, zumindest für das Leben auf der Erde. Doch sie vernichtet mit ihrem Feuer alles, was es wagt, ihr zu nahe zu kommen.

Rasch holte er den Skizzenblock, während die Farben auf der Leinwand trockneten. Die Katze tat ihm den Gefallen, sich in einer Ecke wohlig zusammenzurollen, so dass er sich mit seinem Block setzen und die rabenschwarze Schönheit mit Kohlestrichen aufs Papier bannen konnte.

Und es wurde gut. So gut, dass er danach eine kleine Leinwand bearbeitete, diesmal mit Ölfarben, von denen er noch genügend vorrätig hatte. Katze in Öl. Seine Gesichtsmuskeln verzogen sich zu einem Grinsen, das er sich selten gestattete, doch diesen Gedanken fand er amüsant. «Katze in Öl» klang wie ein Gericht.

Dann erstarb sein Grinsen wieder, denn ihm fielen die «Dachhasen» wieder ein, wie die geschlachteten Katzen genannt wurden, die man bisweilen in der Not anstelle eines Hasenbratens aß. Auch sein Vater hatte dies einmal versucht, doch Victor hatte keinen Bissen davon angerührt, weil er gesehen hatte, wie sein Vater die streunende Katze eingefangen hatte. Er hatte gehofft, ein wenig mit ihr spielen zu können, doch sie war mit einem Mal wie vom Erdboden verschluckt, und als er seinen Vater danach fragte, blieb dieser ihm eine Antwort schuldig. Das war für Victor Antwort genug gewesen.

Der Katze, die sich nun wohlig bei ihm auf dem Bett räkelte, würde dieses Schicksal hoffentlich erspart bleiben. Sie war so anmutig. Viel zu sauber und wohlgenährt für einen Streuner, fiel ihm plötzlich auf. Die Katzen seiner Kindheit waren zum großen Teil struppig und abgemagert gewesen, mit Augen ohne jeden Glanz. Diese hier wirkte, als würde sie jeden Tag nur das beste Futter erhalten, ohne darum kämpfen zu müssen.

Als hätte das Tier seine Gedanken erraten, sprang es vom Stuhl und streckte sich, lief dann zögernd einige Schritte auf ihn zu und maunzte ihn von unten herauf auffordernd an. Als er nicht reagierte, strich die Katze langsam um seine Beine. Victor seufzte, legte den Skizzenblock beiseite und sah nach, was er aus seiner Speisekammer erübrigen konnte.

«Wo kommst du denn her?», fragte er leise, als die Katze die Milch schlabberte, die er in eine flache Schale gegossen hatte.

Als hätte das Tier ihn verstanden, blickte es auf und bedachte ihn mit einem Blick, den er von seiner Mutter in Erinnerung hatte. Sie hatte ihn stets so angesehen, wenn sie fand, er solle nicht so neugierig sein.

Ein Schauder lief ihm den Rücken hinunter, und er schalt sich, nicht so albern zu sein. Seine Mutter war tot, und er glaubte nicht an Wiedergeburt. Schon gar nicht daran, dass seine Mutter in Gestalt einer Katze in seiner Küchenecke Milch trank. Das war doch zu grotesk! Was sollte sie auch von ihm wollen? Ihm eine Botschaft überbringen? Ihn beschützen? Wovor?

 

«Victor, du bekommst eindeutig zu wenig Schlaf!», sagte er laut zu sich selbst.

Er wusch sich, zog seinen Pyjama an und ging ins Bett, nicht ohne zuvor das Dachfenster einen Spalt offen zu lassen, damit sein schwarzer pelziger Besuch wieder hinausgelangen konnte.

Die Katze sprang mit einem Satz ans Fußende seines Bettes, rollte sich zusammen und schlief ein.

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