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Marattha König Zweier Welten Teil 1

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Und obwohl es ihrem jungen Obersten schneller als erwartet gelungen war, sie alle ordentlich unterzubringen, schien das West Riding in diesen Tagen nur noch aus einer endlos langen Krankenliste zu bestehen. Nicht dass es den Soldaten wirklich schlechtging! Die meisten vertrugen nur die gnadenlosen Temperaturen noch nicht, oder sie tranken unverhältnismäßig große Mengen kalten Wassers und bekamen davon Durchfall und Fieber. Oder sie schütteten ihren Brandy pur in die ausgedörrten Kehlen und wurden dadurch binnen weniger Minuten zu taumelnden, schweißüberströmten Kreaturen, die hilflos in sich zusammensanken und Stunden brauchten, um wieder zu sich zu kommen.

Während Wesley gemeinsam mit den Majoren Shee und West und gefolgt von Sergeant-Major Dunn die Baracken unterhalb des eindrucksvollen Gebäudekomplexes Fort William durchquerte und dabei verärgert die Stirn runzelte, ging ihm durch den Kopf, wie unvernünftig es doch war, die Soldaten in einem subtropischen Land in Uniformjacken aus schwerer schottischer Wolle zu stecken. Die steifen Kragen mit ihren ledernen Einlagen würgten, und unter den roten Röcken zwang man sie noch in enge, hochgeschlossene warme Westen und schwere Hosen aus Manchestertuch. Er konnte die Männer zwar nicht von ihrer Uniform befreien, aber zumindest ein wenig Vernunft walten lassen.

»Dunn!« winkte er seinen Sergeant-Major zu sich. »Schreiben Sie! Die Soldaten haben sich täglich zu waschen ... von Kopf bis Fuß, und wenn sie noch so murren und maulen! Ihre Hemden und Socken können sie dabei gleich mit ins Wasser stecken! Bei dieser Hitze trocknet der ganze Kram in zehn Minuten. Und ein Mal pro Woche müssen die Strohmatten draußen ausgeklopft und gesäubert werden. Die Baracken werden geputzt und ausgeräuchert und ... besorgen Sie Kalk. Lassen Sie diese verdammten, schmierigen Lehmwände weiß tünchen!«

Dann fauchte der Oberst in einem wesentlich unfreundlicheren Ton die beiden Majore an, die ihn begleiteten: »Die Männer werden um vier Uhr morgens geweckt, Gentlemen! Pünktlich um fünf Uhr will ich sie jeden Tag auf dem Exerzierplatz antreten sehen. Und dann lassen Sie sie exerzieren! Waffendrill bis zehn oder elf, wenn es anfängt heiß zu werden, und wenn ich hinterher einen einzigen Mann dabei erwische, dass er seine Brandy-Ration unverdünnt trinkt, dann reiße ich Ihnen den Kopf ab.«

»Aber Sir, was ...?« versuchte Francis West sein Glück. Er hatte nicht verstanden, was Wesleys Befehl eigentlich bewirken sollte.

Der Kopf des Obersten fuhr herum, seine graublauen Augen funkelten die Untergebenen böse an. »Stellen Sie keine Fragen, Sir! Tun Sie, was man Ihnen befiehlt!« Die Stimme war schneidend wie ein Messer. Dann beschleunigte Arthur seinen Schritt, fast so, als ob er es in den stickigen Baracken nicht länger aushalten könne. »Dunn, zum Teufel! Wo bleiben Sie?« rief er und ließ West und Shee im Halbdunkel zurück.

Der Sergeant-Major folgte seinem Oberst im Laufschritt. Er hoffte, dass Wesley bei dieser Geschwindigkeit darauf verzichten würde, zusätzliche Befehle zu erteilen. Doch kaum waren der Offizier und der Unteroffizier außer Sichtweite der Baracken des 33. Regiments, bremste Arthur genauso plötzlich ab, wie er zuvor losgerannt war. »Unvernünftige Kinder«, murmelte er verzweifelt. »Und die Offiziere sind genauso schlimm wie die Mannschaften.«

»Wie bitte, Sir?« erkundigte sich John Dunn. Er wusste nicht, ob sein Oberst von ihm erwartete, irgendetwas aufzuschreiben, oder ob Wesley nur Selbstgespräche führte.

»Haben Sie sich mal angesehen, was unser feines Regiment so treibt, John? Keinem scheint aufgefallen zu sein, dass wir nicht mehr in Dublin und mitten im irischen Winter sitzen, sondern am anderen Ende der Welt, wo die Uhren verkehrt herum gehen. Shee lässt die Soldaten zwischen zwölf und zwei durch die Gegend rennen und wundert sich dann, wenn die Jungs umfallen wie die Fliegen, während er bequem unter dem einzigen Baum auf dem Exerzierplatz im Schatten steht. Und West ist ein braver Bursche, scheint aber noch nie davon gehört zu haben, dass Staub und Schweiß seine Kompanien in einen dreckstarrenden, übelriechenden Haufen verwandeln. Seit zwei Wochen sind wir jetzt in Kalkutta, und ich bin mir sicher, nicht einer der Männer hat in diesen vierzehn Tagen sein Hemd oder sich selbst gewaschen ... von Ihnen einmal abgesehen, mein Freund!«

John Dunn warf einen misstrauischen Blick über die Schulter. Als er sicher war, dass er und Wesley außer Hör- und Sichtweite der anderen waren, trat er neben seinen Obersten und schaute ihm fest in die Augen. »Das liegt alles nur daran, Sir, dass Sie und Oberstleutnant Sherbrooke so gut wie nie da sind! Wenn die Katze aus dem Haus ist ...«

»Ja, ja! Dann gehen die Mäuse tanzen!« Der junge Offizier grinste. Es tat ihm jetzt schon leid, dass er mit Shee und West so grob umgesprungen war, aber wenn es um das 33. Regiment ging, hatte sein Sinn für Humor sehr enge Grenzen. In Irland war die Truppe ein verlotterter, trostloser Haufen gewesen, den er von Cornwallis übernommen hatte. Aus dem Abfall der britischen Streitkräfte hatte er in einem gewaltigen Kraftakt ein tüchtiges Regiment geformt. In Indien – er hatte es sich fest vorgenommen – würde das 33. Regiment zum besten Regiment der Krone werden. Doch um auf den Feldern der Ehre zu glänzen, mussten die Soldaten in Bestform sein. Nachlässigkeiten und Schlampereien seiner Untergebenen konnte er deshalb nicht hinnehmen.

»Wir werden nicht lange in Kalkutta bleiben, John! Aber angesichts einer langen Krankenliste wird der Generalgouverneur es sich vielleicht doch noch anders überlegen und uns hierbehalten. Gehen Sie jetzt, mein Freund, und tun Sie, was ich Ihnen aufgetragen habe. Man erwartet mich bereits in Fort William.« Er nickte seinem Sergeant-Major freundlich zu. Dann machte er sich auf den Weg in die Verwaltungszentrale Britisch-Indiens, die wie eine Festung hoch über Kalkutta thronte. Zumindest schien es einem so, wenn man zwischen den kleinen Lehmhäusern und spärlichen Ziegelbauten umherwanderte, die den Stadtkern bildeten, und von dort in Richtung des Hoogley blickte.

Der Regierungspalast war das einzige Bauwerk, das von hohen Schutzmauern umgeben war und über Tore verfügte, die sich im Fall eines Aufstands oder Angriffs gegen die kleine britische Kolonie schließen ließen. Vor kaum fünfzig Jahren, lange bevor Arthur zur Welt gekommen war, hatte ein schreckliches Ereignis der Krone und »John Company« vor Augen geführt, auf welch tönernen Füßen ihre Herrschaft über Bengalen und einige angrenzende Gebiete stand. Fort William war heute das Symbol der britischen Macht in diesem Land, doch die Festung war auf dem Fundament einer blutigen Tragödie errichtet worden: Im Juni 1756 hatte der Nabob von Bengalen, Siraj-ud-Daulja, beschlossen, gegen die europäischen Eindringlinge zu Felde zu ziehen und die wirtschaftliche und politische Macht zurückzugewinnen, die sie seit einem knappen Jahrhundert an sich gerissen hatten. Am 19. Juni 1756 eroberte der indische Fürst nach einem kurzen, aber blutigen Gefecht Kalkutta. Die 146 Briten, die er noch in der Stadt vorfand, ließ er in der schwülen Hitze des indischen Monsunmonats mehr als zwölf Stunden in einem fünf mal sechs Meter großen Kellerloch zusammenpferchen. Am Morgen des 20. Juni verließen nur noch dreiundzwanzig Überlebende diesen Ort des Schreckens, der unter dem Namen »Das Schwarze Loch von Kalkutta« in die Geschichte des Landes einging.

Clive war einer der Männer gewesen, die lebend entkommen waren. Der damals unbedeutende Schreiber der Ostindischen Kompanie war von nun an so sehr vom Wunsch nach Rache erfüllt, dass er zum Militär ging. Ein Jahr später besiegte er die Inder in einer glorreichen Feldschlacht bei Plassey, stellte Englands Vorherrschaft im Lande wieder her und befahl den Bau der Festung Fort William an den Ufern des Hoogley.

Die Blicke des Obersten schweiften mit dem fachmännischen Blick des gut ausgebildeten Berufssoldaten über die schweren Außenmauern, die Lünetten, die gut positionierten Schießscharten und das eindrucksvolle Glacis, das sich vor dem steinernen Meisterwerk erstreckte. Als er durch das Hauptportal schritt, machte er einen kurzen Abstecher hinter den zweiten Befestigungsring und strich beinahe liebevoll über das Mauerwerk. Arbeitskräfte gab es mehr als genug in diesem Land, und Clive hatte jeden Stein an der Oberfläche bearbeiten lassen, ähnlich wie Edelsteine.

Arthur hatte die letzten vierzehn Tage nicht nur damit zugebracht, der kleinen britischen Kolonie in Kalkutta seine Aufwartung zu machen, in der Machtzentrale der Krone und bei der »John Company« für gutes Wetter zu sorgen und seine Studien von Sprache, Sitten und Gebräuchen Indiens voranzutreiben. Wann immer er Zeit hatte und sich unbeobachtet glaubte, verschwand er irgendwo in den Straßen und Gassen der turbulenten, fremden Stadt. Er beobachtete die Menschen und versuchte zu begreifen, wo der Unterschied zwischen seinen klugen Büchern und der Realität Indiens lag. Eines hatte er in den wenigen Tagen in Kalkutta schon begriffen: Anders als Frankreich oder seine Inseln war Indien ein unermessliches Land! Indien war ein Kontinent, auf dem die verschiedensten Volksstämme lebten, zwischen denen mitunter ein größerer Unterschied bestand als zwischen einem Franzosen und einem Preußen, einem Iren oder einem Schweden. Indien blickte auf eine Geschichte zurück, die weitaus älter war als die seiner Heimat.

Als er an den beiden britischen Wachsoldaten vorüberkam und den Palast des Gouverneurs betrat, krampfte Arthurs Magen sich plötzlich zusammen, und all seine philosophischen Betrachtungen über seinen neuen Kriegsschauplatz verflogen, um einem einzigen, alles beherrschenden Gedanken Platz zu machen: Er wollte einen ordentlichen Eindruck auf Sir John Shore machen, den höchsten britischen Beamten im Lande. Arthur hatte bereits den Vertreter der Ostindischen Kompanie getroffen, William Hickey, und diesen für sich eingenommen. Nun musste er noch den verlängerten Arm seines Königs überzeugen und sein Regiment von den Fleischtöpfen Kalkuttas an eine Front versetzen lassen, wo die Männer für Englands Ruhm und ihre Soldatenehre kämpfen konnten.

 

Er reichte einem indischen Bediensteten seinen federgeschmückten

Zweispitz und die weißen Handschuhe. Dann zog er die rote Jacke glatt, wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und klopfte energisch an die Tür. Eine hohe, beinahe weiblich klingende Stimme bat ihn einzutreten. Das Arbeitszimmer des Gouverneurs war ein großer, sechseckiger Raum. Fünf Wände waren von Bücherregalen bedeckt, auf denen in endlosen Reihen unzählige Bände standen. Der Schreibtisch von Sir John war riesig und so mit Papieren beladen, dass der Gouverneur hinter ihm puppenhaft klein erschien. Arthur schlug schneidig die Hacken zusammen und legte die Hand zum Gruß an die Stirn. Die hohe, schwere Tür schloss sich wie von Geisterhand hinter dem Offizier.

»Das 33. Regiment!« Sir John strahlte den jungen Offizier an, der in Hab-acht-Stellung vor ihm verharrte. »Ich freue mich, Sie zu sehen, Oberst Wesley! Stehen Sie bequem! Setzen Sie sich! Wir sind nicht in den finsteren Gemäuern der Horse Guards in London. Möchten Sie einen kühlen Zitronentee oder ein Glas Pfefferminzlimonade?« Ein freundlicher Wortschwall ging auf den verdutzten Arthur nieder. Er war solch lockere Umgangsformen von seinen Vorgesetzten nicht gewöhnt. Bestenfalls erlaubte man einem Offizier, bequem zu stehen, nicht aber, sich zu setzen oder gar mit dem Gouverneur ein Glas Limonade zu trinken und dabei zu plaudern ...

»Mylord ...?« Arthur legte beide Hände vorschriftsmäßig, wie aus dem Drillbuch der britischen Landstreitkräfte, an die linke und die rechte Außennaht seiner ledernen Reithosen. Die joviale Art Sir Johns hatte den jungen Offizier so überrumpelt, dass er seine Unsicherheit hinter der Dienstvorschrift verbergen musste.

Der Gouverneur schüttelte den Kopf, erhob sich hinter seinem Schreibtisch und ging zu seinem Besucher. »Na, kommen Sie, Oberst Wesley!« Eine schmale, schneeweiße Hand legte sich leicht wie eine Feder auf Arthurs Schulter und schob ihn zu zwei bequemen Sesseln und einem niedrigen Tisch aus dunklem Edelholz.

Sir John hatte einige Mühe gehabt, die Hand auf Arthurs Schulter zu legen, ohne sich auf die Zehenspitzen stellen zu müssen. Er war klein und zierlich wie eine Balletttänzerin. Seine Vorgänger in Kalkutta waren imposantere Männer gewesen: Lord Clive, der mit dem Schwert in der Hand die Vormachtstellung Englands in Indien erkämpft hatte – ein harter, machtbewußter Soldat. Warren Hastings, sein Nachfolger, der die Errungenschaften Clives erfolgreich gegen äußere und innere Feinde verteidigt und nie einen Hehl daraus gemacht hatte, dass auch er den Weg des Schwertes dem des Wortes vorzog. Und Lord Cornwallis, Sir Johns Vorgänger, war ein bewährter Staatsmann und kampferprobter Soldat, der Indien so verwaltet hatte, wie er es für richtig befand. Wer Cornwallis nicht zu Willen gewesen war, dem hatte er mit Feuer und Schwert Vernunft beigebracht.

Der Mann jedoch, der an diesem Nachmittag neben Wesley stand, zählte nicht zu dieser Kriegerkaste, der England üblicherweise seine überseeischen Besitzungen anvertraute. Bevor man Sir John zum Generalgouverneur ernannt hatte, war er ein hoher Beamter im Finanzministerium gewesen, dessen größte Errungenschaft die Ausarbeitung und Einführung eines funktionierenden Steuersystems für Britisch-Indien war. Sir Johns Waffen waren der Abakus, das Wort und die Feder. Er regierte die Kolonie getreu seinen Anordnungen aus London und mischte sich so wenig wie möglich in die innere Politik der Fürstentümer und Gebiete ein, die man ihm anvertraut hatte. Seine größte Sorge war, einmal im Jahr eine peinlich genaue Abrechnung der Gewinne der »John Company« zusammen mit prall gefüllten Geldtruhen in die Leadenhall Street nach London zu schicken, nachdem er zuvor pflichtbewusst den Anteil des Königs abgezogen und an das Schatzamt überstellt hatte.

Als er Wesley endlich mit sanfter Gewalt in einen der bequemen Sessel gedrückt hatte, klatschte er in die Hände, und wie aus dem Nichts tauchte ein indischer Bediensteter neben dem niedrigen Tisch auf und servierte den beiden Männern Zitronentee. »So, und nun müssen Sie mir die letzten Neuigkeiten aus England erzählen, junger Freund!« Der Generalgouverneur lächelte.

Arthur saß genauso steif im Sessel, wie er zuvor im Zimmer gestanden hatte. Die Leutseligkeit Sir Johns brachte ihn noch immer aus dem Gleichgewicht, und einer alten Gewohnheit folgend, richtete er den Blick auf den Boden. Doch plötzlich gewann sein Mut die Oberhand über diese Gewohnheit aus den Jugendtagen in Dublin, und er blickte Sir John in die Augen. Zwei Stunden später beendete er seinen Bericht und wagte es sogar, nach der inzwischen lauwarmen Limonade zu greifen und davon zu nippen.

Der Generalgouverneur strahlte ihn zufrieden an. »Sehr interessant, Oberst! Sie dürfen nicht vergessen, dass wir hier sieben Monate Seeweg von London entfernt sind und unser erstes Interesse bei den

Neuankömmlingen sich natürlich auf die Nachrichten und Informationen aus unserer geliebten Heimat richtet.«

»Verzeihen Sie, Mylord! Ich hatte nicht daran gedacht.«

»Ach was! Entschuldigen Sie sich nicht wie ein Schuljunge«, tadelte Sir John den Offizier freundlich. »Im guten alten England sind Sie – nicht zuletzt aufgrund Ihres Alters – einer unter vielen. Zumindest glauben Sie das, weil die hohen Herren in den Horse Guards es Ihnen eingebläut haben, nicht wahr?«

Arthur entfuhr ein leises: »Natürlich, Mylord.«

Der Generalgouverneur überrumpelte Arthur mit einer unerwarteten Frage. »Wie stehen Sie dazu, dass Spanien im August 1796 einen Bündnisvertrag mit der französischen Republik unterzeichnet hat? Aus der Sicht eines britischen Offiziers in Indien natürlich.« Sir Johns Stimme hatte ihre Weichheit verloren und war plötzlich geschäftsmäßig und hart geworden. Sein freundliches Lächeln verwandelte sich in eine kalte Maske, die keinen Widerspruch zu dulden schien.

Derselbe Reflex, der Arthur noch wenige Augenblicke zuvor demütig zu Boden hatte blicken lassen, veranlasste ihn nun dazu, seinem Gegenüber fest in die Augen zu sehen. Mit ruhiger Stimme erläuterte er Sir John die politische Gesamtlage der europäischen Welt. Dann legte er dar, wie die Konstellation der großen Nationen sich auf der anderen Seite der Erdhalbkugel darstellte. In knappen Sätzen stellte er vier Hypothesen in den Raum und erklärte das Für und Wider jeder einzelnen. Als Resümee schloss er mit einem historischen Präzedenzfall: Warren Hastings hatte vor fünfzehn Jahren einer noch stärkeren feindlichen Koalition entgegentreten müssen.

Sir John pfiff leise durch die Zähne. »Gütiger Himmel«, murmelte er. »Wenn wir Ihnen eine Chance geben, Wesley, werden Sie es weit bringen.«

Arthur hatte diese Worte nicht einmal wahrgenommen. In den zehn Jahren, die er nun den roten Rock trug, hatte ihn nie jemand nach seiner Meinung gefragt oder ihn dazu aufgefordert, seine Gedanken laut zu äußern. Lob oder Anerkennung waren so ungewohnt für ihn, dass er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte.

Neugierig betrachtete der Generalgouverneur den Kommandeur des 33. Regiments. »Sonderbar«, ging es ihm durch den Kopf, »als ob der Junge Angst hat zuzugeben, dass er denken kann. Es wird nicht einfach sein, ihn aus der Reserve zu locken.«

Sir John bediente sich nun wieder des freundlichen und leutseligen Tonfalls wie zu Beginn des Treffens. »Ich würde es sehr zu schätzen wissen, Oberst Wesley, wenn Sie mir in den nächsten Tagen in schriftlicher Form einen Plan für eine mögliche britische Operation gegen Spanisch-Manila auf den Philippinen vorlegen könnten.« »Wie Sie befehlen, Mylord!« murmelte der junge Kommandeur, ohne den Blick vom Boden des Arbeitszimmers zu nehmen.

Obwohl Arthur Fort William und Sir John bereits vor Stunden verlassen hatte, wollte seine sonderbare Stimmung, die zwischen innerer Unruhe und Euphorie schwankte, nicht weichen. Er war beunruhigt, denn der Gouverneur hatte ihm eine Aufgabe gestellt, die man in England nur einem altgedienten Soldaten im Generalsrang mit langjähriger militärischer und politischer Erfahrung anvertrauen würde. Zugleich war er überglücklich, denn Sir Johns Auftrag war der Beweis für die Richtigkeit seiner Theorie: Für den, der zuzugreifen wagte, bot ein neues Land unbegrenzte Möglichkeiten.

In dieser sonderbaren Stimmung war der junge Offizier, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben, vom Regierungspalast des Generalgouverneurs in westliche Richtung geschlendert, ohne dabei auf die Uhr zu schauen oder sich zu orientieren. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass er die große Brücke, die über den Hoogley nach Hoara führte, überschritten und bereits weit hinter sich gelassen hatte.

Der Nachmittag war inzwischen dem Abend gewichen, und die tropische Nacht senkte sich rasch über Kalkutta. Im Hintergrund verglühte leuchtend rot die Sonne in den trüben Wassern des Flusses. Niemand schien von dem Mann in britischer Uniform, der ungewohnterweise zu Fuß und nicht zu Pferd unterwegs war, Notiz zu nehmen, obwohl die Offiziere der Ostindischen Kompanie und der britischen Krone sich selten in den Stadtteil Hoara wagten. Ab und an zischte es irgendwo: »Pardesi« – ein Fremder! Arthur kannte das Wort, und die zwei Wochen in Indien hatten ihm geholfen, die Melodie dieser Sprache – Hindustani – zu verinnerlichen. Die Sprache, die er aus seinen Büchern zu lernen versucht hatte, gab es eigentlich gar nicht. Die Menschen hier sprachen eine Art Dialekt, den man »Vernacular« nannte, und der viel anspruchsloser und einfacher war als die Schriftsprache, in der sich offensichtlich nur Gelehrte und Philosophen ausdrückten.

Der Stadtteil Hoara war eine eigene Welt, die mit dem Kalkutta am rechten Ufer des Hoogley nur wenig gemein hatte. Hoara gehörte den Kaufleuten, die in großen Karawansereien lagerten – mit ihren Kamelherden und den Waren, die sie aus allen vier Himmelsrichtungen zusammengetragen hatten, um sie auf den großen Märkten der Regierungszentrale von Britisch-Indien oder im Frachthafen Diamond Harbour unweit der Küste anzupreisen und an den Mann oder – besser gesagt – die Ostindische Kompanie zu bringen. Hoara war auch der Unterschlupf der Rosstäuscher und Pferdehändler. Hier verwandelten sie zweifelhafte Vierbeiner in rassige Vollblüter und verpassten ihnen Ahnentafeln und Stammbäume, die so lang waren wie der Koran und mit der Wirklichkeit nicht viel gemein hatten. Britische Offiziere vermieden es, an diesem finsteren Ort nach einem geeigneten Tier Ausschau zu halten und bezahlten lieber die höheren Preise des Pferdemarktes von Bhawanipur, der zweimal in der Woche abgehalten wurde.

Während Arthur durch den Golabari-Bazar schlenderte, drangen ihm aus lichtüberfluteten, lauten Buden und Häuschen die exotischsten Düfte des Orients in die Nase. Ein Stimmengewirr aus unzähligen Dialekten und Mundarten drang auf die überfüllte Gasse hinaus; es herrschte ein solches Gedränge, dass der junge Offizier geschoben und gedrückt wurde. Es gab kein Entkommen mehr – nicht nach links, nicht nach rechts, nicht zurück. Mit jedem Meter, den man Arthur in Richtung »Grand Trunk Road« schob, stieg der Duft würziger orientalischer Speisen ihm verlockender in die Nase und erinnerte ihn daran, dass er seit den frühen Morgenstunden nichts mehr gegessen hatte.

Als hätte eine der zahllosen Hindu-Gottheiten seine Gedanken gelesen, befand er sich wenige Minuten später – halb geschoben, halb gezogen – vor dem Hauptportal des Kaschmir-Serais, einer der größten Karawansereien an der »Grand Trunk Road«, die den Subkontinent von den Bergen Afghanistans bis zur Küste des Golfes von Bengalen wie eine große, offene Wunde durchzog. Der Serai diente den muslimischen Kaufleuten und Handelsherren aus dem Norden des Landes als Kontor und Unterschlupf, während sie ihre Waren oder ihre Tiere im Zentrum der britischen Macht anboten. Er ähnelte einem Hufeisen, das um einen großen, offenen Platz gelegt worden war. Sämtliche Volksstämme des Nordens schienen auf diesem engen

Raum vereint zu sein, und mit ihnen Hunderte von Packkamelen und struppigen Lastenponys.

Obwohl es schon spät am Abend war, ging das Be- und Entladen der Waren unaufhaltsam voran. Stämmige Männer mit wallenden, oft hennagefärbten Bärten und dunklen Augen zogen in Ziegenhäuten Wasser aus einem Brunnen im Zentrum der Karawanserei, um ihre Tiere zu tränken. Sie gehörten meist dem Volk der Paschtunen oder der Kabulis an. Mit Schleiern verhüllte Frauen mit breitem, goldenem Armschmuck bereiteten an offenen Feuern oder auf behelfsmäßigen Öfen aus gebrannten Lehmziegeln die Abendmahlzeit zu. Bengalische Knechte warfen körbeweise frisch geschnittenes Gras vor unruhige Reitpferde, die schrill wieherten, während sie mit Fußtritten die Wachhunde fortscheuchten, die die Karawanen begleitet hatten und nun den ganzen Platz unsicher machten, stets auf der Suche nach einem Stück Fleisch oder einem weggeworfenen Knochen. Schreien, Streiten, Fluchen und Feilschen beherrschten die Nacht, und nur die Unterkünfte der Handelsherren, zu denen man über elegant geschwungene Steintreppen hinaufsteigen musste, schienen Zuflucht vor dem Aufruhr im Zentrum zu bieten.

 

Sir John Shores Anliegen und Arthurs Hunger verflüchtigten sich in diesem bunten, fremdländischen Meer. Neugierig betrachtete er die Menschenansammlung, als sich plötzlich von hinten eine Hand auf seine Schulter legte. In einem Reflex wollte Arthur den Degen ziehen, doch bevor er dazu kam, packte eine zweite Hand energisch seine Rechte, und eine tiefe Stimme fragte ihn in einem passablen, wenn auch nicht ganz akzentfreien Englisch: »Habt Ihr Euch verirrt, Oberst-Sahib?«

Arthur drehte sich um und blickte in ein bärtiges, wettergegerbtes Gesicht. Ein Paar grüner Katzenaugen funkelte ihn amüsiert an.

»Nein, ich habe mich nicht verirrt!« antwortete Arthur gelassen. Der Mann, der vor ihm stand, trug einen Turban und ein weites Gewand, unter dem nur die ledernen Reitstiefel hervorlugten. Um die Hüfte hatte er einen schweren Seidenschal geschlungen, in dem über Kreuz ein Paar Pistolen und ein großer, gekrümmter Dolch steckten. »Für gewöhnlich wagen die Sahibs sich nicht in den Kaschmir-Serai. Es ist ein gefährlicher Ort. Kann leicht passieren, dass ein Mann hier verschwindet und dann irgendwann, irgendwo mit durchgeschnittener Kehle gefunden wird«, fuhr der bärtige Riese fort.

Arthur lächelte ihn freundlich an. »Warum?«

»Ihr seid nicht ängstlich, Oberst-Sahib. Das gefällt mir. Mein Name ist Lutuf Ullah, meine Heimat liegt jenseits der Berge, und ich bringe die herrlichsten Pferde nach Kalkutta, die die Welt je gesehen hat.« Arthur lächelte immer noch freundlich. »Wesley, 33. Infanterieregiment, Dublin!«

Der bärtige Kabuli schüttelte den Kopf und schob Arthur durch das Gewühl zu einer der Steintreppen, die zu den Kontoren und Wohnräumen der Handelsherren führte. Man machte den beiden Männern großzügig Platz, und der Offizier bemerkte, wie manch einer die Hände vor der Brust kreuzte und sein Haupt vor Lutuf Ullah beugte. »Wesley-Sahib aus Dublin, es war trotzdem keine kluge Idee von dir, alleine hierher zu kommen. Sei mein Gast, dann werde ich dir ein paar Männer geben, die dich über den Hoogley nach Fort William zurückbringen. Die schlimmen Tage des >Schwarzen Lochs< liegen noch nicht so weit zurück!«

Arthur senkte kurz das Haupt vor dem Kabuli und dankte ihm für die Einladung.

»Nicht doch, Wesley-Sahib! Du darfst in diesem Land nie vor einem Mann zu Boden blicken, sonst wird er sagen, du fürchtest ihn und bist ihm unterlegen. Wenn du einen Mann achtest oder höflich sein willst, dann blicke ihm gerade in die Augen. Du trägst den Rock eines Obersten des Königs. Damit bist du ein bedeutender Mann hier.«

Arthur schmunzelte. »Danke für die Schulstunde, Lutuf Ullah. Darüber stand in meinen klugen Büchern leider nichts. Wo hast du gelernt, unsere Sprache so gut zu sprechen?«

Der Kabuli antwortete mit einer Gegenfrage, während er die schwere, mit Eisen beschlagene Holztür zu seinen Wohnräumen aufstieß. »Wo hast du unsere Sprache gelernt?« Er klatschte in die Hände, und zwei verschleierte Frauen tauchten auf. In einer völlig fremden Mundart fuhr er sie scharf an, und sie verschwanden sofort wieder in einem mit Teppichen verhängten Nebenzimmer. »Zwei meiner Weiber«, erklärte er Arthur. »Sie werden uns Essen bringen und Pfefferminztee.« Er wies auf einen Haufen bunt bestickter Kissen, die scheinbar achtlos um einen schweren Teppich herum lagen.

Arthur hatte auf der Überfahrt gelesen, dass die meisten Stämme Indiens nicht an Tischen saßen, sondern auf dem Boden hockend speisten. Also ließ er sich auf der einen Seite des Teppichs nieder, während

Lutuf Ullah sich in die Kissen auf der anderen Seite fallen ließ. »Du bist mir noch eine Antwort schuldig, Wesley-Sahib.«

»Ich habe auf der Überfahrt von England viel gelesen«, seufzte er. »Ich kann eure Sprache lesen und sogar schreiben. Ich war als Kind für drei Jahre das Pfand für das Ehrenwort meines Vaters.«

»Du meinst eine Geisel?«

»Aber, aber, Wesley-Sahib! Das ist kein schönes Wort. Hastings-Sahib war ein weiser Mann. Er sprach nie von Geiseln, nur davon, dass er ein Pfand im Austausch für das Ehrenwort meines Vaters wollte ... das Ehrenwort, eure Handelsniederlassungen entlang der großen Straße nicht ständig mit einem Schutzgeld zu belasten.«

»Du meinst plündern.«

»Wesley-Sahib! Benutz doch nicht solch schreckliche Worte! Unsere Sprache ist farbig und bietet viele Möglichkeiten, über gewichtige Probleme zu sprechen und sinnvolle Lösungen zu finden, ohne einander zu verletzen.« Die grünen Augen des Kabuli funkelten munter.