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Marattha König Zweier Welten Teil 1

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John war der dienstälteste Unteroffizier des Regiments und ein Mann mit makelloser Vergangenheit. Bevor er den Rock des Königs angezogen hatte, war er ein wohlhabender Bauer in den schottischen Bergen gewesen. Nur der Tod seiner Frau und seiner drei Kinder, die von einer schlimmen Pockenepidemie dahingerafft worden waren, hatte ihn dazu bewogen, in die Armee einzutreten. Er war nicht aus Not oder wegen eines kriminellen Aktes den Trommeln des Anwerbungssergeanten gefolgt, sondern weil er – aus Trauer – mit seiner Heimat und seiner Vergangenheit brechen wollte. Als Arthur zum 33. Regiment gekommen war, hatte Dunn dem jungen, unerfahrenen und linkischen Offizier oft diskret geholfen. Im Verlauf der letzten drei Jahre waren aus dem Vertrauensverhältnis gegenseitige Wertschätzung und Respekt geworden. Arthur und Dunn hatten sich auf eine für die britischen Landstreitkräfte ungewöhnliche, ja gefährliche

Gratwanderung begeben: Wenn niemand in der Nähe war, gestanden sie sich ein, dass sie eigentlich gute Freunde waren!

Der Oberst schloss sorgfältig die Tür seines Zimmers, während der Sergeant-Major sich aufmachte, Kerzen in dem kleinen Raum anzuzünden. »Sir, ich glaube, die Männer verstehen nicht, dass es in diesem warmen, schwülen Klima notwendig ist, sich täglich mit Seewasser gründlich zu waschen und mindestens einmal pro Woche die Hängematten zu säubern. Sie schlafen so dicht gedrängt, dass der kleinste Floh, den der eine hat, sofort auf die restlichen 149 Rotröcke überspringt. Major Shee versteht es auch nicht. Er war die ganze Überfahrt nur damit beschäftigt ...« Er stockte und warf Arthur einen gequälten Blick zu, während dieser seinen Uniformrock auszog und sich bequem in einen Sessel fallen ließ.

»Sprechen Sie es doch einfach aus, John! Wir beide wissen es, und jeder bis hinunter zum jüngsten Trommlerjungen weiß es: Shee hat seine Tage mit Kartenspielen und seine Nächte mit Saufen zugebracht.« Der Oberst wies mit der Hand auf den zweiten Sessel im Raum und gebot seinem Zahlmeister, Platz zu nehmen.

Dunns Reaktion auf die harte und geradlinige Aussage seines Kommandeurs war nur ein leichtes, trauriges Lächeln.

»Sie sollten mir alles erzählen, mein Freund. Ich war diese fünfzehn langen Wochen nicht mit dem Regiment auf See, deswegen werde ich Major Shee gegenüber nicht mit der Faust auf den Tisch schlagen ... noch nicht.«

Dunn fuhr sich müde mit der Hand über die Augen und schüttelte den Kopf. »Sir, wenn Rob Seward weiterhin in einer von Shees Kompanien bleibt, wird der junge Mann bald keine Sergeantenstreifen mehr auf dem Ärmel tragen, sondern die Striemen der Neunschwänzigen auf dem Rücken!«

»Zwischen Shee und einem Tanz mit der Katze stehe immer noch ich, John. So leicht bindet man mir Seward nicht zwischen die Hellebarden.«

»Rob wird Shee in den nächsten Tagen den Schädel einschlagen, wenn dieser nicht aufhört, Miss Mary zu belästigen. Die Soldatenfrauen müssen Sewards Frau schon vor dem Major verstecken. Er macht dem Mädchen gegenüber bei jeder Gelegenheit anzügliche Bemerkungen, oder er versucht gar, sie zu betatschen.«

»Gütiger Himmel, die Kleine ist kaum achtzehn Jahre alt und stammt aus einer strengen, katholischen Familie. In der Klosterschule hat man sie unterrichtet und dann dem guten Rob zur Frau gegeben. Und der wacht über sie wie ein Zerberus. Warten Sie, John, bis wir in Indien sind. Ich will Shee in flagranti erwischen, und dann reiße ich ihm die Epauletten von der Schulter. Sagen Sie, mein Freund, brauchen Sie nicht dringend einen Stellvertreter? Ich habe das Gefühl, dieser ganze Papierkrieg ist ein bisschen viel für einen einzelnen Mann.« Oberst Wesley verzog das Gesicht zu einem hinterhältigen Grinsen. Er wollte Ruhe und Ordnung in seinem Regiment. Doch Major Shee hatte es schon seit langer Zeit darauf angelegt, die Harmonie zwischen Kommandeur und Soldaten zu stören. Da es keine legalen Mittel gab, den ständig betrunkenen und bösartigen Offizier loszuwerden, beschloss Arthur, ihn einfach auszumanövrieren.

John Dunn nickte zustimmend. »In diesem Fall muss Robin – zusammen mit Miss Mary – aber von der Warwick auf die Argonaut überwechseln, damit ich die lange Fahrt nach Kalkutta nutzen kann, meinen Assistenten mit der Buchführung und dem ganzen administrativen Kram vertraut zu machen.«

»Unbedingt, John! Ich glaube nicht, dass wir vor Ort viel Zeit haben werden, uns mit solchen Dinge zu beschäftigen. Sie werden als erstes gemeinsam losziehen und die Versorgung der Männer sicherstellen. Sir Marmaduke Orford, der gerade aus Fort St. George angekommen ist, hat mir berichtet, wie unruhig die Lage im Dekkan ist, und ich nehme an, dass wir sofort ins Feld geschickt werden.«

Zufrieden blickten sich der alte Sergeant-Major und der junge Oberst an. Dann erhob sich Wesley von seinem bequemen Sessel, holte zwei Gläser von einer kleinen Kommode und füllte sie mit Brandy. Ein Glas drückte er Dunn in die Hand. Nachdem die beiden Männer getrunken hatten, verabschiedete sich der Sergeant-Major. Arthur löschte alle Kerzen bis auf eine und setzte sich mit Sir Charles Smiths Wörterbüchern an den Arbeitstisch. Er hatte eine lange Nacht vor sich. Jeden Tag studierte er mindestens fünf Stunden die Sprachen und die Besonderheiten des künftigen Kriegsschauplatzes. Der Nachmittag mit Henrietta im Garten war ein Vergnügen gewesen, das ihn nicht von seinen guten Vorsätzen abhalten durfte.

Wie Oberst Henry Harvey Ashton vermutet hatte, blieb das 33. Regiment vierzehn Tage in Kapstadt. Die Schiffe der Ostindischen Kompanie wurden repariert, frischer Proviant und Trinkwasser für die fünfmonatige Fahrt vom Kap nach Kalkutta wurden geladen, das Pulver und die Munition der Geschütze überprüft. Die Seeleute flickten die Segel und teerten sorgfältig die Rümpfe der Schiffe, denn der Seeweg über den Indischen Ozean, vorbei an Madagaskar und der Île-de-France, entlang der Küsten der Malediven und Ceylons bis in die Bucht von Bengalen und schließlich durch die Gangesmündung nach Fort William war nicht ungefährlich. Außer französischen und amerikanischen Kaperschiffen drohten auch noch Sommerstürme und unberechenbare Winde.

Wesley hatte jeden einzelnen Tag an Land damit verbracht, mit den Mitgliedern der britischen Kolonie in Kapstadt zu sprechen, die auf dem Rückweg aus Indien waren. Sir Marmaduke Orford hatte es sich nicht nehmen lassen, den jungen Wesley in seinen Bekanntenkreis einzuführen, denn im Verlauf einiger gemeinsamer Abendessen hatte er den Oberst zu schätzen gelernt. Der hohe königliche Beamte vermutete, dass England schon bald von Wesley hören würde, wenn seine Gesundheit dem mörderischen Klima und den Seuchen und Krankheiten, die den Subkontinent heimsuchten, standhielt. In den zwanzig Jahren, die er in Indien verbracht hatte, war Orford vielen Offizieren begegnet – Männern mit einem Patent des Königs und Männern mit einem Patent von »John Company« –, doch nie war ihm einer begegnet, der so schnell so viel begriff und bereits Schlussfolgerungen über ein Gebiet und eine politische Lage zu ziehen vermochte, obwohl er noch nicht einmal seinen Fuß auf indischen Boden gesetzt hatte.

Während Arthur der kleinen Henrietta mit einem spielerischen Kniefall am anderen Ende des Gartens einen Strauß Jasmin in die Hand drückte, flüsterte Sir Marmaduke Lady Julia zu: »Wissen Sie, meine Liebe, es wird der Tag kommen, an dem wir unseren Freunden in England erzählen können, dass wir diesen jungen Offizier schon kannten, als er noch ein Oberst war. Wenn das Klima oder der Krieg ihn nicht umbringen, wächst hier ein großer Soldat heran und vielleicht sogar mehr als das.«

»Der junge Ashton hat mir vor ein paar Tagen erzählt, dass man ihm während des unglückseligen Flandernfeldzugs bereits eine eigene Brigade unterstellt hat. Wesley war damals gerade dreiundzwanzig Jahre alt. Und der Junge muss seine Sache wirklich gut gemacht haben. Die Schulterstücke trägt er nicht, weil Lord Mornington ihm das Patent gekauft hat ...«

Lady Julia schenkte Sir Marmaduke Tee nach und beobachtete weiter amüsiert, wie Arthur Miss Henrietta den Hof machte. Sie hatte nicht das Gefühl, dass es mehr als ein Spiel war, bei dem weder die eine noch die andere Seite zu Schaden kam. So ernsthaft Oberstleutnant John Sherbrooke Jemima umwarb, so unverfänglich und eindeutig war doch Wesleys Verhalten der jüngeren Schwester gegenüber. Seine graublauen Augen sahen ein Kind, das amüsiert werden wollte, und er tat genau das, was ein älterer Bruder tun würde: Wenn Henrietta Tennis spielen wollte, dann war er ein williges Opfer, eifrig bemüht, das Mädchen gewinnen zu lassen. Auf der Tanzfläche gestattete er ihr, ihn zu tyrannisieren.

In den Blicken, die er ihr zuwarf, konnte Lady Julia keine Leidenschaft oder andere Gefühle lesen. Es war spöttisches oder belustigtes Augenzwinkern oder gespielte Unzufriedenheit, wenn die Kleine zu forsch wurde. Einmal hatte die alte Dame beobachtet, wie Henrietta versuchte, einen Kuss zu provozieren. Bekommen hatte sie einen Nasenstüber und schallendes Gelächter. Lady Julia machte sich nicht einmal mehr die Mühe, ein wachsames Auge auf den Oberst und die Tochter von Sir Charles Smith zu werfen. Sie war erfahren genug, um zu begreifen, dass der junge Mann nach Indien fuhr, um seinen Weg zu gehen. Er würde sich nicht mit einer Frau belasten. Er hatte das Schwert gewählt, auch wenn Henrietta sicher insgeheim hoffte, sie könnte den Sieg über seine Ambitionen doch noch davontragen.

»Arthur, wann werdet ihr Kapstadt verlassen?« erkundigte sich die jüngere Tochter von Sir Charles Smith. In ihrer Stimme lag ein Hauch von Sorge.

Der Offizier nahm freundschaftlich die kleine Hand des Mädchens in die seine und führte sie zu einer Bank, die unter einem Zitronenbaum stand. »Setz dich ein bisschen zu mir, Henrietta. Ich glaube, wir müssen uns ernsthaft miteinander unterhalten.« Obwohl sein Verhalten eindeutig war, schien die junge Dame nicht zu verstehen, dass es in seinem Leben keinen Platz für andere Gefühle gab als Freundschaft und Kameradschaft. Die Schiffe würden in zwei Tagen in See stechen, und er hatte beschlossen, ehrlich und offen zu sein.

 

Henrietta hatte sich ganz dicht neben ihn gesetzt und ihre Hand auf seinen Arm gelegt. Der Blick, den sie dem Offizier zuwarf, war alles andere als ermutigend. Das Paar blauer Augen strahlte, genährt von der Hoffnung, er würde die verhängnisvollen Worte aussprechen, auf die sie so sehr wartete.

Er erinnerte sich genau: Kurz bevor das Regiment nach Flandern in den Krieg gezogen war, hatte Kitty ihn mit genau denselben Augen angesehen, nur waren es nicht klare, blaue Saphire gewesen, sondern tiefbraune, kostbare Topase. »Henrietta, wie alt bist du eigentlich?« begann er sein schwieriges Vorhaben.

»Beinahe achtzehn, Arthur. In zwei Monaten.«

»Du weißt, dass wir in achtundvierzig Stunden auslaufen?« Es war nicht einfach, die richtigen Worte zu finden. Die Saphire strahlten unwiderstehlich. Das Fohlen war reizend und würde eines Tages zu einer wunderbaren Frau erblühen. Irgendwie ähnelte Henrietta Kitty so, wie er sie in Erinnerung behalten wollte: verspielt, lebenslustig, lebendig und mit einem wachen Verstand. Es wäre so einfach, seine Niederlage in Irland mit fünf kurzen Worten unter einem schwer tragenden Zitronenbaum in einem Garten am anderen Ende der Welt wettzumachen. Doch zwischen diesen Worten und seinem persönlichen Glück stand Indien, ein eiserner Vorsatz, ein Schwur, der wichtiger war als Liebe, Zärtlichkeit, Zuneigung und eine eigene Familie. »Ich habe dich in der kurzen Zeit hier in Kapstadt wirklich liebgewonnen, Henrietta.« Seine Stimme war unsicher, und er hatte Angst, in die strahlend blauen Saphire zu blicken. »Trotzdem ist es sinnlos. Wenn ich dir jetzt die Frage stelle, auf die du wartest, wirst du an deinem zwanzigsten Geburtstag mit großer Wahrscheinlichkeit bereits Schwarz tragen.«

»Was willst du mir erklären, Arthur?« Die Stimme des Mädchens hatte sich plötzlich verändert. Sie hatte nichts Kindliches, Verspieltes mehr. Wesley hatte sie nicht angesehen, sondern geradeaus geblickt. Er hatte das Gefühl, dass neben ihm nicht mehr die kaum achtzehnjährige Henrietta saß, sondern eine reife, erwachsene Frau. Er wandte sich ihr zu und nahm ihre Hände ganz sanft in die seinen. Jetzt war seine Stimme nicht mehr unsicher, sondern fest und kalt.

»Du weißt, dass ich Soldat bin. Und ich fahre nach Indien, um in einen Krieg zu ziehen. Du hast etwas Besseres verdient, als die Frau eines Berufsoffiziers zu werden. Du würdest nur deine jungen Jahre damit zubringen, auf einen Mann zu warten, der nie da ist, wenn du ihn brauchst. Bei jedem Klopfen an deine Tür wäre dein erster Gedanke, dass irgendein anderer Mann in einer roten Uniform auftaucht, um dir zu sagen, dass der, auf den du wartest, nie wieder zurückkommt.« »Nicht alle Soldaten fallen, mein Lieber!« erwiderte Henrietta spöttisch. »Manche werden sogar ziemlich alt und sterben in ihren Betten an Herzversagen.«

»Henrietta, ich kann nur Freundschaft geben.«

»Sir John Sherbrooke hat offenbar weniger Bedenken als du – und das, obwohl er sicher in denselben Krieg zieht, in den auch du ziehen wirst«, stichelte die Stimme neben Wesley. Henrietta war zwar noch ein junges Mädchen, aber sie war nicht dumm. Als Tochter eines berühmten Gelehrten aus einer großen Familie von Akademikern hatte man auf ihre Erziehung viel Wert gelegt. Sie konnte durchaus mit Worten umgehen.

»John Sherbrooke ist John Sherbrooke. Er hat seine Einstellung zum Leben, und er muss seine Verantwortung tragen. Vielleicht sorgt er sich nicht um Jemima. Wenn ihm etwas zustoßen sollte, kann er mit der Gewissheit die Augen schließen, dass eine ganze Horde von Sherbrookes – Vater, Brüder, Cousins – existiert, die sich rührend um die Witwe des gefallenen Helden kümmern wird und weder Mühe noch Kosten scheut, um eine ganze Brigade unglücklicher Halbwaisen standesgemäß großzuziehen.«

»Du hast auch eine Familie, Arthur!« Henrietta gab sich nicht so einfach geschlagen. Oberst Wesley argumentierte logisch und bediente sich schlüssiger Argumente. Doch jeder seiner Thesen konnte man begegnen.

»Meine Liebe, wenn du jemals in die Lage kommen würdest, vom guten Herz meiner reizenden Familie abhängig zu werden, würdest du den Tag verfluchen, an dem du mich überredet hättest, dir einen Antrag zu machen. Die Wesleys und Morningtons würden dich eher an der Pforte von Dungan Castle vor Hunger sterben sehen, als auch nur einen Bediensteten mit einer Schüssel Suppe zu schicken. Und ich selbst kann dir nichts bieten, außer einem Offizierspatent und den Schulden meines Vaters.« Arthurs Stimme hatte einen bösen, zynischen Klang bekommen. Jedes Mal, wenn er von den Wesleys und Morningtons sprach, erfüllte ihn unbändiger Hass, ein Hass, den er nicht zu unterdrücken vermochte.

Henrietta spürte seinen Gefühlswandel. Während der Tage am Kap und im Garten von Sir Marmaduke hatte sie viel über Richard Lord Mornington gehört. Die meisten hatten mit Ehrfurcht und Bewunderung über diesen Mann gesprochen, seine Aktionen im Aufsichtsrat der Ostindischen Kompanie gelobt oder von seinen glänzenden Gesetzesvorschlägen im Unterhaus berichtet und davon, dass er ein enger Freund des britischen Premierministers war und das Ohr der Regierung hatte. Einige besonders wagemutige Gäste hatten seinen Namen sogar mit dem Amt des nächsten Außenministers oder Finanzministers der Insel in Verbindung gebracht. Immer wenn die anderen über Mornington philosophierten, verfinsterte sich Arthurs Miene. Seine abgetragene Uniform, die offensichtliche finanzielle Not, unter der er litt, und dieser sonderbare Gesichtsausdruck hatten Henrietta mehr über das Verhältnis zwischen ihm und seiner Familie erzählt als seine letzten, hasserfüllten Worte. »Und wenn das Schicksal es gut mit dir meint, Arthur, und wenn du in Indien dein Glück machst?«

»Wir werden sehen, Henrietta. Darf ich dir einen Rat geben ...« Er schaute ihr tief in die blauen Augen und hielt ihre kleinen Hände ganz fest.

»Gib mir deinen guten Rat, Arthur, und sei mir nicht böse, weil ich so forsch gewesen bin.« Sie hatte verstanden, dass Wesley seinen Weg gewählt hatte und – aus irgendeinem geheimnisvollen Grund – um nichts in der Welt Zugeständnisse machen konnte.

»Du bist noch so jung und hast ein ganzes Leben vor dir. Du wirst viele nette Menschen kennenlernen. Wähle dir einen, der sein Herz nur dir schenkt und keine so anspruchsvolle Geliebte hat wie die Armee. Lasse mich in zwei Tagen ziehen und behalte die schönen Stunden in Erinnerung, die wir miteinander verbringen durften. Und dann, irgendwann, triffst du deine Entscheidung. Ich werde dich ab und an besuchen, und du kannst dann selbst sehen, ob du wirklich irgendetwas für mich empfindest. Gib dir selbst Zeit und gib mir Zeit. Wenn es das Schicksal gut mit mir meint und ich mein Glück in Indien mache, dann kommt vielleicht der Tag, an dem ich dir diese schwerwiegende Frage stellen kann, ohne von deinem Vater wie ein räudiger Hund aus dem Haus gejagt zu werden.«

»Arthur, Papa würde dich nicht ...«

»O doch, Henrietta! Er würde! Er liebt sein Kind und will nur dein Bestes. Er wird deine Hand nicht an einen unbedeutenden, mittellosen Oberst wegwerfen, der noch nicht einmal einen Titel führt, und der dir auf irgendeinem abgelegenen Außenposten im Dschungel ein Leben bietet, das nicht viel besser ist als das der einfachen Soldatenfrauen ...«

Kapitel 3 Geheimnisvolles Indien

Der Hoogley war breit und schmutzig braun. Die Befestigungsanlagen aus grauem Granit, die von den Briten am östlichen Ufer des Flusses erst vor wenigen Jahren fertiggestellt worden waren, hoben sich scharf von den grünen und weißen Tönen ab, die die Stadt Kalkutta beherrschten. Zahllose Handelsschiffe der Ostindischen Kompanie lagen in einem riesigen Hafenbecken vor Anker. Sie waren Kriegsschiffen nicht unähnlich, nur um vieles größer und beeindruckender. Die Fregatten der Royal Navy, die zwischen ihnen in der braunen Brühe vor sich hin dümpelten, glichen Spielzeugfähren.

Die Handels- und Kriegsschiffe hatten sonnengebleichte, strahlend weiße Segel, und an den meisten waren während der langen Reise von England nach Indien behelfsmäßige Reparaturarbeiten durchgeführt worden. Diese Schiffe waren – wie die Truppentransporter mit Wesleys 33. Regiment – gerade erst angekommen und hatten Waren, britische Untertanen und Soldaten in die Kolonie gebracht. Die meisten dieser Menschen gingen enthusiastisch und voller Hoffnungen an Land, ganz gleich, aus welcher Gesellschaftsschicht oder Berufsgruppe sie stammten. Geschichten über den unermesslichen Reichtum und die unbegrenzten Möglichkeiten in einem fernen, geheimnisvollen Land hatten sie dazu bewogen, ihrer Heimat den Rücken zu kehren und ein neues Leben zu beginnen. Auch die Männer des 33. Infanterieregiments machten hier keine Ausnahme. Nur Arthur Wesley, der junge Oberst, der ein ganzes Jahr lang vom großen Tag der Ausschiffung in Kalkutta geträumt hatte, fand den geheimnisvollen Osten auf den ersten Blick weniger einladend, als die Literatur in seinen großen Reisetruhen ihn Seite um Seite geschildert hatte.

Er war neun Monate auf See gewesen. Sechs davon auf dem überfüllten Transportschiff Argonaut. Tag für Tag hatte er Bücher verschlungen, die von sagenhaftem Reichtum, märchenhaften Bauwerken, exotischen Tieren und all den Düften des Orients erzählten. Und jetzt, zweihundert Meter von den Landestegen und der neuen Welt entfernt, bot sich ihm – auf den ersten Blick – ein schockierendes Bild. »Gütiger Himmel!« sagte er leise zu sich selbst. »Der märchenhafte Orient stinkt wie eine Latrine.« Seine Augen glitten entsetzt über Hunderte von Bettlern, die den ganzen Kai zu belagern schienen und ihre Hände gierig nach den Neuankömmlingen ausstreckten. Die Fährleute, die sich auf ihren klapprigen Kähnen den Handelsschiffen näherten, sahen nicht viel besser aus als die wilde Horde an Land. In einem absonderlichen Englisch boten sie den Offizieren an, sie mit ihrem Gepäck auszuschiffen.

»Glaubst du nicht, es wäre besser, wir würden schwimmen, Arthur?« erkundigte sich Sir John Sherbrooke zynisch. Er hatte sechs endlos erscheinende Monate lang die Kabine mit seinem Kommandeur geteilt. Für jede leidenschaftliche Ode an die schöne Jemima Smith, die Arthur hatte ertragen müssen, war John ausführlich erläutert worden, welch wunderbares Abenteuer sie alle im zauberhaften Indien erwartete.

»Also, ich hab da was Interessantes gelesen ...«, setzte Wesley an, während er sich von seinem Schock erholte und interessiert eine der Fähren fixierte, die sich der Argonaut mit schneckenhafter Geschwindigkeit näherte. Das Boot ähnelte den länglichen, silbernen Obstschalen, die in England so beliebt waren. Doch anstatt aus stabilem Metall gegossen zu sein, war die Fähre aus hauchdünnen Planken zusammengenagelt. Ihr Deck schien mit hellen Rundhölzern bedeckt, und wenn man genau hinsah, erkannte man schlammiges Wasser im Rumpf. Bei jedem Schlag des großen Ruders am Heck knarrte es besorgniserregend, und der Fährmann schien sein Gleichgewicht nur mit äußerster Anstrengung zu halten, denn die Fähre schlingerte wie ein Stück Seife auf dem Hoogley.

»Von zehn Briten, die in Kalkutta ausschiffen, fahren nur drei wieder lebend nach Hause zurück, und nur einer von fünfundzwanzig fährt mit einem Vermögen in der Tasche wieder heim nach Europa. Was Soldaten anbetrifft, sieht diese verdammte Statistik sogar noch schlechter aus: Wenn dein Regiment mit 850 Mann ausschifft, dann schifft es mit 250 wieder ein, meist unter einem anderen Kommandeur«, unterrichtete er fröhlich seinen Freund Sherbrooke.

»Arthur, hör auf, mir aus deinen Büchern vorzutragen. Ich kenne sie auswendig. Du hast mich seit Kapstadt jeden Abend stundenlang gequält ...«

»Wenn du mir nicht gerade mit Jemima in den Ohren gelegen hast ...« Wesley gab dem schmierigen Fährmann Zeichen. Vielleicht sah ja nur der Hafen von Kalkutta furchterregend aus, und der märchenhafte Orient befand sich irgendwo hinter den Kais. Cork und Portsmouth waren auch nicht gerade die Perlen Albions und Erins, und erst die Themse bei Southwark ... Außerdem war er jung und abenteuerlustig, und er hatte sich nicht nach Indien gemeldet, um sich in einer Welt wiederzufinden, die Covent Garden im Herzen Londons glich. Das bunte und laute Treiben im Hafen machte ihn neugierig. »Los, John! Vergiss die Kleine und komm mit! Bringen wir unsere Männer an Land. Anschließend werden wir uns gemeinsam ein wenig umsehen! Ich bin mir sicher, wir werden uns königlich amüsieren!« Das 33. Infanterieregiment war Teil einer Verstärkung, die in die Kolonie verschickt worden war, weil Großbritannien wieder blutig mit Frankreich rang. Während des Siebenjährigen Krieges hatte die Kontinentalmacht all ihre befestigten Häfen auf dem Subkontinent an die Briten verloren, und es war den Bourbonen und schließlich dem revolutionären Regime nicht gelungen, diese Stellungen zurückzuerobern. Lediglich die unbefestigten Häfen Pondicherry und Mahé waren der jungen Republik geblieben, obwohl sie auf den Schlachtfeldern Europas die große Koalition der alten Monarchien beständig demütigte. Zugleich wuchs das Interesse Frankreichs am Orient, und William Pitts Regierung erwartete Angriffe gegen die Straße nach Indien und gegen die Kolonie selbst.

 

»Unser Gepäck lassen wir vorerst an Bord«, entschied Wesley, als die klapprige Fähre neben der Argonaut an der Steuerbordseite festmachte.

»Gepäck? Welches Gepäck, Arthur?« murmelte John Sherbrooke ungehalten. »Den Inhalt der beiden großen Kisten hast du inzwischen gelesen, und den Sattel und das Zaumzeug kannst du dir über die Schulter werfen. Bei mir sieht es leider anders aus ...«

Der Kommandeur des 33. Regiments überhörte die Bemerkung seines Freundes und machte sich daran, die langen Beine über die Reling auf die oberste Sprosse einer Schiffsleiter zu befördern. Der märchenhafte Orient lag kaum zweihundert Meter von ihm entfernt auf der anderen Seite des Hoogley, und in Anbetracht des wunderbaren

Abenteuers, das ihn und sein Regiment bald erwartete, erschienen ihm Oberstleutnant Sherbrookes Argumente kleinkrämerisch und unerheblich. Er musste unbedingt seine frisch erworbenen Sprachkenntnisse ausprobieren und sich mit seinem künftigen Kriegsschauplatz vertraut machen.

Mit einer fordernden Geste streckte der schmierige Fährmann dem jungen Obersten seine Hand entgegen. Das Boot knarrte bedenklich unter dem zusätzlichen Gewicht des Passagiers. Arthur schenkte dem Knarren und Schaukeln keine Beachtung.

»Wieviel?« warf er dem Mann forsch entgegen. Als einzige Antwort verzog sich das Gesicht des Inders zu einer erstaunten Grimasse. Der junge Offizier versuchte es noch einmal. Jetzt antwortete man ihm in einem sonderbaren, kaum verständlichen Englisch. Irgendwo hatte Arthur gelesen, dass zehn Rupien ein Pfund Sterling ausmachten! »Gauner!« entfuhr es ihm auf Hindustani. Der Fährmann hatte acht Annas gefordert, um zwei Passagiere zweihundert Meter weit zu rudern. Acht Annas entsprachen elf englischen Pennies. Er stellte in diesem Augenblick erstaunt fest, dass seine intensiven Sprachstudien an Bord der Caroline und der Argonaut doch nicht vergebens gewesen waren, denn mit seinem empörten Aufschrei hatte der Gesichtsausdruck des Fährmanns sich gewandelt, und der Inder grinste den Iren freundlich an. »Sahib, ich wollte Euch nicht bestehlen. Ich dachte nur ... Gebt mir vier Annas für die Überfahrt. Dann hole ich auch Euer Gepäck von Bord und bringe es an Land.«

Angespornt durch seinen ersten Erfolg, mühte Arthur sich nun ab, dem Inder in ungelenkem Hindustani zu erläutern, dass sein Entschluss ein weiser wäre, während er gleichzeitig John Sherbrooke zu sich auf die Fähre winkte. Wie durch ein Wunder brachte das klapprige Boot beide Passagiere sicher bis zu den Kais von Kalkutta. Arthur drückte dem Fährmann sechs englische Pennies in die Hand, die dieser widerspruchslos und offenbar hochzufrieden akzeptierte. Zum Abschied wagte der Offizier dann noch einmal einen Versuch auf Hindustani: »Laß unser Gepäck auf dem Schiff und sag mir lieber, wo sich hier der >killdar< befindet.«

Lachend schüttelte der Fährmann den Kopf und antwortete in seinem gebrochenen Englisch: »Für den Stadtkommandanten habt Ihr morgen noch Zeit, Sahib. Aber der Hafenkommandant sitzt in dem großen weißen Gebäude direkt gegenüber.«

»Hast du dir diese verrückte Sprache etwa auf der Überfahrt angeeignet, Arthur?« erkundigte sich John Sherbrooke. In seiner Stimme lagen Bewunderung und Staunen.

»Ich hab’s zumindest versucht«, murmelte Wesley, während er sich seinen Weg durch die graubraune Masse ausgestreckter Bettlerhände bahnte. Es kostete den jungen Offizier einiges an Selbstbeherrschung, ernst dreinzuschauen und seine neugierigen Augen, die so gerne nach links und rechts schweifen wollten, um den wundersamen Ort genau zu betrachten, unter Kontrolle zu halten.

Irgendwo in seinen klugen Büchern hatte er gelesen, dass es üblich war, den Bettlern Almosen zuzustecken, denn die Inder glaubten, eine gute Tat im jetzigen Leben würde Glück bringen, und sie würden dann, im nächsten Leben, in eine höhere, bessere Klasse oder Kaste hineingeboren werden. Also steckte er immer wieder der einen oder anderen schmutzigen Hand einen englischen Farthing zu.

Hinter ihm machte Sir John Sherbrooke sich ganz dünn, um nicht mit diesen sonderbaren, übelriechenden Geschöpfen in Berührung zu kommen. Man hatte ihm von den schlimmsten, ansteckenden Krankheiten erzählt, und seine Versetzung nach Indien beunruhigte den wohlhabenden Sohn eines unermeßlich reichen schottischen Adeligen mehr, als er offen vor seinem Kommandeur zugeben wollte. Seine Augen fixierten den roten Uniformrock von Wesley, als ob er Angst hätte, sich in dem Menschengewirr und an diesem unbekannten, schrecklichen Ort zu verirren.

Geschickt und wendig wich Arthur Trägern mit schweren Lasten auf dem Kopf aus. Ab und an verscheuchte er mit einer lockeren Handbewegung Fliegen, die hier allgegenwärtig schienen und ohne Unterschied Arm und Reich, Briten und Inder plagten.

Das Gebäude, das der Lastschiffer vom Hoogley ihm beschrieben hatte, konnte er schon deutlich ausmachen. Wohltuend hoben sich europäische Ordnung und Sauberkeit von einer unförmigen, weiß gekalkten und bunt bemalten Ansammlung krummer und schiefer Häuschen ab, vor denen Händler ihre Waren auslegten, Schneider um Kunden warben oder Frauen in farbenfrohen, eng um den Körper geschlungenen Tüchern eine warme Mahlzeit anboten.

»Dem Himmel sei Dank!« entfuhr es John Sherbrooke, als die beiden Offiziere endlich im Büro des Hafenmeisters ankamen.

»Schade, dass wir uns in den nächsten paar Tagen nur mit dem Ausschiffen und Einquartieren des Regiments beschäftigen werden. Ich muss mir unbedingt die ganze Stadt ansehen«, flüsterte Arthur dem Freund vor Aufregung atemlos zu. Die Tücher der Frauen nannte man Saris, und die Gerichte, die sie feilboten, waren curry, calipash, calipee und vor allem dosa, dünne Pfannkuchen, gefüllt mit Kartoffeln oder Eiern. Über die Schneider und Barbiere hatte er auch viele eigentümliche Dinge gelesen. Er war erst sechsundzwanzig, und die neue Welt um ihn herum faszinierte ihn. Doch er faßte sich schnell wieder, setzte seine dienstliche Miene auf und stellte sich dem britischen Hafenmeister von Kalkutta vor. Bis das 33. Regiment ausgeschifft und versorgt war, hieß es: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.

In England und Irland war der Februar üblicherweise ein feuchter und kalter Wintermonat. In Bengalen, unterhalb der fruchtbaren Ebene des Ganges und zur Linken und Rechten von unzähligen Flüssen eingekesselt, war es ein glühend heißer Monat, in dem nicht ein Tropfen Regen, nicht ein Windhauch Erleichterung brachten. Tausende von Insekten schienen nur eines im Sinn zu haben: sich auf das frische Blut der Offiziere und Mannschaften des 33. Infanterieregiments zu stürzen und jeden der Neuankömmlinge bis auf den letzten Tropfen auszusaugen! Keiner von ihnen war an dieses Klima gewöhnt, und jeder, vom Trommlerjungen bis hinauf zu den Offizieren, litt am Tage unter der erdrückenden Hitze und in den schwülen Nächten unter den unbarmherzigen Blutsaugern.