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Marattha König Zweier Welten Teil 1

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Die Männer hatten tapfer gekämpft, doch ihr nobler Anführer und seine unfähige Bande von speichelleckenden und katzbuckelnden Handlangern hatten jeden Fehler begangen, den ein Offizier nur begehen konnte. Nicht der Feind hatte die stolze Streitmacht dezimiert, sondern ein Mangel an Proviant, warmer Kleidung, medizinischer Versorgung und vor allem – vernünftiger Führung. Nachdem sie einen schrecklichen Winter mit eisigen Schneestürmen durchlitten hatten, konnte Frederick Augustus nichts anderes tun, als die dezimierten Truppen von Bremen aus nach England zu evakuieren.

Manchmal, wenn er die Augen schloss, sah Arthur die tapferen Soldaten seines 33. Regiments vor sich: Auf dem Rückzug über die Leck, die Ems, die Weser und die Alle waren sie erfroren, in den eisigen Wassern der vier Flüsse ertrunken, an Wundbrand krepiert – oder einfach vor Erschöpfung tot umgefallen. An dem Tag, an dem er gemeinsam mit dem Skelett seines Regiments wieder Fuß auf irischen Boden gesetzt hatte, hatte er sich geschworen, die Fehler dieser alten, verkalkten Militärhierarchie unter keinen Umständen zu kopieren, sollte man ihm jemals ein eigenständiges Kommando anvertrauen. Er wollte es anders machen und vor allem besser.

Dass er an diesem ersten Tag der zweiten Septemberwoche des Jahres 1796 seinen Fuß in Kapstadt an Land setzte und nicht auf einer vom Sturm gepeitschten, unwirtlichen kleinen Insel im Nordatlantik, verdankte der junge Offizier dennoch indirekt den Fehlern des zweiten Sohns seines Königs, Georg III. Wenn sie nicht so gut wie jede Auseinandersetzung mit den französischen Truppen in Europa verloren hätten, wären die Herren in Whitehall und St. James – verzweifelt und gedemütigt – vermutlich nie auf die Idee gekommen, Commodore Elphistone von der Königlichen Kriegsmarine zu beauftragen, General Clarke und jeden einzelnen Rotrock, der auf der britischen Besitzung St. Helena im Nordatlantik abkömmlich war, zu verschiffen und nach Südafrika zu bringen.

Bis zur britischen Niederlage im Flandernfeldzug war die von Batavia abhängige, kontinentale holländische Besitzung den Briten freundlich gesinnt gewesen. Mit der Niederlage des Herzogs von York sah die Krone sich auf der Seestraße nach Indien plötzlich mit den französischen Revolutionstruppen konfrontiert. Nicht mehr nur von Mauritius aus bedrohten Freibeuter unter der Trikolore die Konvois der britischen Ostindischen Kompanie. Die großen, sicheren und sorgfältig ausgebauten Hafenanlagen in der Tafelbucht und in der Simon's Bay hatten es dem Direktorium in Paris ermöglicht, Dutzende von schnellen Kaperschiffen loszuschicken und den lebensnotwendigen Warenaustausch zwischen zwei kleinen Inseln im Atlantik und den Kolonien am anderen Ende der Welt zu unterbrechen.

Zunächst hatten Commodore Elphistone und General Clarke den Franzosen und den zweitausendachthundert holländischen Soldaten in Kapstadt ein Ultimatum gestellt und einen Brief des Prinzen von Oranien an seine treuen Untertanen verlesen lassen. Als die Männer unter der Trikolore und ihre neuen Freunde nur spöttisch gelacht und abgewinkt hatten, waren die Rotröcke bis nach Simonstown am anderen Ende des Kaps der Guten Hoffnung gesegelt, in einer spektakulären Operation an Land gegangen und über die Mujzenberge, Wynberg und die Tafelberge auf Kapstadt marschiert. Sie hatten sich mit Waffengewalt genommen, was man ihnen freiwillig nicht hatte geben wollen.

General Alured Clarke war es gelungen, seine vier Bataillone in eine schlagkräftige Miniaturarmee zu verwandeln und einen zahlenmäßig weit überlegenen Feind so geschickt auszumanövrieren, dass bei diesem waghalsigen Handstreich nur ein britischer Soldat getötet und siebzehn Soldaten verletzt worden waren.

Auf der Überfahrt hatte der junge Oberst des 33. Regiments die Meisterleistung Clarkes eingehend studiert. Sofort nach dem Fall und der Besetzung von Kapstadt hatte die Krone Verstärkung ins südliche Afrika geschickt, wohl wissend, dass Frankreich und sein holländischer Verbündeter von Batavia und Mauritius aus versuchen würden, den strategisch wichtigen Hafen zurückzuerobern. Bereits sechs Monate nach Sir Alureds Glanzleistung waren holländische Kriegsschiffe in der Tafelbucht aufgetaucht. Doch zur See war niemand Großbritannien gewachsen.

Während Kapitän Page Befehl gab, die Passagiere der Caroline mit Schaluppen an Land zu bringen, betrachtete Arthur nachdenklich die Wracks der Holländer in der Rade.

Kaum hatte der Offizier seinen Fuß an Land gesetzt, verflog seine ernste Stimmung zusammen mit den trüben Gedanken über den Flandernfeldzug. Als er in Portsmouth an Bord der Caroline gegangen war, hatte niemand sich die Mühe gemacht, ihn zu begleiten. Doch am Kai des Hafens von Kapstadt erwartete ihn ein ganzes Empfangskomitee: Nicht nur Oberstleutnant John Sherbrooke, Major West, Major Shee und alle jüngeren Offiziere des 33. Regiments begrüßten den leicht irritierten Neuankömmling, auch ein alter Freund aus irischen Kindertagen hatte den weiten Weg aus der Stadt bis zur Festung und den Landestegen nicht gescheut: Oberst Henry Harvey Ashton vom 12. Infanterieregiment umarmte Wesley herzlich.

»Arthur, du siehst aus, als wärst du schon auf dem Rückweg von Indien nach England! « sagte Ashton und grinste. Die meisten der Passagiere der Caroline hatten sich bleich, erschöpft und abgemagert aus den Schaluppen auf den festen afrikanischen Boden geschleppt. Der Ire hatte einen munteren Sprung in sein neues, freies Leben gemacht. Die sieben Wochen auf See hatten ihn schwarzbraun gefärbt, und dank der ungewohnt reichlichen und regelmäßigen Mahlzeiten, die der zuvorkommende Kapitän ihm Tag für Tag hatte auftischen lassen, saß sein schäbiger Waffenrock auf Fleisch und nicht mehr auf Knochen.

»Seit wann seid ihr in Kapstadt? « war seine erste Frage nach der

Begrüßungszeremonie. Arthur hatte Ashton den Arm um die Schulter gelegt und strebte forsch vom Kai weg zu einer Gruppe von Pferden, die ein Mann im unverkennbaren roten Waffenrock, mit den roten und silbernen Aufschlägen seines Regiments, festhielt.

»Die Truppentransporter sind erst vor drei Tagen eingelaufen, Sir! « war John Sherbrookes Antwort. » Und die Männer sind alle gesund und wohlauf! Wir haben niemanden auf den Krankenlisten stehen! Außerdem hat ein guter Geist dafür gesorgt, dass des Königs Shillings vor dem 33. Regiment in Südafrika eingetroffen sind! «

Wesley warf seinem Kameraden einen erleichterten Blick zu. Die Konten seines Regiments waren schon seit Jahren ein Thema, das ihn ständig in Unruhe versetzte. Der nominelle Oberst des 33. Regiments, Lord Charles Cornwallis, hatte sich bis zur faktischen Übernahme der Einheit durch Arthur in finanziellen Dingen so sorglos gezeigt, dass ein Schuldenberg von 3039 Pfund Sterling bei verschiedenen Lieferanten in Irland aufgetürmt worden war. Den Shilling des Königs hatte der gute Lord lieber in die eigene Tasche anstatt in die Ausrüstung und Versorgung seiner Männer gesteckt.

Durch geschicktes Balancieren mit den Konten und beruhigende Gespräche mit den wütenden Gläubigern war es dem jungen Oberst Wesley innerhalb von drei Jahren gelungen, einen Waffenstillstand auszuhandeln und zu erreichen, dass die Lieferanten nicht bereits an der Quelle abzogen, was für seine Rotröcke lebensnotwendig war. Dann hatte er den alten Cornwallis mühsam davon überzeugt, dass es für die Ehre des Regiments und für seinen eigenen Ruf besser wäre, wenn man vor der Verschickung in die Kronkolonie Ordnung schuf. Sir Charles hatte es schließlich vorgezogen, den lästigen, drängelnden jungen Offizier mittels eines Wechsels auf seine Londoner Bank loszuwerden. Damit war das 33. Regiment schuldenfrei auf dem Weg in sein großes Abenteuer, und Arthur konnte endlich seine so sehnsüchtig erwarteten Rückstände von drei Jahren Sold einstreichen. Alle Abzüge, die Cornwallis vorgenommen hatte, waren von Arthur mit seinem eigenen Sold ausgeglichen worden. Er hatte eher die Zähne zusammengebissen, als zuzulassen, dass seine Soldaten in schäbigen Uniformen herumliefen oder am Hungertuch nagten.

John Sherbrooke zwinkerte seinem Freund und Kommandeur munter zu. Er kam aus einer sehr wohlhabenden Familie und war durch Einkünfte aus Grund und Boden unabhängig, doch er wusste nur zu gut um die missliche finanzielle Situation von Oberst Wesley und seine geradezu krankhafte Sorge, was das 33. Regiment betraf.

»Ihr werdet frühestens in vierzehn Tagen wieder in See stechen, Arthur! « mischte Ashton sich in das Zwiegespräch seiner Kameraden ein. »Ich bin hier ganz nett untergekommen, und man kann sich in dieser hübschen Stadt sehr angenehm die Zeit vertreiben! Heute abend werden die Herren des West Riding eine Einladung des East Suffolk doch sicher nicht ablehnen?«

Wesleys junge Offiziere und Oberstleutnant Sherbrooke warfen ihrem Kommandeur flehende Blicke zu. Sie hatten noch nicht die Gelegenheit gehabt, sich in Kapstadt zu amüsieren. Wegen der langsamen Truppentransporter war das 33. Regiment fünfzehn Wochen auf See gewesen, und alle sehnten sich nach einem kräftigen Schluck in guter Gesellschaft.

Arthur runzelte nachdenklich die Stirn. Einerseits hatte er sich bei seiner Abreise aus England vorgenommen, nächtliche Saufgelage und andere Ausschweifungen zu vermeiden, um sich ernsthaft dem Soldatenhandwerk zu widmen. Andererseits wäre es ein Affront, die Einladung von Oberst Ashton ohne guten Grund abzulehnen. »Wir kommen, Harvey! Lasse mir nur ein wenig Zeit, nach meinen Soldaten zu sehen und dafür zu sorgen, dass es ihnen an nichts fehlt.«

»Ich schicke meinen Adjutanten, Hauptmann Elers, pünktlich um sieben Uhr zu euren Frachtkähnen, Arthur! Und keine faulen Ausreden ... Wenn ihr heute Abend nicht aufkreuzt, dann kannst du morgen früh gleich mit deinem Sekundanten zu mir kommen!« scherzte der Kommandeur des 12. Infanterieregiments. Er war ein netter, umgänglicher Kerl, aber irgendwie geriet er ständig aus unerfindlichen Gründen in Duelle oder gar Wirtshausschlägereien. Nun war er bereits seit zehn Tagen am Kap der Guten Hoffnung und hatte immer noch nicht die Klingen gekreuzt. Diese Ruhe stimmte den heißblütigen Offizier so misstrauisch, dass er sogar seinen gerade erst dem Meer entstiegenen Freund aus Kindertagen ärgern musste. Arthur schüttelte verzweifelt den Kopf.

 

Kapitel 2 Henriettas Hoffnung

Pünktlich um sieben Uhr standen ein Oberst, ein Oberstleutnant, zwei Majore, drei Hauptleute und mehrere blutjunge Leutnants und Fähnriche sauber herausgeputzt und mit blitzblanken Reitstiefeln vor einem großen, im holländischen Kolonialstil gehaltenen Gebäude in der Stadtmitte von Capetown.

»Gludenstackstraaten?« erkundigte Arthur sich bei einem halbnackten, dunkelhäutigen Mann, der müßig auf einer hölzernen Treppe vor einer geräumigen Veranda lungerte. Die Antwort war unverständlich und schien nur aus Umlauten zu bestehen.

»Das ist Holländisch, Sir!« erklärte der muntere Major West seinem gestrengen Vorgesetzten.

Arthurs düstere Mine hellte sich auf: »Sie verstehen diesen Menschen, Francis?«

»Kein einziges Wort, Sir! Aber als wir damals in Flandern waren, da klang es so ähnlich!«

Während Major West sich für seine vorlaute Äußerung einen missmutigen Blick von Oberst Wesley gefallen lassen musste, wurde die beeindruckende Pforte, die die Veranda mit dem Inneren des luxuriösen Gebäudes verband, wie von Geisterhand geöffnet, und ein Farbiger in aufwendiger Livree, die in der schwülen Hitze von Kapstadt denkbar ungeeignet sein musste, verbeugte sich tief vor den Offizieren des 33. Infanterieregiments des Königs.

»Mylord Ashton und die Damen erwarten Sie bereits!« hörte man nun in einem leidlich guten Englisch. Der Dunkelhäutige verbeugte sich erneut und wies ihnen dann den Weg ins Innere des prachtvollen Hauses.

Schließlich fanden sich alle in einem riesigen, feudal möblierten Raum wieder, in dem die Damen und Herren der vornehmen Gesellschaft sich bereits zusammengefunden hatten. Ein Tisch aus exotischem Holz zog sich wie eine lange Straße von einem Ende des Speisezimmers bis zum anderen. Britische Uniformen mischten sich bunt mit Abendgarderoben, und Oberst Ashton selbst stand der Gesellschaft am Kopfende des Tisches vor. Er wirkte ziemlich angeheitert. Zu seiner Linken saß ein unirdisches Geschöpf mit blondem, zu einer komplizierten Frisur hochgestecktem Haar und schneeweißer Haut. Ein Gebilde aus hellblauer und cremefarbener Seide, das Arthur so filigran erschien, dass er es auf den ersten Blick nicht als Kleid zu identifizieren vermochte, wogte zwischen Stuhl, Tisch und Boden, wie die Wellen des Nordatlantiks. Ein Paar strahlend blauer Augen blickte verzückt zu Henry und einem großen Kristallgefäß, das offenbar mit einem alkoholischen Getränk gefüllt war.

Der junge Oberst des 33. Regiments kannte die Regeln: Zwei Pint Claret oder Champagner auf einen Zug, ohne abzusetzen! Es war ein idiotisches kleines Spiel, mit dem die Herren Offiziere zu beweisen versuchten, dass sie richtige Männer waren. Er hatte es oft genug selbst gespielt ...

Rechts neben Ashton saß ein weiteres Geschöpf in üppiger Abendgarderobe. Die Dame war brünett und kreidebleich. Auch in ihren blauen Augen lag ein Ausdruck der Bewunderung.

»Weiber!« fuhr es Arthur durch den Kopf, während er sich missmutig auf einen wenig exponierten Platz an einer Ecke des Tisches fallen ließ. Oberstleutnant Sherbrooke hatte derweil schon mindestens zehn breite Schultern in einem Anfall überschwänglicher Wiedersehensfreude blau geschlagen. Major Shee umarmte hingebungsvoll einen großen Kristallkelch mit einer hellgelben Flüssigkeit. Der Lärmpegel im Raum konnte nur mit einem Schlachtfeld verglichen werden. Wild klangen Stimmen aus dem 33. und 12. Regiment durcheinander. Ab und an wurden diese Stimmen von hohen, schrillen Tönen durchbrochen.

»Weiber!« fuhr es Arthur wieder durch den Kopf. Doch gleichzeitig hörte er die innere Stimme der Vernunft rufen: »Kitty! Du meinst Kitty, du Narr!«

Irgendwie gelang es dem jungen Oberst in dem ganzen Trubel, den Krug mit dem Wasser zu sich zu ziehen und sein großes Kristallglas bis zum Rand zu füllen. Während die anderen in einem angeheiterten Zustand Flasche um Flasche entkorkten und in unendlich weite Soldatenkehlen schütteten, nippte er nachdenklich an seinem Glas und versteckte sich hinter einer unüberwindlichen Mauer aus verbohrtem Schweigen und schlechter Laune.

Plötzlich legte sich von hinten eine Hand auf seine Schulter, und eine vertraute Stimme flüsterte ihm durch den Lärm zu: »Was soll diese griesgrämige Trauermiene?« Henry Ashton hatte sich von seinem großen Glas und den beiden Schönen an seiner Seite losgerissen, einen jungen Offizier vom Platz neben Wesley vertrieben und sich selbst zu seinem Freund gesetzt. Obwohl er seit der Eröffnung des fröhlichen Saufgelages, die wohl zwei oder drei Stunden vor der Ankunft der Kameraden des 33. Regiments gelegen haben musste, vollauf damit beschäftigt gewesen war, seine jungen Herren bei Laune zu halten, und sicher schon weitaus mehr getrunken hatte, als ein vernünftiger Soldat es in einem solch heißen und ungesunden Klima tun sollte, war ihm doch nicht entgangen, dass Arthur an der ganzen Abendgesellschaft nicht teilnahm, sondern nur – fast wie ein armer Sünder – die Zeit absaß, zu der er verdammt worden war. Was für ein Unterschied zwischen den gemeinsamen Jugendtagen in Dublin und London und dieser Vorstellung am Tisch des Kommandeurs des 12. Regiments! Henry wusste nicht, was er davon halten sollte. Und Wesley wollte ihm die Sache nicht leichter machen: Er hatte beschlossen, sein Leben zu ändern, doch diese Entscheidung ging keinen Menschen auf der Welt etwas an.

»Laß gut sein, Henry! Eine lange Seereise ist nichts für die Infanterie! Ich hab das Meer noch nie richtig vertragen!« schwindelte er. »Du hast mir die beiden Ladys an deiner Seite noch gar nicht vorgestellt«, lenkte er dann vom leidigen Thema der Ausschweifungen in britischen Offiziersmessen ab.

»Das reizende blonde Geschöpf ist Jemima Smith, die älteste Tochter von Sir Charles Smith, dem Orientalisten. Und die Dunkelhaarige ist ihre jüngere Schwester Henrietta. Ich soll die beiden in Madras abliefern. Sie haben vor einiger Zeit das Pensionat verlassen und fahren zu ihrem Vater. Übrigens, weder die eine noch die andere kleine Lady ist verheiratet!«

Ashton zog den Oberst von seinem bequemen Platz und in Richtung Jemima und Henrietta.

Die nächsten Tage am Kap verliefen angenehm und ruhig. Zuerst hatte Arthur dafür gesorgt, dass die Männer des 33. Infanterieregiments ihre Transportschiffe zumindest tagsüber verlassen konnten. Damit sie nicht wild wurden und aus dem Ruder liefen, beschäftigte man sie mit Waffendrill, ein paar Märschen hinauf in die Tafelberge und Schießübungen. »John Company« hatte genug Geld in den Kassen, um die paar hundert Schuss Munition zu verkraften, die das 33. Regiment außer der Reihe verbrauchte. Schließlich sollten die Rotröcke in Indien sofort einsatzfähig sein.

Doch entgegen seiner sonstigen Gewohnheit überließ Arthur die Männer den Majoren Shee und West. Er hatte für sich und seine Nummer zwei, John Sherbrooke, ein anderes Arbeitsprogramm zusammengestellt: Seit Kapstadt sich fest in britischer Hand befand, war es nicht nur zu einer obligatorischen Zwischenstation auf dem Rückweg von Indien nach Europa geworden, sondern auch zu einem Ort, an dem die Beamten Seiner Majestät und der Ostindischen Kompanie Erholung vom krankheitserregenden Klima des Subkontinents suchten. Wenn man seine Ohren aufsperrte und an den Stellen herumlungerte, wo diese Heimkehrer und Erholungssuchenden sich aufhielten, dann konnte man – so vermutete der junge Offizier – sicher eine ganze Menge wertvoller Informationen aufschnappen. John Sherbrooke widersprach seinem gestrengen Vorgesetzten natürlich nicht. Es war viel angenehmer, mit der hübschen Jemima Smith am Arm durch Kapstadt zu ziehen, als oben in den Tafelbergen herumzurennen und auf imaginäre Feinde zu feuern. Wesley hatte sich die jüngere Henrietta von Oberst Ashton »ausgeliehen«, wie er es zynisch zu nennen pflegte. Doch John Sherbrooke konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass die zynische Bemerkung seines Chefs nur eine Schutzbehauptung war. Er und Arthur waren gerade einmal sechsundzwanzig Jahre alt, und bei aller Ernsthaftigkeit, die sie in ihrem Soldatenberuf an den Tag legten, waren sie doch nicht viel mehr als große, verspielte Kinder, die sich amüsieren und austoben mussten.

Bei ihrem gemeinsamen Spaziergang durch den hübschen botanischen Garten am Fuß der Tafelberge waren die vier jungen Leute natürlich auch anderen Spaziergängern aus gutem Hause begegnet. Jemima und Henrietta waren mit Henry Harvey Ashton schon vor einiger Zeit am Kap angekommen und wohlbekannt mit den Mitgliedern der kleinen britischen Kolonie. Natürlich hatte eine der vornehmen Damen Sir Charles’ Töchter sofort gefragt, wer denn ihre Begleiter in den schmucken roten Uniformen des Königs seien. Als man feststellte, dass auch die Herren Offiziere aus guten Familien kamen, ließ die Einladung zum Tee nicht lange auf sich warten.

Während Arthur Henrietta den Stuhl hinschob, konnte er sich nicht mehr zurückhalten und ließ die Augen dezent über ihre hübschen Schultern und ihren Nacken gleiten. Ohne ihre opulente Abendgarderobe, in einem einfachen Musselinkleid und das dunkle Haar locker hochgesteckt, sah die Kleine hinreißend aus. Außerdem hatte sie strahlend blaue Augen, denen man kaum widerstehen konnte.

Zufrieden ließ der Oberst sich an ihrer Seite nieder. Ihre Gastgeber waren auf dem Rückweg aus Fort St. George nach England und machten drei Monate Station am Kap, um sich zu erholen. Sir Marmaduke Orford war lange Jahre der Surveyor-General of the Ordonances von Lord Hobart, dem Gouverneur von Madras, gewesen. Nun hatte er seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert und befunden, dass zwanzig Jahre Dienst in Indien ausreichend seien. Die Orfords wollten nach Kent, wo ihre beiden Töchter mit einem Leutnant zur See, Wentworth, und einem Geographen, Hauptmann Philip Morgan, verheiratet waren. Sir Marmaduke hatte auf dem Subkontinent sein Glück gemacht und fuhr mit prall gefüllten Taschen nach Europa.

»So, so, Sie sind also einer der jüngeren Brüder von Lord Mornington! Wir haben viel miteinander zu tun gehabt, Ihr werter Bruder und ich. Seitdem er in den Aufsichtsrat der Kompanie berufen wurde, hat sich einiges verändert. Ein bemerkenswerter Mann, Mornington. Und ein enger Vertrauter des Premierministers. Sie werden es mit eigenen Augen sehen, junger Freund. All diese Unarten und Ausschweifungen, für die unsere überseeischen Besitzungen inzwischen berüchtigt sind, werden bald ein Ende haben. Keine dubashery mehr. Und wer dabei erwischt wird, Schmiergeld zu nehmen, der wandert ins Gefängnis.«

»Korruption!« übersetzte Arthur leise für John Sherbrooke, der seine Passage ans Kap der Guten Hoffnung nicht mit Studien der Landessprachen Indiens ausgefüllt hatte. Dann blickte der Oberst entschuldigend die Damen am Tisch an. »Ich möchte Ihnen diesen Nachmittag nicht verderben, Lady Julia, Miss Henrietta, Miss Jemima, aber Sir Marmaduke berichtet so interessante Dinge, dass ich ihm gerne einige Fragen stellen würde, wenn Sie gestatten!«

Lady Orford nickte dem Offizier freundlich zu, die beiden Töchter von Sir Charles Smith ergaben sich in ihr Schicksal. Obwohl Henrietta diese politischen Gespräche ausgesprochen langweilig fand, setzte sie doch ihr gewinnendstes Lächeln auf. Im Vergleich zu der Abendgesellschaft in Henry Ashtons Haus, bei der Wesley ihr ausgesprochen trübselig und fade vorgekommen war, schien er ihr außerhalb der alkohol- und tabakgeschwängerten Offiziersmesse ein ganz bemerkenswerter Vertreter des stärkeren Geschlechts zu sein. Er sprühte über vor Leben, seine graublauen Augen funkelten munter, während er den alten Sir Marmaduke über seine Adlernase hinweg ins Kreuzverhör nahm. Seine abgetragene Uniform fiel der jungen Frau an diesem sonnigen Nachmittag in einem blühenden Garten gar nicht mehr auf, denn im Gegensatz zu vielen Offizieren, denen sie zu Hause in England vorgestellt worden war, legte er großen Wert darauf, dass alles ordentlich und sauber war, und irgendwie verschwand seine so offensichtliche pekuniäre Not hinter einem freundlichen und umgänglichen Wesen und einem wachen Verstand. Sie bedauerte ein wenig, dass der hübsche junge Offizier in diesem Augenblick seine ganze Aufmerksamkeit nur Sir Marmaduke schenkte und keinen Blick für sie übrig hatte.

 

Der alte General hatte dazu angesetzt, die Lage im Karnatik zu schildern, der indischen Provinz, die sich wie eine Schlange entlang der Coramandel-Küste zog und mit vier britischen Besitzungen auf dem Subkontinent gemeinsame Grenzlinien hatte.

Henrietta verstand, dass es an diesen Grenzen nicht immer ruhig zuging. Jenseits des Karnatik lag Mysore, dessen Herrscher mit den revolutionären Franzosen verbündet war. Immer wieder stieß er mit seinen bewaffneten Räubern gegen die Handelsposten der Ostindischen Kompanie auf britischem Gebiet vor und raubte der ehrenwerten Gesellschaft die Früchte ihrer Arbeit. Lord Clive war bereits einmal gegen ihn gezogen und hatte die befestigte Hauptstadt Seringapatam belagert. Doch die Vorräte waren im Verlauf eines endlosen Tauziehens vor den starken Mauern ausgegangen, und die Soldaten starben im grausamen Klima Südindiens wie die Fliegen. Clive hatte seine Geschütze zerstört und sich dann mit gesenktem Haupt vor dem Vater Tippu-Sultans zurückgezogen.

Während Sir Marmaduke berichtete, zog sich auch Oberstleutnant John Sherbrooke zurück, allerdings nicht gedemütigt wie der große Clive, sondern am Arm der schönen Jemima.

Die älteste Tochter von Sir Charles Smith war eine leidenschaftliche Herzensbrecherin. Aus diesem Grunde begleitete Lady Julia Orford die beiden jungen Leute auf ihrem Spaziergang durch den Garten. Doch sie war anständig genug, ein wenig Abstand zu halten und so das sanfte Turteln der Tauben nicht zu stören.

Während Sherbrooke Jemima kleine Komplimente machte und unablässig mit ihr plauderte, lauschte Arthur gebannt den Worten von Sir Marmaduke. Erst als der Tag zum Abend wurde und der Anstand es gebot, sich zurückzuziehen, um der Dame und dem Herrn des Hauses zu gestatten, sich zum Dinner umzukleiden, bemerkte Wesley, dass die kleine Lady immer noch brav neben ihm saß. Er legte den Kopf schief und sah sie an wie ein trauriger Cockerspaniel. »Miss Henrietta, es tut mir leid, Ihnen den ganzen Nachmittag mit diesem endlosen Gespräch über Indien verdorben zu haben. Sie müssen mich für einen ungehobelten irischen Bauerntölpel halten!«

Orford schmunzelte, während die junge Frau beschwichtigend ihre Hand auf den Arm des Offiziers legte. »Nicht doch, Oberst Wesley! Ich fand es sehr anregend, Ihnen und Sir Marmaduke zuzuhören! Als mein Vater seine persische Grammatik verfasst hat, da habe ich ihm auch immer gerne zugehört, wenn er von Indien erzählte. Es muss ein faszinierendes Land sein! Ich kann es kaum noch erwarten, in Fort St. George anzukommen und mit eigenen Augen zu sehen, was man mir in meinen Kindertagen immer so lebhaft beschrieben hat!«

Orford räusperte sich. »Wesley, ich werde Ihnen natürlich ein Empfehlungsschreiben für Sir Charles mitgeben. Ich glaube, Sie sollten ihn unbedingt sehen und sich ausführlich mit ihm unterhalten. Er ist ein intimer Kenner der gesamten politischen Lage in den unabhängigen Gebieten, und er kann Ihnen sicher viele Dinge über Tippu, den Rajah von Bullum oder den Peshwa erklären, die mir als einfachem Finanzbeamten Seiner Majestät verschlossen geblieben sind.«

Henrietta lächelte Sir Marmaduke wie eine Verschwörerin an. Sie war der Idee, den jungen Oberst des 33. Regiments als Gast ihres Vaters in seinem Haus in Poonamallee zu sehen, nicht abgeneigt. Schließlich hatte Sir Charles seine Töchter zu sich nach Indien geholt, um sie zu verheiraten.

Arthur hatte seine Enttäuschung mit Miss Pakenham zwar noch nicht überwunden, aber dieser Schmerz machte ihn nicht blind. Der Blick war seinem wachsamen Augenpaar nicht entgangen, und noch weniger entgingen ihm die vielen anderen Blicke, die Miss Henrietta ihm ganz unverfroren und selbstbewusst zuwarf. Wie alt mochte die Kleine sein? Achtzehn, vielleicht neunzehn Jahre. Er würde Ashton fragen. Diskret natürlich. Er hatte keinesfalls vor, auf das Fohlen hereinzufallen. Aber nichts sprach dagegen, sich im Rahmen des Anstands und der Ehre eines Gentlemans mit ihr zu vergnügen.

Als er sie aus dem Augenwinkel betrachtete, ging ihm durch den Kopf: »Du bist viel zu gut für einen Soldaten, bei dem du nicht weißt, ob er zurückkommt, oder ob er dich an deinem zwanzigsten Geburtstag bereits zur Witwe macht.« Er zog seine Uhr aus der Tasche und ließ den Deckel aufschnappen. Es war bereits nach fünf am Nachmittag, und es ziemte sich nicht, Sir Marmaduke und Lady Julia weiter zu belästigen. »Mit Ihrer Erlaubnis«, er verbeugte sich leicht vor Orford, »werden Oberstleutnant Sherbrooke und ich die Ladys jetzt nach Hause geleiten. Oberst Ashton hat Sir Charles versprochen, gut auf Miss Henrietta und Miss Jemima aufzupassen, und wir möchten nicht, dass er sich um seine beiden Schutzbefohlenen sorgt!«

Henrietta konnte ihre Enttäuschung über Wesleys vernünftigen Entschluss nur mit Mühe verbergen. Sir Marmaduke erwiderte die Verbeugung mit einem Augenzwinkern. »Kommen Sie morgen zum Dinner, Oberst! Ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen ein paar Freunde vorstellen dürfte, die Ihren Wissensdurst über Indien besser zu befriedigen verstehen als ich! Um sieben Uhr also, und selbstverständlich sind Oberst Ashton, Oberstleutnant Sherbrooke und die beiden jungen Damen ebenfalls eingeladen. Lady Julia und ich genießen es, in geselliger Runde zu speisen.«

»Zu gütig von Ihnen, Sir. Sherbrooke und ich nehmen Ihre Einladung mit Freuden an, und was Miss Henrietta und Miss Jemima betrifft, werden wir Oberst Ashton um seine Zustimmung bitten!« Arthur bot der jüngeren der beiden Smith-Töchter seinen Arm an. Dann ging er mit ihr zu Lady Julia, um sich für die Einladung zu bedanken und sich zu verabschieden.

John Sherbrooke verstand ohne Worte, dass sein Kommandeur beschlossen hatte, den vergnüglichen Teil des Tages zu beenden. Er verbeugte sich galant vor der alten Dame und folgte Arthur durch den Garten der Orfords.

Kapstadt war eine reiche und europäisch geprägte Stadt. Es bereitete zu dieser Tageszeit keine Schwierigkeiten, eine Droschke zu bekommen. Noch vor sechs Uhr abends befanden Jemima und Henrietta sich wieder in Henry Harvey Ashtons Obhut, die Einladung für den folgenden Tag war abgestimmt worden, und die beiden Offiziere des 33. Infanterieregiments machten sich auf den Weg zu ihren eigenen Quartieren am Hafen, unweit des Kais, an dem die Transportschiffe der Soldaten festgemacht waren.

Arthur hatte sich für diese bescheideneren und weniger eleganten Unterkünfte entschieden, um näher bei seinen Männern zu sein.

Während die jungen Offiziere Sherbrooke, West und Shee das muntere Nachtleben von Kapstadt genießen durften, zog er es vor, gemeinsam mit dem Zahlmeister des Regiments, Sergeant-Major John Dunn, zu arbeiten. Viele Dinge mussten besorgt werden, bevor die riesigen Schiffe wieder in See stachen. Auf der Überfahrt von England nach Afrika hatten sich einige Nachlässigkeiten eingeschlichen, die Wesley missfielen und derer er für das längere Stück der Reise Herr zu werden gedachte.

Der Teil des Regiments, der Major West anvertraut und auf drei Schiffen untergebracht worden war, befand sich in Bestform. Die Männer sahen ausgeruht und gesund aus und besaßen eine glänzende Moral. Die, die unter Shee nach Kapstadt gekommen waren, machten einen anderen Eindruck auf den Offizier. Er kannte jeden seiner 733 Soldaten mit Namen. Er wusste um die Vergangenheit seiner Männer, um ihre Vorzüge und um ihre Charakterschwächen. Wenn er sich ein bisschen anstrengte, gelang es ihm sogar, fast wörtlich die Einträge auf den 733 Blättern des Regimentsbuches aufzusagen: Größe, Gewicht, Physiognomie, Bestrafungen und Auszeichnungen, Dienstjahre und Familienstand. Arthur hing mit derselben Leidenschaft und Liebe an seinem West Riding, die ein Mann in seinem Alter normalerweise der Dame seines Herzens zuteilwerden ließ. Nachdem er sicher war, dass all seine Offiziere fort waren und die Soldaten sich vollständig auf den Transportschiffen befanden, gab er Sergeant-Major Dunn ein Zeichen, ihm zu folgen.