Buch lesen: «Montag oder Die Reise nach innen», Seite 5

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Ich starrte Montag ungläubig an. Die Leichtigkeit, mit der er von einem harmlos erscheinenden inneren Phänomen wie den Gefühlen, die sich mit unseren Wahrnehmungen verbinden, zu den Problemen der Geschichte gelangt war, löste so etwas wie ein Erdbeben in mir aus.

»Es sind nur Bilder – du erinnerst dich? Projektionen unseres Inneren für verschiedene abstrakte Realitäten, um die unser Leben kreist. Es sind Lügen, mit denen wir uns selbst beschwichtigen und unsere Angst vor der grenzenlosen Vielgestaltigkeit des Lebens besänftigen, die uns in diesem groben Zustand des Bewusstseins erdrücken würde. Primitive Krücken für schlichte Seelen, die noch nicht ganz dem Kindesalter entwachsen sind.«

10

Für Anfang Februar war das Wetter erstaunlich sonnig. Der Schnee auf den Eisflächen schmolz. Die Bäume reckten ihre schwarzen Äste in den blauen Himmel. Das Haus in der Stadt erschien mir nicht mehr so schrecklich wie am Anfang, ich hatte die Idylle des alten Felssteinbaus auf dem Lande schon vergessen.

Ich fuhr mit Anne-Marie Schlitten in den Hügeln südlich der Stadt, wo wir hofften, nicht von Piper überrascht zu werden. Das Verhältnis zu ihrem Bruder war ein kleines Mysterium für mich. Einerseits schien sie ihn zu bewundern, andererseits war manchmal so etwas wie Verachtung in ihrer Stimme zu spüren, wenn sie über ihn sprach.

Nach den Schlittentouren tranken wir oft einen heißen Grog im Café der Behindertenschule oberhalb der Bushaltestelle. Das Café war ein Unikum, weil man dort allen Ernstes versuchte, die geistig Zurückgebliebenen in die Gesellschaft einzugliedern. Da saßen nun all die sabbernden, zitternden, blödelnden Jugendlichen und starrten ihre wohlmeinenden Gleichaltrigen an wie Tiere im Zoo. Keine der beiden Parteien wagte sich jemals zur anderen hinüber. Es war, als befinde sich eine Glasscheibe zwischen ihnen.

Aber die Getränke kosteten nur die Hälfte, und am Kiosk gab es günstige Schallplatten, das machte das Café auch für die Schüler der Umgebung interessant. Wir saßen eng umschlungen auf der geheizten Veranda, weil Piper hier niemals aufkreuzen würde.

Er hasste – wie Anne-Marie sich ausdrückte – jede Art von »geistigem Gebrechen«, das verursachte ihm Übelkeit. Es war, als müsse die Natur auf diese Weise ihre Niederlage eingestehen.

Ich erfuhr, dass Piper nicht nur der leibhaftige Teufel war, für den ich ihn immer noch hielt, sondern auch der ehrgeizigste Mensch, den man sich denken konnte.

»Er betrachtet dich als Konkurrenten«, sagte sie. »Das ist der Grund dafür, dass er dich hasst. Er kann niemanden neben sich ertragen, der mehr auf dem Kasten hat als er.«

Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass ihr Onkel mich kennenlernen sollte. Er sei ein völlig anderer Mensch als Piper und ihr Vater – tolerant, weltgewandt, offen. Er protze nicht mit seinem Geld, aber er könne es sich leisten, den Kindern seines Bruders jeden Wunsch zu erfüllen.

»Onkel Martin wird dich mögen«, sagte sie und legte ihren Kopf an meine Schulter.

Aber ich verspürte wenig Lust, ihren Onkel kennenzulernen. Ich stellte mir vor, dass Piper ins Wohnzimmer platzte, wenn wir gerade Kuchen aßen, und das reichte völlig, um mir jeden Spaß daran zu nehmen.

Außerdem war Rolo seit drei Tagen spurlos verschwunden. Er hatte einen Brief hinterlassen, in dem er sich bitter über Anjas Gemeinheiten beschwerte. Als die Polizei ihn aufgriff, sah er so zerknittert und schwarz aus wie jemand, der seine Nächte im Kohlenkeller verbracht hatte, und hustete, was das Zeug hielt.

Oberhirte hielt mir eine Standpauke, weil ich mich angeblich zu wenig um meinen Bruder gekümmert hatte.

»Ich werde an Darmkrebs sterben«, prophezeite er. »Das ist meine Bestimmung. Aber ich werde alles tun, um euch gut versorgt zu wissen, wenn ich abtrete. Dann bis du das männliche Oberhaupt der Familie, Marc. Du musst für Rolo sorgen, versprichst du mir das? Deine Mutter wird sich mit diesem Bodybuilder davonmachen, weil sie nicht in Würde alt werden kann, und Anja landet wahrscheinlich in irgendeinem Bordell, bei ihrem lockeren Lebenswandel.«

Dass er vom Liebhaber seiner Frau wusste, überraschte mich.

»Steht es denn so schlimm um deine Verdauung? Ist das ein ärztlicher Befund?«

»Ich rede nicht von den Ärzten. Die können mir nicht helfen. Mein Darm hat jede Lebenskraft verloren, er bewegt sich nicht mehr«, sagte er und legte sich mit trostloser Gebärde die Hand auf den Unterleib.

»Aber warum gleich an Krebs denken, Paps?«

»Weil ich ihn spüre, ich spüre den Krebs in mir …«

Eigentlich hatte ich nie genügend Gelegenheit gehabt, seinen Charakter zu studieren. Aber jetzt erkannte ich schlagartig, dass sein Kern aus unendlicher Weinerlichkeit bestand, aus tiefreichenden Wellen der Negativität, aus einer Empfindlichkeit, die noch die Sorge in hundert Lichtjahren Entfernung als düstere schwarze Wolke wahrnahm. Herzbaum senior litt am Leben, das war seine Bestimmung und Passion. Anstatt sich mit ihm zu arrangieren, war er – vielleicht, ohne selbst davon zu wissen – fest entschlossen, seine Reste in Form von versteinernden Exkrementen bei sich zu behalten.

»Dass viele Gefühle nicht bewusst, sondern unterbewusst sind, also am Rande des Bewusstseins liegen und uns auf unkontrollierte Weise steuern, kann man sich leicht an einem Vergleich klar machen«, fuhr Alexander Montag fort.

Wir hatten uns in die oberen Räume der Galerie zurückgezogen, weil wir den Busladungen von Besuchern entgehen wollten, die sich am vorletzten Wochenende zur Wanderausstellung Hieronymus Boschs eingefunden hatten.

»Stell dir vor, du liegst wach im Bett, Marc. Nach einer gewissen Zeit wirst du dich bewegen und deine Haltung verändern. Vielleicht drehst du dich vom Rücken auf die Seite, oder umgekehrt? Was ist der Grund dafür?«

»Schwer zu sagen. Eine Art Reflex?«

»Es ist oft ein feines Unbehagen, das sich eingestellt hat. Meist denken wir nicht bewusst: Jetzt fühle ich mich schlecht, ich sollte mich bewegen, sondern reagieren auf eine unterschwellige Erfahrung. Genau besehen sind wir in diesem Zustand Marionetten: negatives Gefühl – bewegen! Positives Gefühl – liegen bleiben! Auf ähnliche Weise verbindet sich das Gefühl mit den übrigen Wahrnehmungen.«

»Ist das denn ein Problem?«, fragte ich.

»Nicht unbedingt. Zur Gewohnheit gewordene Reaktionen nehmen uns viel Arbeit ab. Aber was, wenn dabei Verhaltensweisen erlernt werden, die uns schaden?

Dann sind wir ein Leben lang in diesem Reaktionsmuster gefangen. Es kann weder verändert noch beseitigt werden. Das ist ein Zustand von Unfreiheit, und Unfreiheit heißt immer Leiden.« Montag machte eine Pause und sah mich erwartungsvoll an. »Was bedeuten alle diese Einsichten für dich, Marc?«

»Sie meinen, ob ich verstehe, worum es geht?«

»Nein, was ist es in deinen Augen? Nur ein intellektuelles Spiel? Ein Zeitvertreib? Die Welt ist voller Geschwätz, nicht wahr? Wir füllen riesige Bibliotheken damit.«

»Es ist kein Spiel, nein …«

»Hast du begriffen, dass es nur eine Möglichkeit gibt, diesem allgegenwärtigen Geschwätz zu entgehen? Es kommt nicht auf das an, was wir denken oder glauben, sondern auf die Erfahrung. Lügen, Illusionen, Spekulationen verschwenden nur Zeit und Energie. Dann hat man sein Leben auf Sand gebaut. Das ist eine sehr schmerzliche Erkenntnis.«

»Aber glaubt denn nicht jeder zu wissen, wo es langgeht?«

»Deshalb rede ich von der authentischen Erfahrung. Unser Erziehungssystem lehrt uns viele Dinge, doch dabei übersieht man leicht das Wesentliche. Morgen Abend werde ich dir ein Werkzeug, ein Fahrzeug geben, mit dem du dich dieser inneren Wahrheit annähern wirst.«

»Und warum tun Sie das alles für mich?«, fragte ich.

»Weil ich dir helfen will, jene Holzwege zu vermeiden, die Menschen in deinem Alter in die Irre führen. Niemand auf der Welt kann voraussagen, was du aus dieser Erfahrung machst. Nutze ihre Möglichkeiten, nutze deine Freiheit! Ich werde zur Stelle sein, um dich auf deinem Weg zu begleiten, falls du das wünschst. Morgen Abend um acht Uhr in meiner Wohnung …«

11

In meiner Praxis gehen sie heutzutage ein und aus: all die Irregeleiteten vom Schlage meines Vaters, die festzuhalten versuchen, was man gar nicht festhalten kann, und seien es die eigenen Exkremente; die Blinden, die zwar über ihre Nasenspitze hinausschauen, aber nicht wirklich sehen wollen.

Viele alte Bekannte sind darunter. Selbst meine Schwester Anja verschmäht es nicht, ihrem berühmten Bruder ihre Aufwartung zu machen, um sich Rat zu holen.

Manche würden sich nie als Patienten bezeichnen. Ihr Leiden ist es, nichts erkannt und nicht gewählt zu haben. Die ursprüngliche Wirklichkeit wird immer ein Mysterium für sie bleiben. Sie schwimmen wie Fische in ihrem Aquarium, exotisch und bunt, hübsch anzusehen, aber vom Meer getrennt.

Sie kommen zu mir und sagen: »Heilen Sie mich von meinen Leiden, Doktor! Irgend etwas in meinem Solarplexus, und dann diese Kopfschmerzen. Mir geht’s wieder mal dreckig. Keine Ahnung, woran das liegt.«

Ich war mit neunundzwanzig Jahren der jüngste Universitätsprofessor in einem Fach, dem die traditionelle Psychologie und Psychiatrie lange Zeit ihre Anerkennung versagte. Doch seitdem häufen sich die Ergebnisse, und sie weisen auf einen viel weitreichenderen Einfluss unserer Gedanken auf das soziale Umfeld und das eigene Schicksal hin, als man zu Zeiten der Hypnose und Freuds Vorstellungen vom Unbewussten glaubte. Nun geben sich sogar Menschen in meiner Praxis die Klinke in die Hand, denen der Gang in die Kirche oder zu einem esoterischen Wunderheiler noch drei Atemzüge vor ihrem Tode zuviel Metaphysik gewesen wäre. Ich rede sowenig vom Jenseits, wie es mein Lehrer Alexander Montag tat. Ich rede weder von Reinkarnation, noch von Spekulationen über höhere Bewusstseinszustände, sondern von der Erfahrung höherer Bewusstseinszustände. Ich rede nicht einmal von Gott. Und trotzdem verlassen die Menschen meine Praxis und mein Institut als Geläuterte. Ich behaupte, dass es niemanden gibt, der nicht von diesem Wissen profitieren kann. Und die Erfahrung gibt mir recht. Es handelt sich weder um Glauben oder Spekulationen noch um irgendeine Art von Ideologie. Es handelt sich nicht einmal um die Hoffnung, an der es uns so oft mangelt …

Und all das hat mich ein einfacher Museumswächter gelehrt, der viele Tage lang auf seinem Stuhl saß, die Augen geschlossen, wenn es die Situation erlaubte, um sein Inneres zu erforschen, um ein paar einfache Erfahrungen und Tatsachen in ebenso einfache Begriffe zu fassen.

Doch als ich an jenem Abend Alexander Montags Wohnung betrat, ahnte ich von dieser Wende in meinem Leben noch so wenig wie ein junger Hund, dem man ein neues Dressurstück beibringt. Ich war neugierig und verspielt, ich witterte allenfalls, dass es dort irgend etwas gab, das der Mühe lohnte.

Montag bedankte sich für die Blumen, die ich ihm mitgebracht hatte und stellte sie in eine handbemalte chinesische Vase. Dann führte er mich in einen Raum, den ich bis dahin noch nicht gesehen hatte. Er war in dezentes, warmes Licht getaucht und roch nach Sandelholz. Anders als in den übrigen Zimmern gab es hier keine vollgestopften Buchregale. Die Wände waren mit einer schlichten Basttapete beklebt. Ich sah keine Bilder oder Fotos, geschweige denn Heiligenfiguren. In der Mitte des Raumes standen drei einfache hölzerne Stühle.

»Wähle den Platz, der dir am besten zusagt …«

Da die Stühle gleich aussahen, setzte ich mich so, dass ich das Fenster sehen konnte.

»Eine gute Wahl. Man hat herausgefunden, dass sich die Richtung nach Osten am besten dafür eignet.«

»Nach Osten? Hört sich ziemlich mystisch an?«

»Nein, es ist nicht mystisch. Es ist nur ein einfacher Erfahrungswert.«

Er hatte mich gebeten, an diesem Abend nichts zu essen, deshalb knurrte mir ein wenig der Magen.

»Das Fahrzeug, das ich dir geben werde, ist ein Wortklang, ein sogenanntes Mantra«, sagte Montag, während er sich auf den anderen Stuhl setzte. »Im Unterschied zu gewöhnlichen Worten hat ein Mantra keine Bedeutung für uns. Die Technik zu seinem Gebrauch ist – von einigen Vereinfachungen abgesehen – nicht neu und stammt aus den religiösen Traditionen Indiens. Doch im Kern beruht sie weder auf religiösen noch auf weltanschaulichen Vorstellungen. Es ist nicht nötig, an irgend etwas zu glauben, wenn man sie ausübt.

Genauso bedeutungslos sollte es sein, woher sie kommt, ob von den Eskimos, den Indianern oder aus dem Osten. Ihr Nutzen ist weitgehend mechanisch. Es geht nur darum, den Boden vorzubereiten.«

»Sie reden von Meditation, oder?«

»Meditation allein würde nicht ausreichen. Man hat zu allen Zeiten mentale Techniken gelehrt, aber der Erfolg war oft begrenzt. Die meisten dieser Methoden sind konzentrativ. Viele Lehrer – ganz zu schweigen von ihren Schülern – wissen gar nicht, dass es auch Techniken gibt, die keine Konzentration erfordern. Konzentrative Techniken wollen mit Gewalt erreichen, was natürlich fließen sollte.

Aber selbst die wirksamste Meditationstechnik ist lediglich vorbereitend und schafft eine gewisse mentale Verfassung, um unser Alltagsbewusstsein zu verwandeln. Auch wenn du zu den wenigen Glücklichen gehörst, die durch die kontinuierlich werdende Wahrnehmung des Selbst, das sich von der Handlung und den übrigen Wahrnehmungen als getrennt erfährt, mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit eine andere Bewusstseinsebene erreichen, sollte möglichst bald eine Periode des Erkennens, vor allem der Hauptprinzipien des Lebens und des Bewusstseins einsetzen, um Automatismen und negativen Einstellungen zu erkennen und das bisher Gewonnene durch Begriffe zu festigen.

Danach folgt die Wahl, das Setzen jener positiven Entscheidungen, die dein künftiges Leben bestimmen.«

»Sie meinen, durch Suggestion oder Hypnose?«

»Nein, das wären Taschenspielertricks. Wir gaukeln uns nicht vor, wir seien Könige, wenn wir Bettler sind. Alles, was geschieht, ist deine freie Entscheidung. So, wie du dich auch in allen anderen Bereichen frei entscheidest, falls die Möglichkeit dazu besteht.«

Montag erhob sich von seinem Stuhl und schloss das winzige Fenster zum Innenhof, obwohl von draußen kaum Geräusche zu hören waren. Nur das einförmige, sehr leise Klappern eines weit entfernten Kühlaggregats.

»Ich werde dir jetzt dein Mantra und dann die Regeln zu seinem Gebrauch geben«, sagte er, als er sich wieder gesetzt hatte. »Es ist sehr wichtig, dass du diese Anweisungen genau befolgst. Bitte sprich mir halblaut nach: Shi-ring ...«

Ich wiederholte das Wort.

»Ja, sehr gut. Die Betonung liegt auf der zweiten Silbe, hm? Man wiederholt das Mantra zweimal täglich eine Viertelstunde lang in Gedanken und mit geschlossenen Augen. Bevor du anfängst, nimmst du eine bequeme Sitzposition ein, am besten in einem ruhigen, abgedunkelten Raum.

Du lässt dir etwa zwei Minuten Zeit, ehe du mit der Wiederholung beginnst. Während dieser Phase, wie auch die ganze Meditation über, ist es sehr wichtig, den Gedanken und Gefühlen völlig freien Lauf zu lassen, gleichgültig, ob sie angenehm oder unangenehm sind. Das ist eine der beiden Hauptregeln. Gedanken und Gefühle kommen und gehen. Sie werden nicht ernst genommen, nicht analysiert, sondern einfach stehengelassen. Nach der Vorbereitungsphase beginnst du in Gedanken das Mantra zu wiederholen.

Und nun kommt das Wichtigste, die zweite Hauptregel: Dem Mantra wird keinerlei Gewalt angetan, es wird ihm keine bestimmte Form und kein bestimmter Rhythmus aufgezwungen. Jede Form – ich wiederhole: jede –, in der das Mantra erscheint, wird zugelassen, ob deutlich oder undeutlich, fein oder grob. Wir versuchen nicht, das Mantra deutlich zu denken.

Dein Verstand gibt gewissermaßen nur den Impuls zum Entstehen des Wortklangs – als drehe man einen Zündschlüssel im Schloss, und der Motor beginnt zu laufen –, lässt aber der Form genauso freien Lauf wie den übrigen Gefühlen und Gedanken.

Es mag sein, dass deine Aufmerksamkeit vom Mantra abschweift und sich anderen Objekten zuwendet.

Das ist kein Fehler, sondern ein natürlich Prozess, bei dem Energien, of negative Energien, gelöst werden. Wir tadeln uns nicht dafür, sondern kehren einfach wieder zum Mantra zurück.«

Er schwieg und sah mich aufmerksam an.

»Man konzentriert sich also auf das Mantra?«, fragte ich. »Und wozu?«

»Nein, Konzentration hieße Anstrengung, um beim Mantra zu bleiben. Man würde dem Wort eine Form aufzwingen oder es in einem bestimmten Rhythmus wiederholen, beispielsweise an den Atem gebunden.

Die Folge wären innere Spannungen. Der Prozess, den ich beschreibe, ist das genaue Gegenteil davon. Wir lassen jeden Gedanken zu und kehren auf leichte und natürliche Weise zum Mantra zurück, sobald wir eine Ablenkung bemerken. Die Betonung liegt auf leicht und natürlich

»Ich glaube, ich verstehe. Hat es irgend etwas mit der freien Assoziation in der Psychoanalyse zu tun?«

»Wir halten uns nicht mit der Analyse von Gedanken auf. Es genügt, allen Wahrnehmungen freien Lauf zu lassen. Gedanken sind oft mit Emotionen oder Gefühlen besetzt. Eine der vielen Wirkungen dieser Technik – allerdings nur eine – ist ein tiefgreifender Prozess der Desensibilisierung oder Desensitivierung. Desensibilisierungstechniken werden in der modernen Psychologie eingesetzt, um Patienten von Phobien zu befreien.

Aber Desensibilisierung kann viel weiter gehen. Im gewöhnlichen Bewusstsein bist du die Angst, das negative Gefühl, der bindende Gedanke. In dem Bewusstsein, das sich durch Meditation entwickelt, wird auf leichte, natürliche Weise eine Trennung, eine Absonderung des Selbst vorgenommen.

Was bedeutet hier Trennung? Es ist kein Verlust, sondern so etwas wie eine Gegenüberstellung, keine Flucht, sondern das Gegenteil von Verdrängung. Wo sonst nur eines war, sind jetzt zwei.

Da du das Mantra in der Meditation nicht nur einfach wiederholst, sondern ihm auch seine jeweils eigene Form zubilligst, entsteht eine Distanzierung zum Objekt deiner Aufmerksamkeit – so wie sich dann im Alltag ein Heraustreten aus dem Gefühl und Gedanken entwickelt, denn die Struktur ist dieselbe.

Die winzige Kontrollinstanz, die zulässt, was passiert, schafft eine neue Qualität! Sie organisiert das Bewusstsein um und gelangt in immer feinere Bereiche des Fühlens und Denkens. Du versinkst nicht im Mantra, löst dich nicht in ihm auf, um zu ‘vergessen’. Das wäre ein Missverständnis. Denn versinkst du nur in ihm, wirst du eins mit ihm, kann sich das Selbst als Gegenüber nicht herausbilden.

Weil dieses Gegenüber von Subjekt, also dem Selbst, und Objekt, dem Mantra – oder auch Gedanken und Gefühlen wie zum Beispiel einer Angst oder einem beliebigen anderen Problem –, angenehm ist, versucht das Bewusstsein nach und nach, den beglückenderen Zustand der Distanzierung und Befreiung in den Alltag zu übertragen, und zwar auf natürliche Weise, ohne Vorsatz und Anstrengung. Genauso, wie wir auch in der Meditation nichts anstreben, außer ein paar einfache mentale Regeln zu praktizieren. Nämlich das Loslassen, das Zulassen, die unkonzentrative Zuwendung zu einem geeigneten Objekt.

Wir streben also keine bestimmte Verfassung des Bewusstseins an, wie sie durch diese Erklärungen beschrieben wird. Wir wissen von ihr, mag sein, aber wir messen das Ergebnis unseres Meditationsprozesses nicht daran.

Und das Bewusstsein entdeckt dabei, dass dieser Zustand nicht nur angenehmer, sondern auch intelligenter, erfolgreicher und kreativer ist. Er ist friedlicher, weniger gewalttätig, toleranter, mitfühlender.

Es ist wichtig, die ungeheure Kraft des Prozesses zu verstehen.

Wenn wir kein intellektuelles Verständnis dieser Entwicklung oder keine Erinnerung mehr daran besitzen, wird unsere Entdeckung wieder verloren gehen. Desensibilisierung ist nicht nur, wie manche Psychologen glauben, eine Gewöhnung an immer größere Portionen von Angst oder eine Koppelung von Entspannung und Problem, sondern es gelingt uns, dieses Gegenüber von Selbst und Angst, ja von jeder Art negativer Emotion, zuzulassen, wann immer es erforderlich ist – das Kennzeichen eines hochentwickelten Bewusstseins!«

Ich glaube, ich muss ziemlich überrascht ausgesehen haben nach Montags Erklärung. Schließlich hatte er mir lediglich ein einfaches Wort und ein paar Regeln zu seinem Gebrauch genannt. Und das sollte solche Wirkung haben?

»Es handelt sich erst um einen winzigen Teil der Wirkungen, über die wir noch reden werden«, erklärte er lächelnd, als könne er meine Gedanken lesen. »Die Spitze des Eisbergs. Desensibilisierung ist dabei eher ein Nebeneffekt.«

Er ging nach nebenan und kehrte mit einem Tablett zurück, auf dem eine Teekanne und zwei Tassen standen. Im Raum begann sich der feine Geruch von Apfeltee auszubreiten.

»Wir haben noch etwas Zeit, bevor wir mit dem ersten Versuch beginnen. Gibt es irgendwelche Fragen?«

»Sie sagten, Desensibilisierung sei nur ein Nebeneffekt. Worauf zielt die Technik ab?«

»Auf Entwicklung, auf eine allmähliche Entwicklung des Bewusstseins. Sie betrifft alle Bereiche: Körper, Geist und Seele. Wenn sie genügend weit fortgeschritten ist, kann ein Phasensprung eintreten.

Aber schon lange vorher wird sich deine Konzentration verbessern, wirst du dich mehr und mehr in deiner Mitte befinden, anstatt zerstreut zu sein. Deine Unterscheidungsfähigkeit für Gedanken und Gefühle, deine Kreativität und Intelligenz, deine Fähigkeit zu Entspannung und tiefer Ruhe nehmen zu. Auf diese Weise vergrößert sich auch deine innere Freiheit. Der bindende Einfluss der Gedanken, die Verhaftung an Gefühle und vermeintlich objektive Bewertungen nehmen ab. Aus dem vorbewussten Gedankenprozess wird bewusste Wahl.«

Er schwieg wieder und sah mich nachdenklich an.

»Das ist ziemlich überraschend, nicht wahr? Wir haben große Fertigkeiten entwickelt, die äußere Welt zu beherrschen. Wir fliegen zum Mond, spalten Atome und entschlüsseln die DNS, aber im Innern sind wir immer noch wie unbeholfene Kinder.«

»Mich überrascht vor allem, dass das alles durch ein einfaches Wort möglich sein soll«, sagte ich. »Obwohl es nicht einmal eine Bedeutung hat?«

»Es klingt nach Wortmagie, nach Hokuspokus?«

»Nein, Sie sagen ja, es beruhe nicht auf Einbildung. Aber worauf beruht es dann?«

»Sobald du die Struktur des Meditationsprozesses verstanden hast, wirst du sehen, dass diese Struktur mit ihren Wirkungen identisch ist. Die Struktur ist identisch, hm?

Die Regeln des Umgangs mit dem Mantra enthalten fast alles, was für seelische Gesundheit notwendig ist. Die anstrengungslose, zielstrebige innere Ausrichtung auf ein Objekt. Die Flexibilität, von Störungen abzusehen.

Das Stehenlassen negativer Gefühle, ohne vor ihnen die Augen zu verschließen, die Nichtgebundenheit an positive Gefühle.

Die Zentrierung auf das Selbst, die Anbindung an das eigene Kraftzentrum. Tiefe Entspannung.

Die Verfeinerung der inneren Wahrnehmung. Das Bewusstwerden sonst nicht wahrgenommener Gefühle und Gedanken.

Mach dir das alles klar! Dazu muss man über praktische Erfahrung verfügen. Leider ist nicht jeder intellektuell in der Lage, ohne fremde Hilfe den korrekten Ablauf des Prozesses zu analysieren und sich ein zutreffendes Bild zu machen. Das liegt auch an der Schwierigkeit, solche Vorgänge in Worte zu fassen. Obwohl sich alles vor deinem inneren Auge abspielt, mangelt es uns oft an Begriffen. Der passende Begriff, die Unterscheidung, die sich nicht von Konventionen und Spekulationen, sondern von den Dingen selbst leiten lässt, ist das Kennzeichen eines urteilsfähigen Geistes.

Deshalb benötigen die meisten Menschen einen Lehrer. Aber auch das ist erst der Anfang. Der Lehrer kann nur Hilfestellung leisten. Meditation ist eine Leiter. Danach wirft man die Leiter weg, auf der man hinaufgestiegen ist, um über sie hinauszugelangen. Der vollständige Prozess ist die Realisierung seelischer Gesundheit und die Entwicklung unserer Möglichkeiten – und das heißt nicht mehr und nicht weniger als Einklang mit den Gesetzen des Lebens

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0+
Umfang:
371 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783847659303
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Bookwire
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