Buch lesen: «Kalter Krieg im Spiegel», Seite 2

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Seine Überraschung musste so groß gewesen sein wie die unsrige, denn durch einen Spezialkontakt im Türscharnier fiel im ganzen Haus der Strom aus. Es wurde stockfinster.

Er hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, zu sehen, was sich hinter der Tür befand: Es wäre eine weitere Überraschung wert gewesen. Damals ließ F. ein einbruchsicheres Schloss einbauen.

Für den Kontakt mit der Roßstraße hatten wir eine neuartige Laser-Signalanlage installiert. Mit ihr kabelten wir Fragen und Antworten über unseren jeweiligen Klienten heraus und herein, soweit sie im Zentralcomputer nicht greifbar waren. Auf diese Weise war es möglich, Antworten zu überprüfen und Zusammenhängen, die sich meist im Verlauf der Verhöre ergaben, sofort nachzugehen.

Die Maschine sah aus wie ein überdimensionaler Diaprojektor. Ihr Objektiv zeigte nach Nordwesten, auf das Dachfenster Ecke Roß- und Neue Jakobstraße. Ihre Signale waren mit bloßen Augen völlig unsichtbar und nach dem gegenwärtigen Stand der Technik drüben auch weder zu orten noch zu entschlüsseln. In der Hinsicht konnten wir unbesorgt sein. Sorgen machte uns lediglich der Mann, der den Datenaustauscher auf der Gegenseite bediente.

Da der Apparat seine Nachrichten automatisch auswarf, genügte ein Spezialist für die Wartung und Bedienung. Auf unserer Seite hieß er Kruschinsky – ein magerer, etwas unscheinbarer Junge, der zunächst in einem Fernmeldebataillon der Bundeswehr gearbeitet hatte und dort durch seine Begabung aufgefallen war.

Um die Geheimhaltung zu gewährleisten, wechselte F. den Techniker nach jedem Klienten aus. So wurde vermieden, dass für ihn zwischen unseren Verhören und den Todesfällen, die wie Unglücksfälle aussahen, eine Verbindung herstellbar war. F. hatte mir oft versichert, es gebe niemanden außer uns beiden, der Einblick in das Verfahren habe.

Ich hielt das für eine Lüge, denn es musste von höchster Regierungsstelle abgesegnet sein. Auch die Leute, die das Ende arrangierten, wurden ständig ausgetauscht. In dieser Beziehung glaubte ich ihm. An übergeordneter Stelle wolle man angeblich nichts mit alledem zu tun haben. Es gebe keine direkte Order, sondern nur eine Art »Pauschalarrangement« für eine nicht näher festgelegte Anzahl von Personen, eine stillschweigende Übereinkunft, Im Ernstfall würde niemand zu solch einem Befehl stehen wollen. Meine Berichte seien die einzigen Unterlagen, und niemand außer ihm, F., wisse, wer sie verfasse. Sie seien weder mit vollem Namen gezeichnet noch dritten Personen überhaupt zugänglich.

Im Grunde besäßen sie nur dokumentarischen Wert und würden in einem sicheren Tresor verwahrt, um bei einem fiktiven Fall (der natürlich nie eintreten werde), nachweisen zu können, warum man die betreffende Person habe eliminieren müssen.

Das Ganze hatte offenbar eine ausgemachte Alibifunktion. Es lag irgendwie zwischen Rechtsstaatlichkeit, Notwendigkeit und Verbrechen: ein Kompromiss, der sich aus der Praxis ergab.

Der Laser stand rechts im mittleren der drei durchgehenden Zimmer auf einem stabilen Holztisch vor einem Spezialfenster mit Doppelscheiben, in das durch Spiegelschlitze das Bild einer durchsichtigen Gardine projiziert wurde, hinter der auch mit stärksten Teleskopen aus dem Ostsektor nie etwas anderes wahrnehmbar sein würde als eine verstaubte Wohnungseinrichtung, deren Besitzer seit Jahren im Ausland lebte.

Von innen her war das Glas vollkommen durchsichtig, allerdings ließ es kein Tageslicht herein, so dass wir ständig Lampen brennen mussten.

Links von diesem Raum befand sich Koflers Zimmer, ein durchaus luxuriös eingerichtetes Einzimmerapartment mit breitem Bett, Einbauschränken, einem Farbfernseher schräg in der Ecke, Videogerät, Schreibtisch, rundem Rauchtischchen mit Sesseln und einem in das Zimmer ragenden, gekachelten Badezimmer. Lediglich das Fenster fehlte.

Mein eigenes Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite war weniger komfortabel: Bett, Tisch, Kleiderschrank. Tapeten in fadem Beige, hochglanzlackiert. Aber ich hatte nie viel Wert auf Luxus gelegt.

Während der Gespräche saßen wir in Koflers Zimmer, wegen der vertrauten Atmosphäre. Klienten, die zwischen ihren eigenen vier Wänden lebten, waren gesprächiger und verrieten sich schneller. Eine ungewohnte Umgebung dagegen signalisierte Zurückhaltung und Vorsicht. Kofler hatte, um die Zeit bis zu seiner Abreise zu nutzen, mit einem neuen Buch begonnen – er ahnte wohl kaum, dass er es nicht zu Ende bringen würde –, und wir ließen ihn gewähren.

Um in der Bundesrepublik rasch Fuß fassen zu können, benötigte er größere Summen, doch auf dem Konto einer Kölner Bank, auf die man sein restliches Vermögen überwiesen hatte und dessen Nummer er uns bereitwillig mitteilte, war kaum Geld.

Wir nahmen an, dass ein Geheimkonto existierte. Ihm dieses Geheimnis irgendwann zu entreißen, würde uns einen zwingenden Beweis für seine Schuld liefern …

Die drei Räume waren untereinander verbunden. Es gab keinen Korridor – auch keinen Zugang zum Treppenhaus mehr. Sicherheitsvorkehrung. Der alleinige Ein- und Ausgang war die Fahrstuhltür im mittleren Zimmer, dem Arbeitszimmer Kruschinskys. Sie konnte nur durch ein in einer Wandnische versenktes Tipptastenfeld geöffnet werden, für dessen Bedienung man durch einen Sehschlitz blicken musste. So ließ sich vermeiden, dass Unbefugte den Zahlenkode erfuhren.

Der Fahrstuhlschacht endete ohne Zwischenstation in einer Tiefgarage, deren Ausfahrt im Nachbarhaus lag, einem Neubau, in dem Geschäfte, Büros und Arztpraxen untergebracht waren. Ein fast perfektes Gefängnis und eine Tarnung, die so wirksam war, dass noch keiner der übrigen Mieter bisher von uns Notiz genommen zu haben schien.

Irgendwo im Treppenhaus des dritten Stockwerks gab es eine blinde, immer verschlossene Wohnungstür, hinter der sich Mauerwerk befand. Ihr von Werbesendungen überquellender Briefkasten wurde gelegentlich von einem wohlmeinenden Hausmeister geleert. Das Gegenstück des Tipptastenfeldes in der Tiefgarage war hinter einem verschlossenen Eisentürchen verborgen.

Sie hatten Kofler am frühen Morgen in einem fensterlosen Lieferwagen herübergefahren. Vom Übergang Friedrichstraße zur Wohnung waren es nur wenige hundert Meter. Allerdings brachte man ihn zunächst nach Lichterfelde – ein Umweg von einigen Kilometern durch den Süden des Westsektors –‚ wo man ihn sicherheitshalber in einer Garage umsteigen ließ.

Als er mir in der Wohnung zum ersten Mal entgegentrat, wirkte er unausgeschlafen, übermüdet und sah gar nicht wie ein »Messias« aus.

Angeblich hatte ihn die Nachricht von seiner endgültigen Abschiebung in den Westen überrascht. Es mochte auch Nervosität sein oder Angst. Leider lassen die sichtbaren Gemütsbewegungen eines Menschen nicht unbedingt Rückschlüsse auf seine wahren Gedanken zu, wie jeder gute Pokerspieler bestätigen kann. Deshalb misstraute ich auch allen Arten von Apparaten, die neuerdings im Einsatz waren – vom alten Lügendetektor ganz abgesehen, denn Hautwiderstand ist mental beeinflussbar – also: Stimmenstressanalysator, Gesichtswärmemesser und ähnlichem Zeug.

Koflers rötlich durchschimmernde Haut hatte einen fahlen, aschgrauen Ton angenommen. Nur seine strahlend blauen Augen machten genau denselben lebendigen Eindruck, wie ich ihn von einem kurzen Super-8-Film her kannte, der in Warschau aufgenommen worden war.

Dieser Gegensatz irritierte mich ein wenig. Er hatte den durchdringenden Blick, der jemanden mit schlechtem Gewissen – und wer von uns hat nicht irgendwo wegen irgendetwas ein schlechtes Gewissen? – befangen werden ließ. F.s Leuten gegenüber hatte er behauptet, die letzten vier Stunden vor seiner Ausweisung verhört worden zu sein.

»Sie haben mich nicht geschlagen«, betonte er. »Allerdings haben sie mir Schläge angedroht. Einer von diesen Kerlen, die den Verein drüben leiten – ein merkwürdiger Bursche mit rosigem Gesicht, der eher wie ein Pfarrer aussieht und eine Vorliebe für breitkrempige dunkle Hüte zu besitzen scheint – «

»Mit hellblondem Haar und auffälligen Hängebacken?«, unterbrach ich ihn.

Kofler musterte mich überrascht. »Sie haben schon mit ihm zu tun gehabt? Nun, sie drohten mir an …«, er stockte und schluckte kurz, ehe er fortfuhr, »falls ich – wie sie es nannten – im Westen meine revisionistischen Schmierereien, meine angeblichen Diffamierungen und Agitationsversuche fortsetzte, würden sie dafür sorgen, dass meine Schwester, sie lebt in der Schweiz, jeden Monat einen Finger meiner rechten Hand zugeschickt bekäme – der Schreibhand.«

Er betrachtete seine Faust.

»Was sind das für Leute«, stellte er kopfschüttelnd fest. Er schien tatsächlich peinlich berührt. Es wirkte echt.

»Sie haben eine Schwester in der Schweiz? Davon wusste ich nichts.«

»Zweiundsiebzig«, bestätigte er. »Eine alte Lehrerin. Aber noch sehr rüstig.«

Wir gingen hinüber, und ich bot ihm Platz in seinem Apartment an. Er warf einen wohlwollenden Blick auf die Inneneinrichtung.

»In Polen leben wir zur Zeit sehr armselig«, bemerkte er.

Kruschinsky ging frische Brötchen und Tageszeitungen holen.

An der Fahrstuhltür fing ich ihn ab.

»Lass dein hageres Pickelgesicht um Gottes willen möglichst wenig bei uns sehen« – Kruschinsky hatte den Teint eines Primaners, der seine Pubertät in die Studienjahre verschleppt hatte –, »ich glaube, Kofler ist ein Ästhet, eine empfindsame Künstlerseele. In seinem Koffer haben wir ein Exemplar von Stefan Georges Im Jahr der Seele entdeckt«, raunte ich ihm zu.

Das war nicht sehr freundlich, geschweige denn zartfühlend. Doch F. wollte möglichst wenig Kontakt der Techniker zu den Klienten, und das gelang am ehesten, wenn man sie auf irgendeine Weise beleidigte.

Es fand sich immer ein Anlass dazu: O-Beine, Stottern oder eine Freundin, unter deren Pantoffel man angeblich stand – genug, um jemanden so vor den Kopf zu stoßen, dass er sich eine Zeit lang gekränkt an das Fenster mit dem L.D.A. (Laser-Daten-Austauscher) zurückzog.

Besonders in der Anfangsphase neigten Neulinge dazu, jedem Gespräch, jedem Wortfetzen zu folgen, den sie aufschnappen konnten, und das hätte leicht dazu führen können, den Zweck der Aktion zu erraten.

Da Kruschinsky auch für die Verpflegung und das Reinemachen der Wohnung zuständig war, ließ sich der Kontakt mit Kofler kaum vermeiden. Für ihn war er ein Dissident, der vor »neugierigen Journalisten« versteckt wurde. Bei dieser Gelegenheit fühlte ihm der Verfassungsschutz ein wenig auf den Zahn. Eine verständliche Vorsichtsmaßnahme, aber kaum mehr als Routine. Er durfte nicht den Eindruck haben, man wollte ihm etwas vorenthalten.

»Keine Atmosphäre der Geheimniskrämerei!, hatte F. gefordert. »Das wäre ein grober Fehler. Sie wissen ja:

Wo Geheimnisse sind, da versucht man ihnen auf die Spur zu kommen.«

Dass wir so viele Jahre unter den Augen der Ostdeutschen ungestört hatten arbeiten können, war unserer guten Tarnung zu verdanken. Es gab keinen Anlass für einen Verdacht, weder durch Nachbarn noch durch den Osten. Die Wände waren isoliert, die Wohnung angeblich verlassen, das Fenster undurchsichtig, und der Ausgang mündete im Nachbarhaus.

»Misstrauen ist ein beherrschender Zug der menschlichen Natur«, pflegte F. zu sagen. »Ich will sogar zugeben: ein sinnvoller. Die Evolution konnte nicht darauf verzichten.

Beobachten Sie nur die Tiere in der freien Natur: alles Fremde beäugen sie misstrauisch, fliehen oder versuchen sein Geheimnis zu ergründen. Und hat sich erst einmal der Keim eines Verdachtes festgesetzt, ist er durch keine Beteuerungen mehr aus der Welt zu schaffen. Der Mensch ist da noch konsequenter als das Tier.«

F. hätte seine eigene Krankheit kaum treffender beschreiben können. Denn Misstrauen – und der Preis, den man dafür bezahlte – war seine Berufskrankheit. Es war das, was blieb, wenn alle anderen Gefühle, die des Hasses, der Liebe, der Zärtlichkeit, des Humors längst verkümmert waren. Misstrauen und die Angst vor Fehlern.

Ein Arzt ist umsichtig, ein Seiltänzer vorsichtig, ein Buchhalter genau – aber jemand in unserer Position?

Es waren das Misstrauen und die Angst, die uns mit spöttischem, versteinert über die Zähne hochgeblecktem Grinsen, dünnlippig und fieberäugig, wie Orwells Großer Bruder über die Schultern sahen. Jede Angst ganz persönlich; und doch immer die gleiche. Wegen eines Fehlers hatte ich meinen Job als Staatsanwalt verloren. Ich war der jüngste Staatsanwalt der Republik gewesen, und ich war in der Gosse gelandet, ehe ich diesen merkwürdigen Posten übernommen hatte, der in keinem Berufskalender verzeichnet ist.

Ich wusste nicht, welcher Art F.s Ängste waren. Doch ich hegte keinen Zweifel daran, dass man sie mit hoher Wahrscheinlichkeit erriet, wenn man auf die üblichen Gründe tippte.

Ängste sind selten extravagant: Angst vor Degradierung, Lächerlichkeit, Gerede der Kollegen und Konkurrenten, Verlust von Privilegien, die man in seiner Position genoss, Angst vor der Presse, vor dem Eingeständnis der persönlichen Unfähigkeit, vor dem Entzug des Vertrauens durch Vorgesetzte, vor der Schelte der eigenen Frau (oder der Verachtung der Geliebten – ich hatte keine Ahnung, ob F. verheiratet war; er sprach nie über persönliche Dinge) …

All dies, so schien mir, waren bei Leo Kofler unbegründete Sorgen, denn er war ein leicht zu durchschauender Fall.

3

Ich sah aus dem Fenster, während Kruschinsky Kofler das Abendbrot servierte.

Es gab in eigenem Olivenöl geröstete Dosensardinen, Weißbrot, hartgekochte Eier und Tomaten.

Die Mauer war nicht mehr als dreißig Meter entfernt. Wenn ich das Nachtglas nahm, das neben dem L.D.A. stand, konnte ich in der Dunkelheit – von den hellen Bogenlampen strahlte immer einiges Licht herauf – das Gesicht des Mannes auf dem Wachturm sehen: ein deutsches Gesicht.

Er hätte damit ebenso gut auf dieser Seite der Mauer Versicherungspolicen verkaufen oder die Straße fegen können.

Das einzige, was mich daran immer wieder verblüffte, war die Leere, die es ausstrahlte. Acht Stunden lang Leere!

Über acht Stunden eine nahezu unbewegte Mimik – dieses Phänomen, das den Südländer am Nordländer so maßlos überrascht, wenn es ihm zum ersten Mal bewusst wird, dass sein Gesicht eine weitgehend unbewegte Masse ist. Kein Ausdruck des Erstaunens oder auch nur des Befremdens, der dem Mann auf dem Wachturm abverlangt wurde, wenn er hinuntersah in das gleißende Licht des Todesstreifens mit seinem Stacheldraht, den spanischen Reitern, den Betonhindernissen, die selbst jetzt noch, so viele Jahre nach dem vorgeblich geplanten Einmarsch des Westens in den Ostsektor, nach Süden ausgerichtet waren, als würde der Feind jeden Augenblick seinen NATO-Helm über die Mauer schieben …

Diese Grenze ist ein Eckpfeiler der Entspannung, stand auf einem weit entfernten Transparent am oberen Drittel einer Backsteinmauer, hinter der ein Betrieb für die Verarbeitung von Natursteinen lag.

Daneben ragte ein graues Gemäuer auf – ein Flachdach mit Turm und zwei Reihen schmaler Fensterchen wie Schießscharten – dessen Zweck ich nie hatte erfahren können. Es war ein verfallener Bau mit staubigen Scheiben, aber keine von ihnen zerworfen, wie das bei alten Häusern im Westen zu sein pflegt.

Hinter einem der Fenster hatte ich einmal eine Gestalt mit einem Fernglas herüberblicken sehen. Auch der Mann auf dem Wachturm sah manchmal zu uns herüber. Aber an der Art seiner Bewegungen – wie sein Fernglas über die Häuser des Westsektors streifte – erkannte ich, dass es reine Routine war.

Der Posten auf dem Wachturm wurde um Mitternacht abgelöst, zur selben Zeit, wenn die letzten Tagesbesucher aus dem Westsektor den Übergang Heinrich-Heine-Straße passierten. Selten sah man jemanden verspätet dort eintreffen, auch Familien mit Kindern bemühten sich, pünktlich zur vorgeschriebenen Zeit die Grenzstelle zu passieren – eine nun schon fast eingeborene Furcht vor der Macht und Willkür der Grenzpolizei.

Dabei waren es ganz verständige Burschen! Durch die Scheiben der Grenzbaracken konnte ich manchmal beobachten, wieder eine dem anderen den konfiszierten Westkaffee wegtrank oder wie sie in Magazinen blätterten, die auch bei uns bis vor wenigen Jahren noch unter dem Ladentisch gehandelt worden waren.

Nur wenig rechts vom Grenzübergang, ein paar hundert Meter neben dem unbebauten Feld, lag das Haus an der Roßstraße, in dem sich das Gegenstück zu unserem L.D.A. befand.

Anfangs war es mir unvorstellbar erschienen, dass die Anlage mit direktem Sichtkontakt arbeitete. Aber gewöhnlicher Funkverkehr ließ sich Orten, dieses System nicht. F. hatte sich die Mühe gemacht, mir auseinanderzusetzen, dass der Lichtstrahl nur ein vierhundert- oder sechshundertstel Millimeter dick war und seine Dauer jenseits der schnellsten Kameraverschlüsse lag (die genauen Daten sind mir entfallen, ich bin technisch nicht besonders versiert) und damit für das menschliche Auge ebenso wie für technische Geräte unsichtbar blieb.

»Sobald man an den technischen Innereien der Anlage herumschraubt, um an ihr Konstruktionsprinzip zu gelangen«, hatte er warnend erklärt, »explodiert das Ding. Und nicht bloß mit Silvesterknall, das können Sie mir glauben. Der Explosionsmechanismus ist mindestens so neu wie das Übertragungsprinzip.«

In all den Monaten hatte ich nie jemanden in dem Dachfenster gegenüber entdecken können.

Der Mann drüben sollte ein ehemaliger Dorfschullehrer sein. Sie hatten die gleiche Doppelscheibe mit der künstlich eingespiegelten Wohnzimmergardine installiert. Abends wurde das Bild einer Wohnzimmerlampe hinzuprojiziert; ihr beigefarbener geblümter Schirm – mit Fransen und Messingstange darunter – verbreitete anheimelndes Licht.

Kruschinsky kam mit einem Tablett auf Koflers Zimmer. »Schreibt an seinem Buch«, murmelte er schräg über die Schulter. »Das Westfernsehen sei genauso schlecht wie ihres drüben. Wissen Sie, was er verlangt hat – ernsthaft?«

Ich schüttelte den Kopf

»Laurel & Hardy-Filme! Er will sie sich über die Video-Anlage ansehen. Ich dachte zuerst, er mache Scherze. Darauf sagte er ziemlich ungehalten: Dick und Doof, falls Ihnen das eher ein Begriff ist – ein Kerl mit seiner Bildung!«

»Besorgen Sie ihm zwei oder drei Kassetten«, nickte ich. »Morgen früh. Er soll seinen Spaß haben.«

Kruschinsky ging an den Datenaustauscher, an dem zwei flackernde rote Leuchtdioden anzeigten, dass er in Betrieb war, setzte das Tablett ab und zog den Papierstreifen aus dem Drucker.

»Lesen Sie das«, meinte er. »Ich glaube, es ist chiffriert.«

Ich sah auf das Blatt. Der Text lautete:

Roter Kakadu nach West-Berlin entflogen. Ankunft Dienstag oder Mittwoch. Schnabelfarbe weiß.

Er musterte mich misstrauisch. »Können Sie was damit anfangen?«

Es wurmte ihn sichtlich, dass er als Nachrichtenexperte keinen Zugang zum Kode besaß. Außerdem hatte er Schwierigkeiten mit seiner Freundin, weil man ihn wegen der Aktion für unbestimmte Zeit aus dem Verkehr ziehen würde.

Ich nickte. »Kakadu bedeutet Messias, und Schnabelfarbe weiß heißt, dass wir nichts Näheres über ihn wissen.«

Er schwieg und blickte mich fragend an.

»Also der Messias kommt nach West-Berlin?«, fragte er missmutig. Wollen Sie mich verschaukeln?« Er schlug mit der flachen Hand auf den L.A.D. »Handelt es sich um Kofler?«, erkundigte er sich dann.

»Höchstwahrscheinlich. Wir wissen es nicht. Es ist unsere Aufgabe, das herauszufinden.«

»Na schön. Und warum der Kode? Sie können die Laserschrift ohnehin nicht entschlüsseln.«

»Offenbar geht es gegen ihre Berufsgewohnheit, etwas gemeinverständlich auszudrücken«, erklärte ich und wandte mich ab, um ihn nicht merken zu lassen, dass mich seine Hartnäckigkeit amüsierte.

Auch mit dem Nachtglas war drüben im Dachfenster der Roßstraße kein Lichtschein auszumachen. Der Widerschein der Bogenlampen unten im Todesstreifen warf schwache Lichtkringel in die Optik. Es gibt keinen Antireflexbelag, der etwas taugt … dachte ich.

Doch gerade die Reflexe waren das Problem. Beinahe alles in der Welt hat irgend etwas mit Reflexen zu schaffen.

Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.

Die ganze Welt ist möglicherweise nur – am Anfang war das Wort – ein Reflex der Worte Gottes, die er, dann wohl in einem unbedachten Moment, ausgesprochen haben muss.

Die Strafe ist der Reflex des Urteils und dieses der Widerschein der bösen Tat. Und auch die Melancholie ist, wie mir scheint, nur Reflex – Reflex einer Lebensweise, die ihren Schatten auf unsere Seele wirft. Dahinter steckt meist ein schlechtes Gewissen. Nicht wenige Psychiater wären ohne diese Art von Reflex arbeitslos.

Mein Reflex war die Angst, einen Unschuldigen auszuliefern.

F. hatte mich zum »Staatsanwalt, Richter und Schöffen in einer Person« ernannt (nur den Henker ersparte er mir), deshalb brauchte ich Gewissheit, Gewissheit, dass sie schuldig waren. Mein Schlaf, meine Stimmung, meine Verdauung hingen davon ab. Deshalb beschäftigten sie mich auch dann, wenn ich gar nicht an sie zu denken schien.

Ich spürte, dass irgendwo halbbewusst oder unbewusst etwas in mir arbeitete.

Ein Narr, der glaubt, Gedanken seien immer in Worte zu fassen. Sie können grundverschieden von Sprache sein. Weder Gefühl noch Wort oder Bild (als man Einstein nach der Sprachlichkeit des Denkens fragte, lachte er nur – tatsächlich eine absurde Unterstellung). Und so summte etwas in meinem Schädel, summte sein Lied, summte wie eine Hummel oder eine Wespe, jederzeit bereit, zuzustechen. Niemand nahm es mir ab. Nicht F., sondern ich schreckte aus dem Schlaf auf – es war mein Albtraum, nicht seiner. Und es schien keine Rettung davor zu geben. Es gab keine Gewissheit.

Selbst ihr Geständnis hätte mich nicht wirklich überzeugt. Es konnte ein Traum sein …

Oder Resignation …

Oder Verrücktheit …

Oder ein Scherz …

Nicht etwa um eine biblisch verstandene Schuld ging es mir (als jemand, dessen Beruf es ist, die Wahrheit zu suchen, wird man zum unerbittlichen Agnostiker). Auch nicht um Berufsethos. Geschweige denn ums moralische Prinzip. Sondern um den bohrenden Schmerz da drinnen irgendwo. Eine Stelle, auf die sich nicht mit dem Finger zeigen lässt. Dieses Gefühl, jemanden unwiderruflich zu vernichten, verursacht mehr als bloße Übelkeit, wenn man damit geschlagen ist.

Erleichterung verschaffte ich mir nur durch Gewissheit. F. nannte es eine Manie.

»Sie sind der geeignete Mann«, sagte er leichthin. »Zwangsneurotiker und Psychopathen erfüllen zuverlässig ihre Pflicht.«

Das war wohl in seinen Augen noch geschmeichelt, ich weiß nicht, was er wirklich von mir hielt. Er hatte eine undurchsichtige Art, manches ins Lächerliche zu ziehen.

Vor allem, wenn er meine Lektüre herumliegen sah:

»Lesen Sie nicht diese gottverdammten Narren«, sagte er. »Dostojewskij, Rilke, Kafka … das sind alles Verrückte, auf die eine oder andere Weise. Kein normaler Mensch kann sich so etwas zu Gemüte führen, ohne Schaden an seiner Seele zu nehmen. Ich werde Ihnen ein festes weißes Stück Fleisch aus der Datenabteilung beschaffen, das bringt Sie wieder auf die Beine.«

Er wollte nicht, dass ich mit Freunden oder Bekannten verkehrte, deshalb verschaffte er mir diese Mädchen. Am liebsten hätte er mich in einer Mönchszelle gehalten – oder im Gefängnis, völlig isoliert von allen Außenkontakten: der Idealfall nahe am Nullpunkt des Risikos. Nach einer gewissen Frist verschwanden sie, wo sie hergekommen waren, in der Rechnungsabteilung, der Datenbank oder im inneren Abwehrdienst.

Ich wusste nie genau, was er ihnen erzählte. Irgendwie brachte er sie dazu, sich für Staat und Vaterland zu opfern. Er musste ein großer Geschichtenerzähler sein. Sie hatten mich schon für alles mögliche gehalten: einen russischen Überläufer, den Botschafter der DDR in Venezuela, einen vom KGB gejagten Trotzkisten – und einmal musste er mich als schwulen Denunzianten ausgegeben haben, dem man es mit gleicher Münze heimzahlen wollte: durch ein Bild mit einer Frau im Bett an seinen Geliebten.

Dabei hatte ich immer das Gefühl, F. habe mir gegenüber ein schlechtes Gewissen; als sei er dafür verantwortlich, dass Valessa sich mit einem türkischen Botschaftsangestellten nach Izmir abgesetzt hatte (ich war nur ein knappes Vierteljahr mit ihr verheiratet gewesen). Vielleicht wollte er mir auch über die Schmach der Entlassung hinweghelfen. Vielleicht war es eine Art väterlicher Fürsorge. Obwohl ich F. das kaum zutraute. Allerdings erschien mir diese Sorte Staatsdiener im Kern nicht immer so schlecht, wie behauptet wurde.

Natürlich gibt es auch bei ihnen das Gefühl, es besser machen zu können oder zu sollen, und das Wissen um die absehbaren Folgen ihrer Arbeit bereitet ihnen Unbehagen. Denn wie viel lässt sich voraussehen und wie viel erfahren wir schon über die Tragweite unserer Handlungen?

»Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille«, war der Leitspruch aus Kants Ethik, den Kofler seinem ins Englische übersetzten Werk vorangestellt hatte.

Ich nahm an, dass es sich um das übliche Flickwerk am sozialistischen System handelte. Eine kleinere Verbesserung hier, eine Korrektur dort. Gerade so viel Änderungen, dass es der herrschenden Lehre zuwider lief, im Westen aber als »Dritter Weg« durchgehen konnte und eine Menge Junger Leute auf die Straße bringen würde. Sie schienen ihr Spiel sehr geschickt zu spielen – und ich fragte mich, was dran war an F.s Behauptung, dass der Osten seine Weltherrschaftsansprüche niemals aufgeben würde. Und dass alle Kooperationsbereitschaft und Entspannungspolitik darüber nicht hinwegtäuschen durfte.

Plötzlich fiel drüben im Grenzstreifen das Licht aus … die Bogenlampen erloschen, sie flackerten noch einmal kurz auf, dann waren sie ebenso dunkel wie die Wachturmfenster.

Ich sah ungläubig auf die Mauer und die Zäune hinter den spanischen Reitern, die sich nur noch schemenhaft abzeichneten. Aus der Dunkelheit kam Motorengeräusch. Wir hatten eine von Wolken verhangene Mondsichel. Im Wachturm wurde die Notbeleuchtung eingeschaltet. Durch die Fenster sah ich den Schein von Taschenlampen umherhuschen. Was für eine Gelegenheit! dachte ich. Wie viele wären jetzt durch die Dunkelheit gehastet, wenn sie davon gewusst hätten? … mit einigen notdürftig zusammengerafften Habseligkeiten, Hochhauswohnungen zu billiger Miete, Eisenhüttenkombinate und volkseigene Betriebe hinter sich lassend – ebenso das russische Wassereis auf dem Alexanderplatz, den Kaffee-Ersatz der HO-Läden und die Zeitungen, die nur druckten, was erlaubt war. – Oder war das eine Illusion? Hatte der Westen seine Anziehungskraft längst eingebüßt?

»Geht denen drüben die Energie aus?«, erkundigte sich Kruschinsky, der neben mir aufgetaucht war.

»Stromausfall …«

»Nicht möglich«, stellte er überrascht fest.

»Das ist kein Vorrecht des Kapitalismus«, sagte ich.

»Klettert da nicht einer über die spanischen Reiter?«, fragte er und trat näher an die Doppelglasscheibe.

Ich sah durch das Nachtglas. »Ein streunender Hund.«

»Was ist denn passiert?«, fragte Kofler hinter uns.

Er stand in der Tür, ein Blatt Papier und einen Stift in der Hand. Die dünne Drahtbrille hing ihm weit vorgerückt auf der Nase. »Was kann das zu bedeuten haben?«, fragte er im Näherkommen und sah durch das Fenster hinunter.

Ich zuckte die Achseln. Gelegenheit für den Kakadu, dachte ich. Einen, der von Westen nach Osten flog. Doch in dieser Beziehung war ich kein Eiferer. Das System drüben gewann beinahe menschliche Züge, wenn man seine Schwächen sah. – Kurz darauf strahlten die Bogenlampen mit unverminderter Helligkeit auf – der ganze Spuk hatte kaum drei Minuten gedauert –‚ und der streunende Hund, ein schwarzer Schäferhundbastard, floh im Zickzack aus dem Scheinwerferkegel des Wachturms …

»Na also«, sagte Kofler. »Die Technik siegt.«

Er steckte sich den Stift hinters Ohr und kehrte in sein Zimmer zurück.

Dann sah ich den grünen Kastenwagen mit der Antenne und der eigentümlichen Apparatur auf dem Dach.

Er fuhr sehr langsam in Richtung Stadtzentrum, Alexanderplatz, davon – so als lege er es darauf an, keine schlafenden Hunde zu wecken. Seine Scheiben waren undurchsichtig. Das Gefährt kam mir nicht ganz geheuer vor. Hatten sie den Strom absichtlich ausgeschaltet? Irgend etwas von Messungen schwante mir. Der L.D.A.! Sollte man F. benachrichtigen? Ich hatte noch sein verlorenes Notizbuch. Beides würde ihn womöglich interessieren. Dazu ist auch morgen noch Zeit, dachte ich. Wir waren ohne Telefonverbindung. Aus Sicherheitsgründen hatte man darauf verzichtet.

Als ich in mein Zimmer ging, nahm ich das Notizbuch aus dem Schrank. Es war in schwarze Kunststoff-Folie eingebunden. Ich legte mich damit auf das Pritschenbett in der Ecke. Vorher hatte ich nur einen flüchtigen Blick hineingeworfen. Diesmal erwischte ich die erste Seite.

Über dem Kodetext aus Zahlen und Buchstaben stand in schräger Handschrift mein Name.

Wir setzten uns ohne Umstände an den Rauchtisch in seinem Zimmer. Kofler schien ausgiebig gefrühstückt zuhaben. Dem Spülgeschirr nach zu urteilen für zwei. Offenbar war er arglos und bei guter Laune.

»Sie traten dreiundsechzig aus der Partei aus. Warum, wenn ich fragen darf?«

»Nun, man ließ mir keine andere Wahl. Eine Reihe von Komplikationen, die mehr das menschliche Verhältnis betrafen – nicht das System.«

»Sie traten aus persönlichen Gründen aus?«

»Ja. Ich geriet mit einigen Leuten in Konflikt. Heute betrachte ich es als eine ziemlich überzogene Reaktion.«

»Was war der entscheidende Grund für Sie, das Ressort zu wechseln. Von der Kriminalistik zur Soziologie und Sozialpsychologie ist es kein kleiner Schritt.«

»Nein, sicher nicht. Anders als bei meinem Parteiaustritt einige Jahre zuvor bewogen mich dazu theoretische Gründe. Ich entdeckte, wie wenig die gegenwärtige Gesellschaftstheorie den Realitäten angemessen ist.«

€4,99

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Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
721 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783847658351
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
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