Der gute Mensch von Assuan

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Der gute Mensch von Assuan
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Die Zitate an den Kapitelanfängen entstammen dem Parabelstück »Der gute Mensch von Sezuan« von Bertolt Brecht.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlag Berlin und der Bertolt-Brecht-Erben.

© 2017 Carpathia Verlag GmbH, Berlin

Umschlagillustration: Katja Bröskamp, www.katja.broeskamp.net

ISBN 978-3-943709-15-5 (Print)

ISBN 978-3-943709-16-2 (EPUB)

ISBN 978-3-943709-17-9 (MOBI)

ISBN 978-3-943709-18-6 (PDF)

www.carpathia-verlag.de

Für Ursula

Inhalt

1  Prolog

2  1. Kapitel

3  2. Kapitel

4  3. Kapitel

5  4. Kapitel

6  5. Kapitel

7  6. Kapitel

8  7. Kapitel

9  8. Kapitel

10  9. Kapitel

11  10. Kapitel

12  11. Kapitel

13  12. Kapitel

14  13. Kapitel

15  14. Kapitel

16  15. Kapitel

17  16. Kapitel

18  17. Kapitel

19  18. Kapitel

20  19. Kapitel

21  20. Kapitel

22  21. Kapitel

23  22. Kapitel

24  23. Kapitel

25  24. Kapitel

26  25. Kapitel

27  26. Kapitel

28  27. Kapitel

29  28. Kapitel

30  29. Kapitel

31  30. Kapitel

32  Nachwort

Prolog

Der Morgen dämmerte über der Bucht von Dakar. Sie lag mit schmerzenden Gliedern in einer kleinen Fischerhütte und starrte an die Decke. Im Nebenraum hörte sie das Schnarchen und Röcheln ihrer Peiniger. Es war leichtsinnig von ihnen, denn sie hätte sich an ihnen rächen können. Hätte sie? Wenn sie sich auf den einen gestürzt hätte, wäre der andere erwacht und sie hätten von vorne begonnen – oder sie vielleicht gleich umgebracht. Und selbst, wenn es ihr gelungen wäre, einen oder sogar beide zu töten, was dann? Was hätte Rashid dann getan? Rashid ging es nur ums Geld. Allen Schleppern ging es nur ums Geld. Sie kroch mühsam zur Tür und sah hinaus auf die Bucht, nach Süden zur ehemaligen Sklaveninsel Gorée. Sie kannte die Geschichte der Sklaveninsel, wie sie die ganze Geschichte Afrikas kannte. So konnte lesen, schreiben und rechnen, war eine ausgebildete Krankenschwester, und würde sie in Europa leben, würde sie jetzt an irgendeiner Universität Medizin studieren. Sie war so nahe drangewesen. Die Erinnerung an Schwester Martha stieg wieder hoch und ihre Augen füllten sich mit Wasser.

Sie war jetzt 22 und ihr halbes Leben hatte sie bei der beeindruckenden Nonne mit den grauen Haaren und dem strengen Dutt verbracht, in der kleinen Missionsstation, rund 20 Kilometer westlich von Garoua. Sie hatte nicht immer in Kamerun gelebt, doch von der Zeit davor wusste sie kaum noch etwas. Ihre Eltern hatten in den Coltan-Minen in Kivu gearbeitet, im Osten des Kongos, genau wie sie selbst und ihr kleiner Bruder Joseph, der damals noch Kambale hieß.

Doch dann waren ihre Eltern gestorben. Ihre Cousine und ihr Mann hatten die beiden Kinder mitgenommen auf ihrer Flucht vor der Miliz und sie schließlich in der Obhut von Schwester Martha gelassen. Schwester Martha hatte ihnen auch die neuen Namen gegeben. Nichts sollte sie mehr an früher erinnern.

Für sie tat sich damals eine völlig neue Welt auf. Sie durfte endlich lernen. Schwester Martha brachte ihr Lesen und Schreiben bei. Und kaum konnte sie lesen, begann sie Bücher förmlich zu verschlingen. Bald bestürmte sie die Nonne, ihr Bücher aus der Bibliothek von Garoua zu besorgen. Alles sog sie in sich auf. Schwester Martha kam aus Wien, und so lernte sie nicht nur Französisch, sondern auch Deutsch. Und auch in medizinischen Dingen bewies sie großes Talent. Nach wenigen Jahren war sie in der Missionsstation unentbehrlich geworden.

Doch dann zerbrach ihre Welt. Sie war in Garoua gewesen, um sich aus der Bibliothek neue Bücher zu besorgen. Als sie zurückkam, lag die Missionsstation in rauchenden Trümmern. Ihren Bruder fand sie unter anderen schrecklich zugerichteten Leichen. Schwester Martha war gefoltert worden, ehe die Terroristen sie umgebracht hatten.

Sie stand in dem zerstörten Büro. Alle Gefühle schienen wie abgestorben zu sein. Das Leben, das Lernen, die Medizin … alles hatte seinen Sinn verloren.

Sie beugte sich über die tote Nonne und nahm ihr wie mechanisch das blutverschmierte Brustkreuz ab. Irgendetwas sagte ihr, dass sie dieses Kreuz in das Mutterhaus von Schwester Martha bringen sollte. Das, so war sie überzeugt, war die letzte und einzige Aufgabe, die ihr das Leben noch zugedacht hatte. Doch wie sollte sie nach Wien kommen?

Das Schicksal hatte sie nach einigen Wochen bis nach Dakar im Senegal gespült und mit einem Schlepper namens Rashid zusammengebracht. Der brachte sie in einer Fischerhütte an der Bucht von Dakar unter. Einen Tag später kamen John und Stuart, zwei bullige junge Männer aus Ghana hinzu. Tags darauf sollte die große Reise beginnen, die bestenfalls erst in Europa zu Ende gehen sollte. Die Chancen, dieses Ziel zu erreichen, das wusste Iris, waren nicht besonders hoch.

Am Abend betranken sich die beiden. Sie hatten schon kurz nach ihrer Ankunft anzügliche Bemerkungen gemacht. Doch Iris hatte die Hoffnung, dass die beiden bald betrunken einschliefen. Stattdessen schlief sie ein.

Sie wurde derbe geweckt, als eine starke Hand sie herumriss und sich ein schwerer, nach billigem Fusel stinkender Körper auf sie warf. Es war Stuart. Sie wollte sich wehren, doch sein Kumpel John hielt ihre Arme fest. Stuart vergewaltigte sie brutal und immer und immer wieder. John hätte es wohl auch versucht, doch der schien dafür inzwischen viel zu betrunken. Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ Stuart von ihr ab und die beiden verschwanden im Nebenraum.

Und nun lehnte sie am Türrahmen der Fischerhütte am Strand von Dakar, verletzt, beschmutzt, zerschlagen.

Und schlagartig wurde ihr klar, dass sie sich rächen würde, dass Stuart zahlen würde, und sie wusste auch genau, wie sie es anstellen würde.

1. Kapitel

Sie brauchen jemand.

Wie könnte man da nein sagen?

Die Stewardess tippte ihm leicht auf die Schulter. Mansur Ghali schreckte auf. Ein Teil seiner Unterlagen, die ihm beim Einnicken auf den Schoß geglitten waren, rutschte nun auf den Boden der Kabine. Er wollte sich danach bücken, doch die junge Frau war schneller. Sie raffte die Blätter zusammen und stieß sie auf dem Tischchen zurecht. »Entschuldigen Sie, Mister Ghali«, sagte sie, »aber wir landen in fünf Minuten in Berlin-Schönefeld. Würden Sie sich bitte anschnallen?«

Mansur brummte etwas, das mit gutem Willen als »Danke« durchgehen konnte und versuchte, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. Er hatte gerade von daheim geträumt, von Ägypten und wie er auf einem weißen Pferd auf eine Oase zuritt. Dabei konnte er gar nicht reiten und hatte auch für Pferde nicht viel übrig, noch weniger für Kamele, es sei denn sie waren entsprechend zubereitet, etwa als Lendensteak mit Schokoladensoße. Er bekam Hunger. Nun bereute er, dass er den angebotenen Lunch ausgeschlagen hatte.

Mansur saß alleine in der Kabine seiner Gulfstream G650, einem Businessjet, der bis zu 8 Passagieren Platz bot und mit dem er nonstop um die halbe Welt fliegen konnte. Der Flieger war weniger Luxus als dringende Notwendigkeit. Mit ihm reiste er in seine Städte. Andere Unternehmer mochten Häuser, Fabriken oder Wohnviertel bauen. Mansur baute am liebsten Städte – schlüsselfertig. Das Konzept war denkbar einfach, aber ausgesprochen effektiv: Man baue ein paar Hotels in traumhafter Lage und dazu ein paar käuflich zu erwerbende Immobilien. Das Ganze garniere man mit der notwendigen Infrastruktur, etwa einem Krankenhaus und einer Schule. Warum eine Schule? Weil die Kinder der Angestellten, die natürlich auch alle in der Stadt lebten, eine vernünftige Ausbildung erhalten sollten.

 

Vor 25 Jahren hatte er damit an der Küste des Roten Meeres begonnen. El Quays hieß die Stadt, in der nun 25 000 Menschen lebten, mehrere Universitäten einen Ableger errichtet hatten, ein Weingut alte, längst vergessene ägyptische Rebsorten neu züchtete, und deren Hotels zu den angenehmsten Anlagen des ganzen Landes gehörten. Häufig hatten die Touristen gar keine Ahnung, was sich alles in dieser Stadt verbarg, die doch scheinbar nur gebaut worden war, um es den Gästen so angenehm wie möglich zu machen. In gewisser Weise stimmte das auch, doch längst hatte die Stadt ein Eigenleben entwickelt. Mansur hatte in fünf Jahren einen Fußballclub aufgebaut, der inzwischen in der ersten Liga Ägyptens spielte, und dem Verein ein Stadion errichtet, das 15 000 Menschen Platz bot. Die »Quaysis«, die Einwohner von El Quays, liebten ihn dafür. Und das machte Mansur wiederum stolz. Die Leute identifizierten sich mit ihrer Stadt. Das war ihm wichtig, mochten auch andere über die »Kunststadt« oder das »ägyptische Disneyland« lästern – er hatte Tausenden von Menschen eine neue Heimat geschaffen. Und er verdiente viel Geld damit.

Mansur war bald auf den Geschmack gekommen. Nach dem Vorbild von El Quays hatte er solche Städte in den Arabischen Emiraten gebaut, in Marokko, in Costa Rica, in Indonesien, in Südafrika, auf den Kapverden, ja sogar in Europa, nahe des Goldstrandes in Bulgarien. Und selbst in der vornehmen Schweiz konnte er einen Ort mit 4 000 Einwohnern sein Eigen nennen.

Die Maschine setzte sanft auf und Mansur sann noch immer über sein Imperium nach, das er in den letzten 25 Jahren aufgebaut hatte. Alles hatte hier in Berlin begonnen. Hier hatte er an der Technischen Universität studiert und hier waren die ersten Ideen entstanden. Es war ein wenig wie nach Hause kommen. In Schönefeld erwartete ihn auch nicht einer seiner Fahrer mit einer Dienstlimousine oder ein Fahrdienst. Wenn alles gut ging, dann würde da draußen sein alter Freund Roland Hektor warten, ein ehemaliger Kommilitone, den er viel zu selten traf. Sie waren früher oft gemeinsam um die Häuser gezogen, hatten an vielen Abenden an manchen Kneipentischen die Welt gerettet und sich natürlich ewige Freundschaft geschworen. Nach dem Studium hatte ihn Roland das eine oder andere Mal in El Quays besucht, doch bald waren die Besuche seltener geworden und hatten schließlich ganz aufgehört. Doch Mansur hatte Kontakt gehalten, etwas, das ihm grundsätzlich nicht leichtfiel. Und so waren sie Freunde geblieben, Freunde, die sich allerdings nur alle paar Jahre sahen.

Roland hatte Karriere in der Senatsbauverwaltung gemacht, war verheiratet und hatte einen Sohn, der inzwischen seinerseits an der TU studierte. Mansur schüttelte den Kopf. Wie die Zeit vergeht, dachte er sich. Aber eigentlich war er mit Anfang 50 doch noch gar nicht so alt.

Die Stewardess hatte die kurze Gangway heruntergelassen und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, als er die Maschine verließ. Nein, er war entschieden noch nicht zu alt.

»Manni, Manni, hier!«, hörte Mansur rufen und begann, sich ein wenig fremdzuschämen. Er hatte es Roland nie ausreden können, ihn mit diesem Spitznamen zu rufen. Roland winkte aufgeregt, als Mansur vor den Flughafen trat und hilflos die Arme hob.

»Alter, Mann, ey … hab’ ich dir nicht schon vor 20 Jahren gesagt, dass ich nicht Manfred heiße? Ich heiße Mansur, verdammt. Das heißt ›Der Sieger‹ – ach scheißegal.« Sie umarmten sich und ließen sich sekundenlang nicht los.

»Hast du kein Gepäck?«, fragte Roland irritiert. Mansur deutete mit dem Kopf hinter sich. Dort stand frierend der Pilot der Gulfstream und zog einen großen und einen kleinen Hartschalenkoffer hinter sich her. Roland sah seinen Freund vorwurfsvoll an. »Das also ist aus der Weltrevolution geworden!«

Mansur drehte sich um und wollte seinem Piloten die beiden Rollkoffer entwinden. Doch der wehrte sich wortreich und fast schon panisch. Er zuckte mit den Schultern. »Was soll schon aus der Weltrevolution werden, wenn sich das unterdrückte Proletariat mit Gewalt dagegen wehrt?«

Wenig später standen sie vor Rolands Volvo, von dem Piloten misstrauisch beäugt. Der betrachtete den Wagen entschieden nicht als standesgemäßes Gefährt für seinen Herrn. Er lud die Koffer in den geräumigen Gepäckraum des Kombis und verabschiedete sich wortreich.

»Sind deine Untergebenen alle so servil?«, fragte Roland eher neugierig als vorwurfsvoll.

»Manchmal nervt es«, räumte Mansur ein, »aber das ist auch eine Frage der Mentalität. Der Raiis kommt eben knapp unterhalb von Allah.«

»Dann stell doch Kopten ein«, schlug Roland vor und dachte, er habe eine scherzhafte Bemerkung gemacht.

Doch Mansur antwortete ernst. »Meine Belegschaft in Ägypten besteht zu 80 Prozent aus Muslimen. Und was schreiben die Zeitungen? Ich würde nur Kopten einstellen. Da kannst du machen, was du willst.«

»Ist es immer noch so schlimm?«

»Was heißt schlimm? Es ist schon viel besser geworden. Aber weißt du, wir Kopten haben halt im Schnitt mehr Geld, vielleicht, weil wir fleißiger sind, vielleicht cleverer – aber vielleicht liegt es auch daran, dass wir seit 1 400 Jahren in unserem eigenen Heimatland in der Minderheit sind und uns eben immer behaupten müssen.«

»Irgendwie kommt einem das doch bekannt vor.«

Nun lachte Mansur. »Erzähl mir jetzt nichts von den Juden am Rhein. Darüber könnte ich inzwischen selbst Vorlesungen halten. Sag mir lieber, wie geht es eurem Flughafen?«

Roland stöhnte auf. »Das willst du jetzt nicht wirklich wissen, oder?«

Er war in der Senatsbauverwaltung zwar nicht direkt mit dem desaströsen Bau des neuen Hauptstadtflughafens beschäftigt. Aber jeder, der ihn kannte, ging wie selbstverständlich davon aus, dass er über alles genau Bescheid wusste.

»Wenn du dich nicht so sträuben würdest, hättest du den Job haben können«, erklärte Roland vorwurfsvoll.

Mansur lachte. »Soweit kommt’s noch. Ich habe mit meinem Gärtchen genügend zu tun. Aber im Land der Ingenieure und Erfinder sollte sich doch irgendjemand finden, der einen Flughafen bauen kann.«

»Ich weiß nicht, vielleicht geht’s uns Deutschen ja wie euch Ägyptern.«

»Wieso?«, fragte Mansur irritiert.

»Na, ihr habt die Pyramiden gebaut und dann auch erst mal für mal ein paar Jahrtausende Pause gemacht.«

Mansur lachte laut. »Das ist zwar historisch nicht ganz korrekt, trifft aber sicher den Kern der Sache.«

Mansur hatte standesgemäß eine Suite im Adlon am Brandenburger Tor gebucht. Doch als sie sich ihrem Ziel näherten, waren die Straßen von der Polizei abgesperrt.

Roland schlug sich vor der Stirn. »Verdammt, das hatte ich ganz vergessen. Heute ist ja Montag.«

»Und montags komme ich nicht zu meinem Hotel?«, fragte Mansur irritiert.

»Zurzeit eher nicht. Montags wird das Brandenburger Tor von Demonstranten und Gegendemonstranten belagert.«

»Und? Wer gegen wen?«, fragte Mansur leicht belustigt.

»Na ja, das ist mir jetzt ein wenig peinlich. Aber das sind diese Typen, die das Abendland vor einer Islamisierung retten wollen.«

»PEGIDA? Sollten wir da nicht mitmarschieren? Also bei den Gegnern, meine ich?«

Roland zuckte mit den Schultern. »Mir soll’s recht sein, ich war schon viel zu lange nicht mehr auf einer Demo. Aber ich dachte, dass du vielleicht erstmal etwas essen und trinken willst. So schnell wirst du nicht an die Hotelbar des Adlon kommen.«

Mansur dachte nach und bekam dann plötzlich glänzende Augen. »Weißt Du, wie lange es her ist, dass ich eine Currywurst gegessen habe?«

»Mansur Ghali, ein armer, aber ehrlicher Milliardär«, lachte Roland. »Dir kann geholfen werden.«

Dadurch, dass viele Straßen gesperrt waren, wurde es zu einer kleinen Irrfahrt. So fanden sie sich plötzlich in der Alexandrinenstraße wieder, jener Ecke, die zwar den geografischen Mittelpunkt Berlins bildete, aber auch zu den ödesten der Stadt gehörte. Keine Kneipen, keine Läden, nichts, nur ein paar Hochhäuser.

»Du weißt aber schon noch, wo wir sind?«, fragte Mansur zweifelnd.

Roland drehte den Kopf zu ihm und sah ihn mitleidig an. Als er sich wieder der Fahrbahn zuwandte, sah er nur einen Schatten und trat im gleichen Moment mit aller Macht auf die Bremse.

Ein dumpfer Knall.

»Oh mein Gott«, rief Roland entsetzt. »Ich hab’ jemanden angefahren!«

Der Wagen kam zum Stehen. Roland und Mansur rissen die Türen auf. Wenige Meter hinter dem Volvo, halb auf dem Bürgersteig, halb auf der Fahrbahn und direkt unter einer Straßenlaterne lag eine Gestalt. Blut färbte das Pflaster langsam rot. Noch ehe sie das Unfallopfer erreicht hatten, schien es sich zu berappeln. Es war ein junger Schwarzer, der sich nun stöhnend auf seine Arme stützte.

Roland kniete sich neben ihn und fragte: »Alles okay?«

Mansur, der sich von der anderen Seite über den Verletzten beugte, schüttelte den Kopf und brummte: »Reichlich intelligente Frage. Komm, wir müssen Polizei und Krankenwagen rufen.«

Der junge Mann wurde beinahe panisch. »No police, no police, pas de police!«, schrie er in einem Mischmasch aus Englisch und Französisch.

Mansur blickte Roland vielsagend an. »Scheint etwas ausgefressen zu haben, das Früchtchen.«

Roland schien sich zu winden. »Na, wenn er partout keine Polizei haben will … und am Auto wird auch nicht mehr als eine Delle sein.«

Mansur brummte. »Verstehe, Senatsbauverwaltung.«

Roland zuckte schuldbewusst mit den Schultern.

»Trotzdem, ins Krankenhaus muss er. Schau dir die Stirnwunde an. Hat sicher eine Gehirnerschütterung. Vielleicht hat er sich auch noch was anderes eingefangen.« Er wandte sich dem Mann zu. »We will bring you to the next hospital.«

Die Augen des jungen Schwarzen wurden immer größer. Energisch schüttelte er den Kopf. »No hospital, no hospital. Trop cher, nix Geld.«

»Sprachbegabt ist er ja«, meinte Mansur trocken und wandte sich wieder dem Verletzten zu. »No problem. I will pay everything.«

Der Schwarze blieb misstrauisch. Er schien Schmerzen zu haben.

»Ich schätze mal, er kommt wohl irgendwo aus Westafrika«, vermutete Mansur.

»Dann ist er wahrscheinlich ein Flüchtling oder ein Dealer, wahrscheinlich beides.«

»Vous êtes un réfugié?«

Der Mann schaute Mansur ängstlich an. Doch Mansur schenkte ihm sein wärmstes Lächeln. Der andere schien Vertrauen zu fassen. »Pas de police. Seulement l'hôpital. Keine Polizei, nur das Krankenhaus.«

»Ich schau mal nach dem Verbandskasten«, kündigte Roland an.

Bis Roland wieder da war und ein Verbandspäckchen um die Kopfwunde gelegt hatte, hatte Mansur erfahren, dass der junge Mann Souliman hieß und aus dem Senegal stammte.

»Puh, dann wird er ja schlechte Karten haben«, sagte Roland.

»Wieso?«, wollte Mansur wissen.

»Na ja, der Senegal gilt jetzt vielleicht nicht als sicheres Herkunftsland, aber sicher auch als keines, für das besonders triftige Asylgründe vorliegen.«

Die beiden stützten Souliman links und rechts und führten ihn zum Auto. Er ließ alles mit sich geschehen. Roland schnallte ihn noch sorgsam an und fuhr los. Keine fünf Minuten später hatten sie das Urbankrankenhaus erreicht, jene große Klinik, die über dem früheren Hafen am Landwehrkanal errichtet worden war.

Roland bremste scharf vor der Notaufnahme. Sie holten ihren Patienten vorsichtig vom Beifahrersitz, als plötzlich ein Polizist neben ihnen auftauchte.

»Darf man fragen, was hier passiert ist?«, erkundigte er sich, ohne auch nur den Versuch zu machen, sein offenkundiges Misstrauen zu verbergen.

»Verflucht, ich habe schon geahnt, dass ich diese Geschichte heute noch erzählen muss«, fluchte Mansur und weckte damit erst recht die Neugier des Beamten. Roland erstarrte. Mansur lamentierte: »Es war alles meine Schuld. Es ist in unserem Bandkeller passiert. Sammy spielt das Cajón und dann und wann die Steeldrums. Eigentlich kommen wir ja vom Jazz. Na, wir sind ja auch nicht mehr die Jüngsten. Aber seit Sammy bei uns ist, ist das alles ganz anders. Er hat richtig Schwung in unseren Laden gebracht. Na ja, er fand, dass ich an meinem Kontrabass nicht nur einfach so rumstehen sollte, sondern mehr so interagieren.«

 

»Interagieren?«, fragte der Beamte ungläubig.

»Können wir jetzt, Manni?«, fragte Roland ungeduldig.

»Interagieren …«, wiederholte der Polizist.

»Na ja, er meinte … soll ich das wirklich erzählen? Es ist schon peinlich genug.«

»Was ist peinlich?«

»Sammy meinte, ich solle es mit Samba versuchen.«

»Mit Samba?«

»Na ja, ich solle mit meinem Kontrabass richtig Samba tanzen. Käme auf der Bühne sicher saugut.«

»Und dann?«

»Hab’ ich Sammy voll erwischt mit meinem Kontrabass. An der Stirn, hat geblutet wie Sau.«

»Und warum stehen Sie dann noch rum? Bringen Sie den Mann in die Notaufnahme!«

»Aye, aye, Sir«, erwiderte Mansur zackig.

Sie brachten Souliman in den Warteraum des Krankenhauses.

Roland war noch immer völlig perplex. »Eine dämlichere Ausrede ist dir nicht eingefallen?«

»Je mehr du dich selbst zum Affen machst, desto glaubwürdiger wird doch eine Ausrede. Der hat mir sicher jedes Wort geglaubt.«

»Du und Kontrabass.«

Die Schwester von der Aufnahme kam mit einem Klemmbrett herein. Ehe sie etwas sagen konnte, hatte sich Mansur bereits bei ihr untergehakt.

»Schwester, das ist ein heikler Fall. Der Mann ist ein Flüchtling und hat fürchterliche Angst, dass die Polizei ins Spiel kommen könnte. Er fürchtet, abgeschoben zu werden. Bitte lassen sie die Polizei außen vor. Ich komme für die Behandlung auf. Hier haben sie einen Vorschuss und hier meine Adresse.«

»Nun mal langsam. Wir kennen uns hier mit Flüchtlingen aus und wissen ziemlich genau, wie wir mit ihnen umge…« Sie stockte mitten im Satz, als sie sah, dass ihr Mansur eine Visitenkarte und zwei 500-Euro-Scheine entgegenstreckte.

»Ich denke, das wird die Unkosten für eine Sofortmaßnahme wohl decken?«, fragte er freundlich.

»Aber ja, äh, gewiss … aber sagten Sie nicht, er sei ein Flüchtling?«

Mansur atmete scharf ein, um seinen aufkommenden Ärger wieder herunterzuschlucken. Dann sagte er mit zuckersüßer Stimme: »Sagen wir so: Er ist ein Flüchtling, der heute viel Glück gehabt hat.«

Die Krankenschwester sparte sich nun weitere Fragen, nahm die Karte und das Geld.

»Nun gut. Sie sind offenbar für ihn verantwortlich. Dann …«

»Steht alles auf der Karte. Ohne, dass ich jetzt der Diagnose Ihres Arztes vorgreifen will: Ich vermute, dass ein dringender Verdacht auf eine leichte Gehirnerschütterung besteht. Deshalb schlage ich vor, dass Sie ihn über Nacht hierbehalten, und ich werde morgen wieder nach ihm sehen.«

Die Krankenschwester kniff die Lippen zusammen. Noch einmal wollte sie etwas sagen.

Doch Mansur hielt seinen Zeigefinger an die Lippen. Leise und betont freundlich sagte er: »Ich gehe davon aus, dass das alles tadellos klappt. Wenn nicht, dann kaufe ich dieses ganze Krankenhaus mit allem, was drin ist, und versetze Sie höchstpersönlich in die Spülküche.«

Die Krankenschwester holte Luft und wandte sich an Roland. »Der kann doch nicht …«

Weiter kam sie nicht, denn Roland bestätigte sehr trocken: »Doch, der kann. Das dürfen Sie mir glauben.«