Der gute Mensch von Assuan

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2. Kapitel

Wo da Not ist, denkt er, gibt es keine Güte!

Benjamin Eichbaum knabberte gesalzene Erdnüsse. Es war der Abend des allmonatlichen Hintergrundgespräches mit der Bezirksbürgermeisterin. Seit Monaten drehten sich diese Termine nur noch um das Thema Flüchtlinge. Es war zwar nicht so, dass es keine Probleme mit zu knappem Wohnraum, leeren Haushaltskassen oder Drogen auf den Straßen und in den Parks gegeben hätte, aber es blieb eine unbestreitbare Tatsache, dass die Flüchtlingsfrage all diese Themen erheblich beeinflusste. Der Journalist seufzte laut, schnipste eine Erdnuss hoch und fing sie geschickt mit dem Mund auf.

»Du kannst ja Kunststückchen«, beschied ihm Silke Sperling grinsend. »Vielleicht sollten wir mit dir auf Tournee gehen, dann wäre unsere klamme Haushaltskasse schnell wieder voll.«

»Ja, und eine Woche später würdest du mir erzählen, dass sich der Finanzsenator mal wieder alles unter den Nagel gerissen hat.«

Wenn es nicht um Flüchtlinge ging in diesen Gesprächen, dann häufig darum, wie die Senatsverwaltung ein ums andere Mal die Bezirke aushebelte. Besonders auf den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hatte es das Rote Rathaus abgesehen. Seit Jahren war dieser Bezirk fest in der Hand der Grünen. In allen anderen Rathäusern regierten die Roten oder die Schwarzen – und die bildeten eine Koalition im Abgeordnetenhaus. Kein Wunder also, dass die Landesregierung alles daransetzte, die Bezirksverwaltung bei jeder Gelegenheit schlecht aussehen zu lassen. Gerade das Flüchtlingsthema bot dafür reichlich Gelegenheit.

Silkes Miene wurde grimmig. »Stell dir vor: Wir müssen jetzt in der Mariannenstraße eine Turnhalle räumen, um Platz für Flüchtlinge zu schaffen. Gleichzeitig wollen sie in Treptow jetzt zwei Häuser abreißen, in denen wir 90 Flüchtlinge unterbekämen.«

»Warum sollen die Häuser denn abgerissen werden?«, wollte Benny wissen.

»Für die A 100. Abgesehen davon, dass ich sie für so überflüssig wie einen Kropf halte: Dieser Bauabschnitt wird erst in fünf Jahren in Angriff genommen. Es gibt gar keine Veranlassung, die Häuser jetzt abzureißen. Und es kommt noch besser: Sozialsenator Bunzel erkundigt sich bei seinem Kollegen, Bausenator Rute, ob man die Häuser nicht als Übergangslösung für Flüchtlinge stehen lassen könne – und der Rute sagt nein.«

»Moment«, Benny war höchst irritiert. »Rute ist doch ein Sozi und Bunzel ein Migrantenfresser von der Union?«

Silke grinste breit. »So ist es.«

Bennys parteipolitisches Weltbild hatte gerade einen schweren Knacks bekommen. Aber inzwischen sollte man sich über gar nichts mehr wundern.

In der leicht verqualmten Kellerkneipe hatten sich mittlerweile ein paar Stammgäste eingefunden. Man grüßte sich mit einem kurzen Nicken. Wenn sich Benny und Silke an den kleinen runden Tisch in der Ecke zurückgezogen hatten, dann war den meisten klar, dass dort in gewisser Hinsicht gearbeitet wurde, und das wurde meist auch respektiert.

Dass um diese Zeit zwei wildfremde Menschen die Kneipe betraten, war zumindest so ungewöhnlich, dass Benny kurz den Kopf hob. Er stutzte. Ganz so wildfremd waren sie nicht. Zumindest den einen kannte er doch! Benny schüttelte sich kurz, als habe er eine Erscheinung gehabt, die sich nun schnell wieder verflüchtigen würde. Er sah noch einmal genauer hin. Er war es. Nein, das konnte nicht sein. Was hatte der in einer Kellerkneipe in Kreuzberg verloren?

»Ist was?«, fragte Silke. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

Benny schüttelte langsam den Kopf. »Dachte ich auch, aber ich müsste mich schon sehr täuschen, wenn da am Tresen nicht Mansur Ghali sitzen würde.«

»Kenn’ ich nicht.«

»Das ist einer der reichsten Männer Afrikas. Der baut schlüsselfertige Städte. Ich hab’ ihn vor drei Jahren einmal auf seiner Yacht interviewt.«

Jetzt drehte sich auch Silke um. »Du meinst den gutaussehenden, hochgewachsenen Mann, der ein wenig an Omar Sharif in jungen Jahren erinnert und neben Roland Hektor von der Senatsbauverwaltung sitzt?«

»Kenn’ ich nicht.«

»Aber gleich.«

»Gemütlicher Laden«, sagte Mansur und ließ seinen Blick schweifen.

»Ja, ich war viel zu lange nicht mehr hier.« Roland grinste so zufrieden, als gehöre ihm die Kneipe persönlich.

»Dass es so etwas noch gibt … Ich dachte schon, ganz Berlin würde nur noch aus Espresso-Bars und Cocktail-Lounges bestehen.«

»Ich weiß doch, was dir gefällt«, bemerkte Roland nicht ohne einen Anflug von Stolz.

Der junge Mann hinter dem Tresen servierte den beiden ein frisches, liebevoll gezapftes Bier. Sie stießen an. Da hielt Roland schlagartig mit dem Trinken inne. Über den Rand seines Glases hatte er Silke Sperling gesehen. Wenn es eine Person in dieser Stadt gab, der er heute am wenigsten begegnen wollte, dann war es diese Frau.

»Was ist denn los mit dir? Schmeckt das Bier nicht mehr?«, fragte Mansur besorgt.

»Wir müssen weg«, flüsterte Roland.

»Bis du verrückt? Wir haben gerade mal einen Schluck getrunken.«

Silke winkte grinsend und deutete auf ihren Tisch.

Roland lächelte schief. »Zu spät, sie hat mich entdeckt.«

»Wer hat dich entdeckt?«

»Mansur«, erklärte Roland mit einem tiefen Seufzen, »ich werde dich jetzt einer hochinteressanten Frau vorstellen. Sagt dir der Name Silke Sperling etwas?«

Roland und Mansur traten an den kleinen Tisch.

»Hallo Silke, schön dich zu sehen.«

»Lügner«, sagte sie augenzwinkernd. »Aber nett von dir, das zu sagen. Und dein Begleiter ist wohl Mansur Ghali, ein Mann, mit dessen Privatvermögen der Haushalt des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg für mindestens zwölf Jahre gedeckt wäre?«

Mansur lachte laut auf. »Und Sie müssen die Bezirksbürgermeisterin sein. Ich habe schon gehört, dass Sie kein Blatt vor dem Mund nehmen und dass Sie die Drogenprobleme ihres Bezirks mit Coffeeshops lösen wollen. Interessanter Gedanke übrigens. Ihren Begleiter habe ich auch schon einmal getroffen. Warten Sie … Benjamin Eichbaum. Vor drei Jahren auf meiner Yacht, stimmt’s?«

»Ich bin beeindruckt und geschmeichelt, Herr Ghali. Offen gestanden hätte ich nicht gedacht, dass Sie sich an mich erinnern.«

»In meiner Position tue ich gut daran, mich an möglichst viele Menschen zu erinnern, die einmal meinen Weg gekreuzt haben.«

Die vier einigten sich schnell darauf, einen größeren Tisch zu nehmen. Kaum hatten sie sich niedergelassen, fiel Silke regelrecht über Roland her – und lüftete damit das Geheimnis, warum sie die beiden Männer an den Tisch gebeten hatte.

»Sag mal, Roland, die Sache mit den Häusern in Treptow … Was ist denn in deinen Chef gefahren? Wir wissen nicht mehr, wo wir die armen Teufel noch unterbekommen sollen, räumen Turnhallen frei, bauen Traglufthallen auf und beschlagnahmen jeden halbwegs bewohnbaren Container, und dann wollt ihr zwei Häuser abreißen, in denen wir 90 Menschen unterbringen könnten? Ich glaube, bei euch hackt’s.«

Roland hob abwehrend die Hände. »Ich bin nicht Rute.«

»Aber du hast dich an ihn verkauft.«

»Ach Silke, fang nicht wieder mit den alten Geschichten an.«

»Apropos, wie geht es Deborah?«, fragte Silke zuckersüß und hinterlistig, weil sie genau wusste, dass Rolands Ehe so ziemlich am Ende war.

»Das äh … ja, ich werde sie von dir grüßen.«

»Wirst du natürlich nicht, ist aber auch nicht so schlimm. Was ist nun mit den Häusern?«

»Das würde mich jetzt auch interessieren«, wandte Mansur ein. »Stimmt das, was Frau Sperling sagt? Das ist doch der reine Wahnsinn.«

»Ich kann euch sagen, was dahintersteckt. Rute fürchtet, dass man sie dann nicht mehr rausbekommt oder nur mit den härtesten Mitteln. Ich muss dich nicht an die Gerhart-Hauptmann-Schule erinnern. Davor hat Rute Schiss.«

Mansur schüttelte den Kopf. »Ich verstehe euch Deutsche manchmal nicht. Woher kommt die Angst vor ein paar Zehntausend Flüchtlingen? Ihr habt so viel Geld, dass ihr das Problem locker in den Griff bekommen könntet. Ihr könntet euch doch den ganzen Ärger mit Demonstrationen und Krawall einfach sparen.«

Silke schüttelte heftig den Kopf. »Gerade wir in den Kommunen und Bezirken haben eben gar kein Geld. Wissen Sie, woran man in Kreuzberg merkt, dass der Herbst kommt? Nicht an den gelben Blättern, sondern an der Haushaltssperre.«

»In dem Land steckt genug Geld, man muss nur einen finden, der es für etwas Sinnvolles ausgibt. Ich habe zum Beispiel in Assuan ein ganzes Stadtviertel für Obdachlose gebaut. Warum? Weil ich es kann, und weil ich es richtig finde. Sollte es in Ihrem Land nicht irgendjemanden geben, der so etwas Ähnliches auch macht? Zum Beispiel für Flüchtlinge?«

Benny lachte bitter auf. »Wer bei uns reich ist, verschleppt sein Geld lieber in die Schweiz oder bunkert es auf Grand Cayman. Sozialpflichtigkeit des Eigentums, dass ich nicht lache.«

Roland pflichtete ihm bei: »Soziale Marktwirtschaft, das war einmal. Finsterstes 20. Jahrhundert, Wirtschaftswunderzeit.«

»Es ist doch eigentlich komisch. Damals kamen 13 Millionen Flüchtlinge nach Westdeutschland. Und Westdeutschland war damals nicht reich, sondern völlig zerstört, außerdem lebten nicht 80, sondern nur 50 Millionen Menschen dort. Und trotzdem ist es irgendwie gelungen, sie zu integrieren«, dozierte Benny, so wie er es gerne tat.

Doch Roland fuhr ihm in die Parade. »Aber die Menschen haben damals genauso reagiert. Die wollten auch keine Flüchtlinge. Ich weiß das noch von meinen Großeltern. Die haben immer wie die Rohrspatzen auf die Flüchtlinge geschimpft. Denen sei alles hinten reingeschoben worden, und selbst hätten sie nichts gehabt. Noch Jahrzehnte später waren sie überzeugt, ihnen sei etwas genommen worden. Dabei haben sie wirklich alles gehabt. Großes Haus, dickes Auto, selbst im Alter noch Urlaubsreisen und eine Ferienwohnung in Spanien. Aber auf die Flüchtlinge waren sie Zeit ihres Lebens neidisch.«

 

Benny hob belehrend den Finger. »Es gab aber einen grundlegenden Unterschied. Die Regierung hat seinerzeit richtig viel Geld in der Hand genommen für das Lastenausgleichsgesetz und auf diese Weise die Flüchtlinge aus dem Osten ganz schnell integriert. Heute ist das anders.«

»Damals brauchte man die Flüchtlinge allerdings auch für den Wiederaufbau des Landes, wenn ich mich nicht irre«, wandte Mansur ein.

»Wir könnten sie jetzt auch wieder gut gebrauchen«, hakte Silke ein. »Es ist ja nicht so, dass das alles Idioten wären, die hier ankommen. Im Prinzip ist Europa ja eine Festung, in die keiner reinkommen soll, den wir nicht reinlassen wollen. Die, die es jetzt trotzdem schaffen, dieses ausgeklügelte und harte System zu überlisten, sind ja offenbar nicht ganz doof. Sie scheinen intelligent zu sein, zielstrebig und zäh. Das sind doch schon mal Softskills, die heutzutage jeder Arbeitgeber gerne sieht. Und dann ist es ja auch so, dass viele von denen, die hier ankommen, auch noch richtig gut ausgebildet sind.«

»Das ist dann doch aber einfach eine Verschwendung menschlicher Ressourcen, wenn ihr solche Leute wieder zurückschickt, oder?«, fragte Mansur ein wenig indigniert.

Silke lachte laut auf und streckte die Arme in einer abwehrenden Geste aus. »Sagen Sie das nie, wenn irgendwelche Parteifreunde von mir in der Nähe sind. Das Wort von den ›menschlichen Ressourcen‹ kommt da gleich hinter ›Sklaverei‹ und ›Leibeigenschaft‹.«

»Ich habe gehört, Flüchtlinge dürfen nicht arbeiten?«, erkundigte sich Mansur. »Dabei könnten sie dann doch für sich selbst sorgen, statt dem Staat zur Last zu fallen.«

»Sie könnten ja auf die Idee kommen zu bleiben«, erwiderte Silke mit galliger Ironie.

»Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien sind okay. Sie sollten nur keine Moslems sein und sich zeitnah wieder nach Syrien verkrümeln«, erklärte Roland und schlug in dieselbe Kerbe.

»Wenn’s richtig knallt und kracht, dann sind auch die PEGIDA-Leute bereit, Bürgerkriegsflüchtlinge aufzunehmen. Wenn Leute aus einer Region kommen, in der es nicht knallt, sind es automatisch Wirtschaftsflüchtlinge, die nur herkommen, um uns auszunehmen. Die Montagsdemonstranten in Dresden sagen das laut, und viele Politiker denken genau das leise, so sieht es aus«, erklärte die Bürgermeisterin überzeugt.

»Aber eines ist doch auch klar: Die meisten, die, sagen wir, aus Schwarzafrika übers Mittelmeer hierherkommen, haben nicht die geringste Chance, Asyl zu bekommen, weil sie einfach nicht politisch verfolgt werden«, wandte Roland ein.

»Und was spielt das für eine Rolle?«, fragte Silke scharf.

»Wenn ich einen politisch Verfolgten zurückschicke, drohen ihm vielleicht Folterung und Tod. Davor muss sich so ein – entschuldige bitte – Wirtschaftsflüchtling eher nicht fürchten«, wehrte sich Roland.

Silke begann laut zu lachen. Es war ein bitteres, hartes Lachen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Da täuschst du dich aber, mein Lieber. Viele von denen, die du Wirtschaftsflüchtlinge nennst, sind massiv vom Tod bedroht, wenn sie in ihre Heimat zurückkehren. Und zwar sind es ihre eigenen Familien, die sie dann umbringen«, erwiderte sie ernst.

»Mach keine schlechten Witze mit mir«, gab Roland verunsichert zurück.

»Es ist so: Große Familien, beispielsweise in Ghana, sammeln innerhalb der Familie Geld. Mit diesem Geld soll der intelligenteste Sohn irgendwie nach Europa geschleust werden. Damit er dann möglichst viel Geld verdient, es nach Hause schickt und dann die ganze Familie ein besseres Leben hat. Wenn er nichts zurückschickt oder gar mit leeren Händen nach Hause zurückkommt, dann ist das nicht nur eine unfassbare Schande. Es wird auch davon ausgegangen, dass der Rückkehrer die Familie betrogen hat. Und das führt – der örtlichen Folklore entsprechend – zu ziemlich massiven Maßnahmen, die häufig einen letalen Ausgang nehmen.«

Alle schwiegen einen Moment betroffen.

»Schwarzafrika, sagen Sie?«, hakte Mansur nach.

»Warum fragen Sie?«, wollte Silke wissen.

»Ich habe da einen jungen Mann kennengelernt«, begann Mansur und sah in dem Moment, wie sich ein Anflug von Panik in Roland Hektors Gesicht widerspiegelte. »Der kam wohl aus dem Senegal …«

»Ein Flüchtling? Hier? Wo lernt denn jemand wie Sie hier einen Flüchtling kennen.«

»Das ist jetzt nicht so spannend«, warf Roland ein. »Eigentlich sollten wir jetzt auch langsam los.«

»Na, jetzt mal langsam, Roland. Was hast du denn? Jetzt, wo es gerade spannend wird. Hat dein Freund etwas zu verbergen?«, wollte Silke wissen.

»Nein, nein«, lachte Mansur. »Ich war heute Morgen noch in Paris. Und da hätte mein Fahrer auf dem Weg zum Flughafen um ein Haar einen jungen Mann aus dem Senegal überfahren. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert. Der war wohl auch ein Flüchtling und ich habe mich gefragt, ob er nicht ein ähnliches Schicksal hinter sich hat.«

Silke runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht so recht, wie das in Frankreich ist. Tatsächlich war das ja mal französische Kolonie. Ich denke, dass es für die Leute aus dem Senegal wahrscheinlich leichter ist, nach Frankreich zu kommen«, erwiderte sie.

»Und die Sprache«, fiel Roland ein. »Und die Sprache, nicht zu vergessen. Sie tun sich in Frankreich eben doch viel leichter.«

Benny Eichbaum war die merkwürdige Reaktion von Roland Hektor nicht entgangen. Er hatte ihn und Mansur Ghali scharf beobachtet. Der Ägypter hatte unfassbar schnell reagiert. Doch Benny war sich sicher, dass diese Geschichte mit Paris nicht stimmte. Aber vielleicht stimmte die Geschichte mit dem Unfall – und mit dem Opfer, einem Senegalesen. Benny witterte eine Story.

»Ich kenne ja Ihr soziales Engagement, Herr Ghali. Aber trotzdem: Woher stammt Ihr großes Interesse an der deutschen Flüchtlingsproblematik?«, wollte Benny wissen.

»Ich habe ja hier in Berlin studiert. Die Stadt ist heute noch ein Stück Heimat für mich. Und wenn Sie es niemand verraten: Ich habe sogar eine Zeitlang hinter dem Zapfhahn gestanden.«

»Nee …«, entfuhr es Benny, »das haben Sie nie erzählt.«

Mansur lachte laut auf. »Natürlich nicht, oder glauben Sie, ich hätte gerne die Geschichte vom kellnernden Millionär in Ihrem Blatt gelesen?«

»Aber der Bezirk hat sich hier schon sehr verändert – und ja, natürlich auch mit und durch die Flüchtlinge. Sie sollten Ihn sich mal ansehen. Was meinst du Silke, willst du nicht mal wieder die Stadtführerin machen?«

Sie klatschte vor Begeisterung in die Hände. »Mensch, das ist mal eine Idee.«

»Dein Terminkalender ist ganz schön voll«, wandte Roland ein.

»Dann mach ich ihn mir morgen mal für den Vormittag ganz leer, würde ich sagen«, entgegnete Mansur. Er funkelte Silke herausfordernd an.

Sie hielt seinem Blick stand und lächelte spöttisch. »Dann werde ich meinen Terminkalender auch leeren. Stand eh nur ein zweistündiges Gespräch mit dem Innensenator auf den Plan. Ich bin froh, wenn ich den nicht sehen muss.«

Mansur nickt zufrieden, streckte ihr die Hand entgegen und sagte fröhlich: »Und lass das mal mit dem Herrn Ghali, ich bin Mansur.«

Silke kratzte sich am Hinterkopf und überlegte. »Okay, Mansur, ich bin Silke … aber eines noch: Komm nicht auf die Idee, mich morgen mit einer Stretchlimo abzuholen. Wir treffen uns um zehn am Oranienplatz – mit dem Fahrrad.«

Mansur riss die Augen auf. »Mit dem was?«

»Mit dem Fahrrad natürlich.«

»Aber da draußen ist es kalt, da ist Winter, da fährt kein Mensch mit dem Rad.«

»In Kreuzberg schon. Musst halt lange Unterhosen anziehen, wenn du so etwas hast.«

Mansur schüttelte den Kopf und schaute Roland hilfesuchend an. »Roland, die Frau ist verrückt, hilf mir.«

Doch Roland zuckte nur mit den Schultern. »Ihr kommst du nicht bei.«

»Meinetwegen, aber du kommst mit.«

3. Kapitel

Sie sind arm.

Sie sind ohne Obdach.

Sie sind ohne Freunde.

Es war einer jener nasskalten, grauen Tage, die den Winter in Berlin so unerträglich machten. Der Himmel, der nur eine Handbreit über den Dächern der Stadt hing, konnte sich nicht so recht entscheiden, ob er regnen sollte oder nicht. Also nieselte er ab und an. Es war kein Wetter zum Fahrradfahren.

Mansur und Roland waren natürlich mit dem Auto nach Kreuzberg gefahren. Mansur hatte in aller Frühe noch ein Mountainbike für 900 Euro gekauft. Er würde es nach dieser Tour vermutlich nie wieder benutzen, dachte er mit ein wenig Bedauern. Sie hatten die Räder in Rolands Volvo verstaut und waren bis zum Wassertorplatz gefahren. Dort stellte Roland den Wagen ab und beide schwangen sich aufs Rad.

Am südlichen Ende des Oranienplatzes warteten Silke und Benny vor einem mehreckigen Holzpavillon.

Nach einer kurzen Begrüßung kam die Bürgermeisterin zur Sache. »Das ist das Dokumentationszentrum, das den Refugees so wichtig war«, erklärte sie. Mansur fiel auf, dass sie nicht mehr von Flüchtlingen sprach. In dem Dokumentationszentrum spiegelte sich der zweijährige, verzweifelte Kampf von rund 100 Flüchtlingen wieder. Sie waren eines Tages im Herbst von München ausgezogen zu einem Protestmarsch nach Berlin. Alleine damit hatten sie sich schon strafbar gemacht, weil sie gegen die Residenzpflicht verstoßen hatten, jener Pflicht also, die es jedem Asylbewerber auferlegte, den Ort nicht zu verlassen, an dem er seinen Asylantrag gestellt hatte oder an den ihn die Ausländerbehörde befohlen hatte. Der Protestmarsch richtete sich gegen diese Regelung ebenso wie gegen das Arbeitsverbot, das es jedem Asylbewerber unmöglich machte, sich durch eigener Hände Arbeit zu ernähren.

In Berlin hatten sie zunächst am Brandenburger Tor demonstriert und schließlich hier auf dem Oranienplatz ein Zeltlager aufgeschlagen. Zwei Winter hatten sie hier verharrt und stets erklärt, sie würden erst wieder weichen, wenn diese Gesetze gefallen seien.

Silke hatte damals zwischen allen Stühlen gesessen, berichtete sie. Einerseits war sie immer davon überzeugt gewesen, dass die Flüchtlinge völlig recht damit hatten, diese Forderungen zu erheben, andererseits konnte sie als Lokalpolitikerin nichts, aber auch gar nichts dafür tun, diese Forderungen zu erfüllen. Im Gegenteil: Gerade, weil ihre Haltung sehr deutlich war, agierte der Innensenator bei jeder Gelegenheit gegen sie. Umgekehrt differenzierten die Flüchtlinge nicht besonders. Für sie war die Bürgermeisterin eine mächtige Frau, so mächtig, dass es ihr doch ein Leichtes sein musste, die Gesetze zu ändern. Warum tat sie es dann nicht?

Viele Flüchtlinge waren im ersten Winter in einer leerstehenden Schule untergebracht worden. Doch auf den Oranienplatz rückten andere nach. Die sanitären Verhältnisse wurden zum Problem, die Gewalt stieg deutlich an, und immer neue Flüchtlinge kamen nach Berlin. Mit den Sprechern der Flüchtlinge wurde verhandelt, um welchen Preis sie den Oranienplatz im Herzen Kreuzbergs verlassen würden. Die Forderungen blieben die Gleichen. Schließlich kam es zu Übereinkünften, die am Ende aber meist wieder platzten. Dann warfen sich beide Seiten gegenseitig Lügen vor, wo es doch offensichtlich um ein gegenseitiges Unverständnis ging.

Das alles erzählte Silke mit bewegenden Worten dem Mann aus Ägypten. »Ich weiß nicht, ob du das auch nur annähernd nachfühlen kannst.«

Mansur lächelte schwach. »Meine Eltern mussten aus Ägypten flüchten – vor Nasser. Ja, unsere Familie war damals schon reich, aber Nasser hat uns enteignet, und so konnten Vater und Mutter nur noch das nackte Leben retten und flohen nach Libyen. Dort hat mein Vater dann den Grundstein für das Familienvermögen gelegt.«

»Hier wäre ihm das wohl nicht so leicht gelungen«, sagte Silke. »Hier hätte er erst einmal nicht arbeiten dürfen.«

»Warum verbietet man Flüchtlingen zu arbeiten? Ich verstehe es nicht. Es ist doch besser, sie arbeiten, als dass der Staat sie versorgen muss.«

Benny mischte sich ein. »Sie könnten ja einem Deutschen den Arbeitsplatz wegnehmen. Vergiss nicht, bis vor kurzem gab es hier noch sehr viele Arbeitslose.«

Mansur schüttelte heftig den Kopf. »Wie kann man nur so einfältig sein?«, zischte er wütend.

Sie radelten die Oranienstraße hinunter, jene Straße, die wie kaum eine andere das multikulturelle Berlin widerspiegelte. Hier fand sich die typische chaotische Mischung, die Kreuzberg berühmt gemacht hatte: Künstler und Autonome, Türken und Araber, Inländer und Ausländer.

 

An der Mariannenstraße bogen sie ab. Wenige Meter weiter führte Silke sie in einen Hinterhof. Am Hauseingang trat ein Wachmann von einem Fuß auf den anderen. In dem Hinterhof stand eine kleine Turnhalle aus Backstein. Sie sprach kurz mit einem Mitarbeiter der Johanniter, der die Ankömmlinge schon misstrauisch beobachtet hatte. Dann führte er Silke und die drei Männer in die Turnhalle. Etwa ein Dutzend Frauen und Kinder verloren sich in der Halle, die auf den ersten Blick aussah, als bestünde sie nur aus grauen Doppelstockbetten. 40 waren es an der Zahl. Es war ein trostloser Anblick, der an Kasernen in amerikanischen Kriegsfilmen erinnerte – mitten im Frieden.

»Das ist auch so ein Problem. Wir müssen geschützte Räume für Frauen und Kinder schaffen. Durch die beengte Unterbringung, die Unsicherheit über den Ausgang des Verfahrens, das sich oft ewig hinzieht, und vor allem durch die Langeweile wächst in den Sammelunterkünften die Aggressivität. Zu spüren bekommen das dann oft die Kinder und die Frauen. Hier haben sie nichts zu befürchten. Sie haben – jetzt noch – mehr Platz, weil noch nicht einmal die Hälfte der Betten belegt ist. Aber ganz ehrlich. Schön ist auch was Anderes.«

Sie verließen die Turnhalle und fuhren die Reichenberger Straße hinunter. An der Ecke Ohlauer Straße bremste Silke wieder.

»Und das ist unsere berühmt-berüchtigte Gerhart-Hauptmann-Schule. Eigentlich sollten die Flüchtlinge nur den ersten Winter dort verbringen. Doch dann hat sich das Ganze verselbständigt. Und bald waren nicht nur Flüchtlinge in dem Haus, sondern auch Obdachlose, Punks, Autonome und, tja, auch Dealer. Es kam immer wieder zu Schlägereien, zu Übergriffen und allen möglichen Sexualstraftaten. Schließlich wurde auch ein Mann umgebracht. Am Ende wurde größtenteils geräumt. Drei Tage herrschte drei Blöcke um die Schule praktisch der Ausnahmezustand. Über tausend Polizisten waren hier im Einsatz.« Ihre Stimme war ganz monoton geworden. Doch plötzlich wurde sie wieder scharf und hatte einen fast verzweifelten Unterton. »Ist euch klar, wo die Leute herkommen, was sie erlebt haben, was sie auf ihrer Flucht an Not und Elend gesehen haben – und wir spielen hier mit ihnen Bürgerkrieg. Ist das zum Kotzen oder nicht?«

Mansur schwieg betroffen. Er sah Silke verunsichert an und wusste nicht genau, ob sie nun eine Reaktion erwartete. Als sie schließlich kam, war sie so unbeholfen wie falsch.

»Also, wenn ich etwas tun kann … ich habe viel Geld. Ich könnte dem Bezirk ein paar Millionen Euro überweisen, ohne dass mir das wehtäte.«

Zu seiner Überraschung winkte die Bürgermeisterin ab. »Bloß nicht. Der Senat würde sich das Geld schneller krallen, als du es überweisen kannst. Natürlich könntest du hier direkt humanitär irgendetwas tun, aber das löst doch die Probleme nicht. Kommt Jungs, ich zeig euch mal, wie manche unserer Refugees ihr Geld verdienen.«

Wieder schwang sie sich aufs Rad und trat wütend in die Pedale. Die drei kamen der durchtrainierten Politikerin kaum hinterher. Doch schon nach wenigen Hundert Metern verlangsamte sie ihren Tritt. Sie hatten die Wiener Straße erreicht, hinter der sich der Görlitzer Park erstreckte. An einem der Parkeingänge stiegen sie ab und schoben ihre Räder in den Park – durch ein Spalier von Schwarzafrikanern, die durch einige Zischlaute ganz unverfroren Rauschgift anboten. Plötzlich blieb Roland wie angewurzelt stehen und deutete auf den letzten Mann des Spaliers. Er hatte sich gerade abgewandt und erzählte laut und wild gestikulierend einem anderen irgendetwas und deutete dabei immer wieder auf ein dickes Pflaster auf der Stirn.

Mansur riss die Augen auf. »Wenn das nicht unser Freund Souliman ist!«, rief er verblüfft aus.

Benny hob die Augenbrauen und bedachte ihn mit einem vielsagenden Seitenblick.

Mansur tippte Silke an. »Und die verkaufen hier alle Drogen?«

»Jepp!«

Er reichte Roland den Lenker seines Rades. »Halt mal, ich muss da, glaube ich, etwas regeln.«

Zur sichtlichen Verblüffung von Silke ging Mansur auf einen der Dealer zu, der ihn zunächst nicht bemerkte, doch als Mansur ihn leicht an der Schulter berührte, fuhr er herum und zuckte im gleichen Moment zurück. Seine Augen rollten hin und her, als suche er einen Fluchtweg.

»Du bist doch Souliman? Eigentlich wollte ich dich im Krankenhaus besuchen«, sagte Mansur in einem sehr flüssigen Französisch.

Souliman stammelte irgendetwas Unverständliches.

Silke trat dazu, hob überrascht die Augenbrauen. »Du kennst ihn?«, fragte sie.

Mansur nickte und erzählte zum Entsetzen von Roland die Geschichte vom Vorabend. Er berichtete, wie sie eigentlich die Polizei rufen wollten, Souliman dann aber lieber direkt ins Krankenhaus gebracht hatten.

Silke quittierte die Erzählung mit einem leisen ironischen Lachen. »Schätze, dein Freund hat sich noch in der Nacht selber entlassen. Er hatte sicher viel zu viel Angst davor, dass ihn die Polizei hochnimmt und er abgeschoben wird.«

»Dann ist es aber nicht besonders klug, hier Drogen zu verkaufen.«

»Es ist die einzige Möglichkeit für ihn, an Geld zu kommen. Nicht alle, die hier rumstehen, sind Flüchtlinge, aber ganz, ganz viele. Und die, die keine sind, rekrutieren den Dealernachwuchs bei den Flüchtlingen.«

Mansur nickte leicht. Er überlegte einen Moment. »Mich würde seine Geschichte interessieren. Können wir hier irgendwo in ein Restaurant, einen Happen essen und dann erzählt uns Souliman alles?«

Silke zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Ich kenne einen netten Laden am Lausitzer Platz, keine fünf Minuten von hier.«

Mansur wandte sich an Souliman, der unbehaglich in die Runde schaute, die ihn umringte. Er fragte ihn auf Französisch: »Hättest du Lust auf ein Mittagessen? Aber nur, wenn du mir dann deine Geschichte erzählst.«

Diesmal fand Souliman die Sprache schnell wieder. »Oh ja, das wäre mir wirklich eine große Freude, Monsieur.«

»Sag Mansur zu mir.«

»Wer sind all die anderen?«, fragte Souliman misstrauisch und deutete auf Silke und Benny.

»Das sind Freunde von mir.«