Hotel Z

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Peter Rudolph

HOTEL Z.

Erzählung

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Peter Rudolph, Jahrgang 1964, lebt in Leipzig. Seine erste Erzählung „Champions-Tiebreak“ erschien 2012 im Engelsdorfer Verlag.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto © Peter Rudolph

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALTSVERZEICHNIS

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

16. KAPITEL

17. KAPITEL

18. KAPITEL

19. KAPITEL

20. KAPITEL

21. KAPITEL

22. KAPITEL

23. KAPITEL

24. KAPITEL

25. KAPITEL

26. KAPITEL

1. KAPITEL

„Die Gärten, die Gärten müssen Sie gesehen haben, meine Herren. Sie sind wirklich wunderschön“, sagte Maria. Eine kleine Unsicherheit hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Für einen kurzen Augenblick hatte Rüdiger sogar den Eindruck, als schwanke sie leicht. Dabei erschien sie ihm sonst als ein Wunder an Standfestigkeit.

„War das jetzt eine Anspielung auf irgendetwas, Gnädigste?“, fragte Jan und bleckte für einen kurzen Augenblick die Zähne wie ein Raubtier. Anschließend leckte er sich in Zeitlupe einen Krümel von der Oberlippe.

„Hör bitte auf, Jan“, zischte Rüdiger seinem Freund zu.

„Genau“, flötete Fipp. „Rüdiger hat recht. Verschone uns mit deinen Fantasien, Jan. Das war ein völlig ernst gemeinter Vorschlag. Wir sollten dankbar sein für jeden Tipp.“

„Ich gehe dann mal wieder“, sagte Maria und machte Anstalten, sich umzudrehen. „Oder möchte vielleicht doch noch jemand einen Kaffee? Was ich hier drin spüre, langt noch mindestens für zwei Tassen.“ Sie wackelte ein wenig mit dem Tablett herum, das sie in der Hand hielt. Es wirkte ungeschickt und fahrig.

Irgendetwas stimmt nicht mit ihr, dachte Rüdiger. Sonst wechselte sie kaum ein Wort mit ihnen und jetzt biederte sie sich fast an.

„Ja, sehr gerne“, sagte Fipp und strahlte. „Der Kaffee bei Ihnen ist wirklich ausgezeichnet.“

„Das freut mich“, sagte Maria und lächelte müde.

Sie war die schönste Frau Südtirols, ohne jeden Zweifel. Oder wenigstens die schönste Frau, die sie seit Langem getroffen hatten. Blond, honigblond, grünäugig. Das Dirndl, das sie trug, war ihr wie auf den Leib geschneidert. Dass sie eine Kindheit zwischen blühenden Apfelbäumen erlebt hatte, ahnte man. Und doch schien es so, als habe sie seit Wochen kein Tageslicht mehr gesehen. Rüdiger spürte den Impuls, ihr helfen zu wollen, aber was sollte er tun?

Formvollendet hielt Fipp ihr seine Kaffeetasse mit Untersetzer hin. Rüdiger registrierte, dass Marias Hand leicht zitterte, als sie den Kaffee eingoss.

„Weißt du was, Schätzchen, mach mir doch auch noch einen“, sagte Jan. Er hielt ihr die Tasse hin, winkelte dabei aber seinen Arm so an, dass sich Maria über den Tisch beugen musste, um einzugießen. Rüdiger spürte, dass sie zögerte. Jans Absicht war eindeutig. Er wollte, dass sie sich zu ihm hinunterbeugte.

„Du kannst sie doch nicht einfach duzen und ‚Schätzchen‘ nennen.“ Fipp grinste und wischte sich eine Locke aus dem Gesicht. So aufgekratzt wie heute Morgen hatte Rüdiger ihn schon lange nicht mehr erlebt.

„Quatsch, Jungs, sie versteht mich schon richtig“, erwiderte Jan. „Los, mach mir jetzt endlich einen Kaffee!“

Maria streckte ihren Arm aus und goss. Nur ein Teil des Kaffees landete in der Tasse. Der Rest färbte die Tischdecke schwarz. „Ich lasse das in Ordnung bringen“, sagte Maria, drehte sich um und verschwand.

„Die braucht Urlaub“, sagte Fipp.

„Echt“, antwortete Jan und hakte seine Daumen unter den Hosenträgern ein. Gefährlich wippte er auf seinem Stuhl hin und her. „Oder einen Kerl. Ich glaube, sie steht auf mich.“

Der Frühstücksraum, in dem Rüdiger mit seinen beiden Freunden Jan und Fipp saß, trug den Namen eines berühmten Berges, der nicht weit von hier steil aus dem Nichts emporwuchs. Bei gutem Wetter konnte man die Spitze mit dem Gipfelkreuz deutlich sehen. Der Raum selbst war nicht sehr groß, ein paar Vierertische, ein paar Zweiertische. Die Wände waren in sanftem Lindgrün gestrichen, das von schlichten Schwarz-Weiß-Fotografien unterbrochen wurde, auf denen Pflanzen – oder genauer gesagt Teile von Pflanzen – in Detailaufnahme zu sehen waren. Versehen waren die Fotografien mit rätselhaften, esoterisch anmutenden, handgeschriebenen Untertiteln. „Rinde eines Ölbaumes, älter als Elefantenhaut“ stand unter einem der Bilder, was auch immer dies bedeuten mochte. Ein echter Stilbruch in dieser Welt der Schlichtheit war der fast lebensgroße, in grellen Farben auf südamerikanische Art bemalte Jesus aus Holz, der an der Wand festgemacht war. Vom Kreuz aus schien er den Tisch mit den Teigwaren zu bewachen. Er brachte eine gewisse Schwere an diesen Ort, der zwar nicht vor Lebenslust strotzte, aber bei aller Nüchternheit etwas Freundliches ausstrahlte. Doch heute hatte ein Sonnenstrahl den morgendlichen Dunst durchbrochen und ließ das Gesicht des Gekreuzigten erstrahlen. Jesus schien zu sagen: „Jungs, ihr seid in Ordnung!“

Rüdiger, Fipp und Jan hatten einen Vierertisch direkt am Fenster ergattert. Die Stimmung im ganzen Raum war heiter-gedämpft, ein sanftes Gemurmel, unterlegt von kleinen Jazzmelodien. Etwa jeder zweite Tisch war besetzt. Es roch nach Kaffee und frisch gepresstem Traubensaft. Die Berge lagen noch im Nebel.

„Die Feigenmarmelade schmeckt himmlisch“, sagte Jan, verschränkte die langen Finger im Nacken und gab sich keine Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken. „Von der müssen wir unbedingt was mitnehmen. Am besten einen ganzen Laster voll.“

Wenn es die schöne Maria, ihre Hotelwirtin, nicht gegeben hätte, wären sie wahrscheinlich schon lange nicht mehr in Südtirol gewesen, sondern schon weiter im Süden, wo es vermeintlich sicherer war. Rüdiger wusste, dass sie auf der Flucht waren, auch wenn sie als Wanderreise und Herrenausflug getarnt war. Sie flohen vor der Polizei und vor ihren Gläubigern. Notgedrungen hatten sich die drei einen Anwalt nehmen müssen, der als Spezialist für Betrugsfälle galt. Dass sie sich selbst nicht als Betrüger sahen, interessierte niemanden. Wenigstens der Anwalt stand auf ihrer Seite. Er war offenbar wirklich ziemlich fähig, verschlang jedoch leider Unsummen. Es war zwar immer noch eine Menge an Geld auf den verschiedenen Konten vorhanden, aber die Zahlen schienen sich vor ihren Augen langsam, aber stetig in nichts aufzulösen. Ansonsten hätten sie sich auch niemals in so einem kleinen und vergleichsweise billigen Hotel einquartiert. Und unter gar keinen Umständen hätten sie sich zu dritt ein gemeinsames Zimmer genommen.

 

Doch der Morgen war einfach zu schön, um sich Sorgen zu machen. Es würde ein kristallklarer Tag mit gestochen scharfen Farben werden. Zum ersten Mal seit Langem fühlte Rüdiger wieder Tatendrang in sich. Er sprang auf und rannte fast in Richtung Saftpresse. Dort machte er sich einen wunderbaren Karotte-Apfel-Saft. Das Vibrieren der Maschine übertrug sanfte Schwingungen auf seinen Magen. Gierig trank er noch im Stehen ein paar Schlucke und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen. Was für ein wunderbares Frühstück! Mit wie viel Liebe angerichtet! Es gab selbst gebackenen Kuchen, Törtchen, Käse aller Art, mit Weintrauben und Feigen kunstvoll garniert, eine Platte mit hauchdünn geschnittenem Südtiroler Schinken und tausend andere Dinge, die einen Menschen glücklich machen konnten. Vielleicht war es ein guter Gedanke, heute ausnahmsweise mal keine Bergwanderung zu machen, zumal Rüdiger die Berge aus der Ferne weit schöner fand als aus der Nähe.

„Hey, Leute“, sagte Rüdiger und stellte sein Glas mutig mitten auf den Frühstückstisch. „Vielleicht wäre es ja eine Idee, heute, zur Feier des Tages, mal etwas Neues auszuprobieren. Habt ihr eine Ahnung, was genau die Gärten sind?“

„Keine Ahnung“, meinte Fipp. „Wahrscheinlich aber etwas mit echten Pflanzen, vermute ich mal.“

„Warum sollen wir denn in Gärten abhängen …“, kommentierte Jan.

„Wo wir doch auf Berge wollen!“, ergänzte Fipp.

Anschließend lachten beide, bis ihnen die Tränen kamen.

2. KAPITEL

Maria konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so unsympathische Gäste gehabt hatte wie diese drei Männer: Da war zum einen der pockennarbige Grobschlächtige, den seine Freunde Jan genannt hatten, der seine Finger nicht bei sich behalten konnte und dem sie weder nachts noch sonst wo alleine begegnen wollte. Dann der arrogante Schönling: Kapitän Schmalzlocke, dieser Adonis für Arme. Und zu guter Letzt der Kahlgeschorene mit dem kleinen Zopf am Hinterkopf, den seine Freunde Rüdiger nannten, das Kerlchen, das ihrem Blick nicht standhielt und das wie ein Dieb an den Wänden entlangschlich. Schon beim Einchecken vor einigen Tagen hätte sie die drei am liebsten unter einem Vorwand wieder fortgeschickt. Gerade eben, als dieser Jan sie „Schätzchen“ genannt hatte, hätte sie sie problemlos rausschmeißen können, das war eine Steilvorlage gewesen, aber sie hatte diesen Moment verpasst, leider. Was nur, was nur in aller Welt hatte sie sich dabei gedacht, diesem Horrortrio von den Gärten, dem schönsten Ort auf dieser Erde, zu erzählen?

Als sie am Tisch des Ehepaares aus Köln vorbeikam, machte die Frau, eine Mittfünfzigerin mit erdbeerblondem Haar, ihr ein Zeichen.

„Die behandeln Sie wie ein Stück Fleisch“, flüsterte sie Maria im Singsang des Rheinlandes zu und blickte dabei scharf in die Richtung, in der die Unsympathischen saßen. „Da kriegt man als Frau ne Jänsehaut. Soll isch mal mit den dreien reden, damitt sie Sie endlisch in Ruhe lassen?“

„Nicht nötig, Frau Mayer“, flüsterte Maria zurück, wobei sie sich tief zu ihr hinunterneigte und Mühe hatte, das Tablett nicht fallen zu lassen. „Das Problem löst sich von selbst. Übermorgen um zehn Uhr sind sie fort.“

Frau Mayer wischte sich imaginären Schweiß von der Stirn und atmete geräuschvoll aus. Maria lachte und zwinkerte ihr zu.

In der Küche angekommen, stellte sie das Tablett ab und ließ sich auf einen Schemel sinken. Sie war an einem Punkt jenseits der Müdigkeit angelangt. Die letzte Nacht war grauenvoll gewesen. Wahrscheinlich hatte sie geschlafen, aber mehr als zwei Stunden konnten es nicht gewesen sein. Sorge und Angst schnürten ihr die Kehle zu. Sie öffnete das kleine Fenster und sog die kühle Morgenluft ein, so gut es das viel zu enge Dirndl zuließ.

Maria wurde seit einigen Wochen erpresst. Die Erpresser waren zwei junge Männer, offenbar zwei Einheimische, die sich sicher zu fühlen schienen. Am Vortag hatten ihr die Erpresser auf dem Hotelparkplatz aufgelauert und angekündigt, heute wiederzukommen. „Du wirst schon sehen, wann und wo.“ Maria war sich sicher, dass sie ihr Versprechen halten würden. Bisher hatten sie immer damit gedroht, das Hotel niederzubrennen, wenn Maria nicht zahlte. Gestern hatten sie zum ersten Mal angedeutet, dass sie ihr selbst etwas antun wollten. Was genau, hatten sie nicht gesagt.

Maria hatte die Wirte der meisten Hotels der Umgebung gefragt, ob auch sie erpresst oder bedroht würden. Alle verneinten und zumindest am Telefon hatte es für Maria nicht so geklungen, als hätten sie aus Angst die Unwahrheit gesagt. Auch der Kommissar hatte ihr leicht vorwurfsvoll erklärt, dass es schon seit Jahren in weitem Umkreis keine Schutzgelderpressung mehr gegeben habe. Warum, warum gerade ich?, dachte sie.

Außer mit der Polizei hatte Maria mit ihrer Schwester, ihrer besten Freundin und mit Regine, ihrer rechten Hand im Hotel, über die Erpressung gesprochen und dabei sehr unterschiedliche Reaktionen erfahren. Aber der einzige Mensch, der ihr wirklich hätte helfen können, war schon seit Jahren tot. Alois, der Vorbesitzer des Hotels, war für sie der Vater gewesen, den sie nie gehabt hatte. Er hätte gewusst, was zu tun war. Nein, eigentlich stimmte das nicht. Er hätte nicht gewusst, was zu tun war, sondern er hätte Maria zugehört. Er hätte so lange zugehört und nachgefragt, bis sie selbst gewusst hätte, was zu tun war. So gut zuhören wie er konnte niemand sonst.

Um sich abzulenken und auch weil es nötig war, stürzte sich Maria auf das dreckige Geschirr. Tina, ein Mädchen mit Pagenschnitt und Stupsnase, das als Kellnerin und in der Küche arbeitete, half ihr. Wie so oft summte sie bei der Arbeit. Tina war ein echter Glücksfall. Sie war nicht nur schnell und effektiv, sondern auch von einer Heiterkeit, die ansteckend war.

Maria ließ einen Teller fallen, der auf den Fliesen zersplitterte. „Bringt Glück!“, sagte Tina, lachte und holte Kehrbesen und Schaufel.

Als sie mit dem Geschirr fertig waren, ging Maria wieder in den Frühstücksraum, um nach dem Rechten zu sehen. Nur noch wenige Tische waren besetzt. Am Tisch in der Ecke saß das alte Ehepaar aus Brighton, das zu ihren liebsten Stammkunden gehörte. Am Nachbartisch hatte eine Familie mit zwei kleinen Jungs Platz genommen. Die Kinder schoben sich ein Feuerwehrauto zu und vergaßen dabei offenbar die Welt um sich herum. Ihre Eltern saßen händchenhaltend auf der Bank nebeneinander und guckten einander an, als wären sie gerade zusammengekommen.

Am Tisch der drei Männer hockte nur noch Rüdiger Rattenschwanz. Er machte Maria mit der Hand ein Zeichen, dass sie an seinen Tisch kommen sollte.

„Sie wünschen?“ Maria hielt einen Sicherheitsabstand.

„Was sind die Gärten?“

„Schön sind sie, die Gärten. Es gibt Feigenbäume und Oleander. Kennen Sie vielleicht aus dem Baumarkt, Oleander meine ich. Und Goldfische gibt es auch.“

Rüdiger lag etwas auf der Zunge. Es arbeitete in ihm. Auf seine Wangen neben den Koteletten hatten sich rote Flecken gelegt.

„Und wo sind die Gärten?“ Er sprach so leise, dass Maria ihn kaum verstehen konnte.

„Immer links und dann der Hauptstraße folgen und den Schildern nach. Kann man eigentlich nicht verfehlen.“

„Vielen, vielen Dank“, sagte der Mann hastig. Die Röte hatte jetzt auch seine Stirn erreicht.

„Keine Ursache“, sagte Maria. „Immer wieder gern.“

3. KAPITEL

Maria stand auf der Terrasse, blies den Rauch in Richtung Apfelplantage und schaute in die Ferne. Wenn man ein Hotel führt, allein führt, hat man eigentlich nie Zeit, aber die Minuten für eine Zigarette nahm sie sich einfach. Es würde ein strahlender Tag werden. Die Sonne traf letzte Vorbereitungen unter dem Schönwetterdunst. Die Farben würden explodieren. Das Blau, das Grün, das Gelb. Dem Sommer ging langsam die Kraft aus, an den Nächten merkte man es, aber für die meisten Tage reichte es, um die Illusion von Sommer zu erhalten. Die Farben waren jetzt unvergleichlich, die Ernte in vollem Gange. Wie gerne hätte sie sich den Rucksack geschnappt und die Wanderschuhe geschnürt, hätte sich auf den Weg gemacht zu den Gondeln, wäre dreimal überholt worden vom Touristenbus. Aber am Ende hätte auch sie auf dem Berg gestanden. An der Bergstation waren noch viele Menschen, auf der Hütte einige, aber danach war man auch in der Hochsaison fast allein. Maria liebte das Alleinsein. Und sie liebte die Berge. Sie trat die Zigarette aus und ging durch die Kellertür zurück ins Hotel. Ihre Zeit würde kommen. In wenigen Wochen würde ihr Haus fast leer sein und der Berg ihr gehören.

Regine, die schon zu Alois’ Zeiten im Hotel gearbeitet hatte und zum Inventar gehörte, kam ihr im Laufschritt entgegen, kurz bevor sie die rettende Rezeption erreichen konnte, wo schon jemand ungeduldig wartete. Wie Maria diese Beflissenheit hasste! Am liebsten wäre sie auf einen Schlag unsichtbar geworden, aber auch dann hätte Regine wahrscheinlich nicht aufgehört, nach ihr zu suchen. Wie so oft in letzter Zeit hatte Regine ihr Haar zu einem strengen Knoten zusammengebunden, der wie ein kleiner grauer Ball an ihrem Hinterkopf festgeklebt schien. Geschäftsschädigend war nicht nur ihre Frisur, sondern auch ihre Bluse aus einem verwaschenen Weinrot.

„Maria, die Wäscherei will auch gegen Vorkasse nicht mehr“, näselte Regine hervor und fasste Maria zur Bekräftigung ihrer Worte am Arm.

„Warum denn das nicht?“ Maria fühlte, dass sie anfing zu schwitzen. Von null auf hundert. Ruhe gönnte ihr niemand, schon gar nicht Regine.

„Keine Begründung. Einfach so“, antwortete Regine, auf deren Oberlippe sich aus einer Art Solidarität heraus ein kleiner Tautropfen aus Schweiß gelegt hatte.

„Diese Schweine!“, sagte Maria und versuchte, dabei ins Nichts zu blicken.

Regine nickte zurück und kam ihr dabei noch ein kleines Stück näher. „Echte Schweine. Und die Brauerei will vorbeikommen.“

„Was wollen die? Bier zum Frühstück?“

„Es geht um die Minibars und den Flaschenverkauf. Sie haben ein neues Konzept. Aber eigentlich geht es ihnen wohl um die Säfte. Da wollen sie ran, auch wenn sie es nicht direkt gesagt haben. Und sie wollen unbedingt dich sprechen, Maria.“

„Hast du ihnen denn nicht gesagt, dass wir bei den Säften für die nächsten drei Jahre gebunden sind?“

„Habe ich, aber sie wollen dich trotzdem sprechen.“

Maria schüttelte den Kopf und machte eine Geste, die sagen sollte: Wir halten trotzdem durch.

An der Rezeption stand eine junge Frau in rotem Mantel.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte Maria und lächelte.

„Drei Männer“, sagte die Frau auf Italienisch mit heftigem Akzent.

„Wir können auf Deutsch reden. Das ist vielleicht leichter.“ Maria lächelte immer noch.

Die Frau ließ sich nicht beirren. „Tre uomini, hanno urinato nel piscina nel jardino.“

„Drei Männer haben ins Schwimmbad uriniert?“

„Si!“, sagte die Frau. „Also nicht ins Schwimmbad. Ans Schwimmbad.“

„Ans Schwimmbad? Sind Sie sicher?“

„Sie haben in den Garten gepinkelt. Ist das so schwer zu verstehen? Und meine Tochter musste vom Balkon aus alles mit ansehen. Sie ist völlig verstört. Wir möchten hier nicht bleiben. Das werden Sie doch verstehen, oder?“

Jan hatte das Handtuch um die Hüfte gewickelt. Er spielte an den Reglern des Whirlpools, der im hinteren Teil des Gartens im Schatten unter einem Dach aus Hartplastik lag.

„Es gab eine Beschwerde“, sagte Maria so sachlich wie möglich und starrte auf seinen breiten Rücken.

„Echt?“, sagte Jan. Langsam drehte er sich um. Er grinste. „Das ist ja schrecklich.“

„Ja, das finde ich auch“, sagte Maria. „Haben Sie hier im Garten vor den Balkonen uriniert?“

„Ich habe ‚uriniert‘ verstanden, Gnädigste. Aber was haben Sie wirklich gesagt?“

„Wer war noch dabei, außer Ihnen, meine ich?“

„He, hören Sie. Was soll denn das? Ich habe gar nichts gemacht, außer mir die Blase zu verkühlen in Ihrem arktischen Pool. Bis aufs Klo hätte ich es trotzdem noch geschafft, verstanden?!“

Maria stapfte weiter, auf das Rattenschwänzchen zu. Jetzt, wo er nur eine Badehose anhatte, sah man, dass er ein rechtes Bäuchlein vor sich hertrug. Er saß zusammengekauert auf einem Stuhl an der Längsseite des Pools. Für einen kurzen Augenblick überkam Maria Mitleid mit ihm, weil er so traurig und gedankenverloren aufs Wasser schaute.

„Haben Sie hier in den Gärten uriniert?“, fragte sie halblaut und nicht so streng.

 

Schreckhaft hob Rüdiger den Kopf: „Ich …“ Weiter kam er nicht. Dass er tief errötete, war Maria Antwort genug.

Der blonde Schönling hatte es sich auf einer Liege auf der Längsseite des Pools bequem gemacht, die im prallen Sonnenlicht lag. Noch bevor sie ihn erreicht hatte, stand er auf und nahm seine Sonnenbrille ab. An den Spitzen seiner dichten Wimpern funkelten Wassertropfen. Ozeanblaue Augen fixierten sie mit Neugier. Der Schöne trug kanariengelbe Swimshorts, auf denen ein kleiner Vogel mit weit aufgerissenem Schnabel als Logo angebracht war. Maria zwang sich, nicht in Richtung Badehose zu schauen. Wasser glänzte auf seiner bronzefarbenen Haut. Offenbar war er gerade aus dem Pool gestiegen. Er lächelte, so eine Unverschämtheit, dachte Maria, wenn er wenigstens den Anstand gehabt hätte zu grinsen. Aber da war ein echtes Lächeln und da waren Zähne aus Elfenbein, nur viel weißer.

„Philipp van der Meeren“, sagte er. „Freunde nennen mich Fipp. Wir haben uns ja eben am Frühstückstisch schon so nett unterhalten.“ Seine Hand umschloss die ihre ganz, der Händedruck war fest, aber nicht zu fest. Genau im richtigen Moment ließ er ihre Hand los, nachdem zuvor seine eigene Hand die Botschaft in Marias Körper injiziert hatte: Sieh her, wie warm ich bin, sieh her, wie trocken ich bin. Bist du je von einer schöneren Hand berührt worden? Maria fühlte, wie ihr Mund offen stand, sie wollte etwas sagen, aber es ging nicht. Die Worte: Urin, abbiamo urinato, Unverschämtheit wirbelten durch ihren Kopf, kamen aber nicht in die richtige Reihenfolge.

„Wie schön, dass wir uns getroffen haben“, sagte der Mann und trat einen kleinen Schritt zurück.

Alles einstudiert, schoss es Maria durch den Kopf, aber es war ein Gedanke, der nicht ihr selbst gehörte, der sich verflüchtigte, bevor er geboren werden konnte.

„Haben Sie hier im Garten uriniert?“, sagte sie mit der piepsigen Stimme einer Fremden.

„Nein“, sagte der Mann. „Ganz bestimmt nicht.“

„Aber es gab eine Beschwerde“, sagte Maria. „Drei Männer sollen hier im Garten … Sie wissen schon. Das waren doch Sie, oder etwa nicht?“

„Wir sind zwar keine Kinder von Traurigkeit, aber auch nicht völlig ohne Stil.“

Plötzlich wusste Maria nicht mehr, was sie sagen sollte. „Wenn ich mich geirrt haben sollte, tut es mir leid“, nuschelte sie. „Dann entschuldige ich mich ausdrücklich.“

„Schon in Ordnung“, sagte der Schöne. Er lächelte wieder. „Ich möchte Ihnen allerdings sagen, dass hier im Garten zwei andere Männer waren, also Fremde.“

„Zwei Männer?!“

„Ja, zwei Männer.“ Während er sprach hob und senkte sich ein gewaltiger Kehlkopf.

„Wollen Sie mich veralbern? Sie meinen doch nicht Ihre beiden Freunde, oder?“

„Ich würde niemals eine schöne Frau veralbern.“

„Ach, hören Sie doch auf damit!“

„Nein, nicht Rüdiger und Jan. Ich schwöre.“ Feierlich hob er die Hand.

„Wie sahen sie aus?“, fragte Maria. Unter ihr tat sich ein Abgrund auf.

Fipp schwieg einen Moment. Er schien intensiv nachzudenken. „Weiß ich nicht genau“, sagte er dann langsam mit seiner tiefen und klaren Stimme. „Recht jung, Ende zwanzig vielleicht. Und der eine trug, soweit ich es gesehen habe, einen Anzug. Zuerst habe ich gedacht, es seien Makler, die sich für das Hotel interessieren. Aber dann habe ich gesehen, dass der andere Turnschuhe anhatte und überhaupt sehr leger gekleidet war, und das passte nicht zusammen. Sie sind hier um den Pool rumgeschlichen.“ Der Schöne machte eine kreisende Geste mit der Hand.

„Und dann?“

„Und dann haben sie Fotos vom Haus gemacht. Sie haben genau dort gestanden, wo Sie jetzt stehen.“ Er zeigte auf den Boden vor Marias Füßen. „Als ich sie ansprechen wollte, was sie hier zu suchen haben, waren sie auch schon verschwunden.“