Buch lesen: «Schüchterne Gestalten»
Sonnabend, 13. November 2010, am ganz frühen Morgen
Sonnabend, 13. November 2010, in den späten Abendstunden
Sonntag, 14. November 2010, noch früh am Morgen
Montag, 15. November 2010, ein Novembertag
Dienstag, 16. November 2010, noch tief in der Nacht
Dienstag, 16. November 2010, sehr spät abends
Mittwoch, 17. November 2010, ein besonders grauer Tag
Mittwoch, 17. November 2010, am Abend
Donnerstag, 18. November 2010, zu früh
Freitag, 19. November 2010, Geburtstag
Freitag, 19. November 2010, spät am Abend
Sonnabend, 20. November 2010, auf der W36
Sonnabend, 20. November 2010, in der Nacht
Sonntag, 21. November 2010
Impressum neobooks
Schüchterne Gestalten – ein IT-Krimi
Wie lange war er eigentlich schon unterwegs?
Schwer zu sagen. Nein, eigentlich wusste er es schon sehr genau. Sie sind gegen Mittag weggefahren, weil er bis zum Einbruch der Dunkelheit wieder in Deutschland sein wollte. Die Paranoia befiel ihn immer, seit er und seine Familie einmal auf einer Raststätte in Polen überfallen wurden. Mitten in der Nacht. Nichts war mehr übriggeblieben. Der Stress danach war ihm noch in allerbester Erinnerung; mit Versicherungen und Behörden musste er sich monatelang herumschlagen.
Heute war die Fahrt ziemlich dumm gelaufen. In der Nähe von Krakau verloren sie infolge eines Unfalls viel zu viele Stunden. Aber anhalten kam nicht in Frage, auch wenn sie neben ihn einfach nur nervte.
Sie saß auf dem Beifahrersitz, wollte schon vor Stunden aufs Klo und schluckte es mindestens seit Krakau runter. Frauen schienen nicht so richtig auf Ausdauer programmiert zu sein. Immer muss man für sie anhalten. Wollte er aber nicht. Nicht hier und nicht jetzt! Nach kurzem Streit setzte er sich durch und sie arrangierte sich notgedrungen. Seitdem herrschte zwischen ihnen eisiges Schweigen. Zum Glück hatte er auf seinem Smartphone genug Musik gespeichert, die jetzt für ihn die Spannungen im Wageninneren erträglich machte.
Denn er musste nachdenken, und kam ihm seine ruhige Beifahrerin gerade recht.
Die Gespräche in Lemberg waren sehr gut gelaufen. Fast zu glatt, wie er meinte. In der nächsten Woche sollten die Chefs aus der Ukraine nach Vesberg kommen und die Verträge unterschreiben. So war es abgemacht. Sie sollte oder wollte schon jetzt mitkommen. So genau konnte er es nicht einordnen, was genau ihr Auftrag in Vesberg war.
Jedenfalls hatte er jetzt ein Problem; ein etwas Größeres sogar. Er war schon einige Male in Lemberg und jedes Mal ging es dort heftig, meist recht feucht, zur Sache. Das was er sonst tagsüber an Wasser trank, ging dort üblicherweise als Wodka durch die Kehle. Auch durch seine. Gezwungener weise konnte dem Gelage nie ausweichen.
Als er eines Morgens mit heftigen Kopfschmerzen in seinem Hotelzimmer aufwachte, lag sie neben ihm. Er schleppte sich ins Bad und dachte über die letzten Stunden nach. Ein Grinsen überkam ihm, als er sich nach und nach an die Nacht erinnerte. Oh Mann, sie war richtig gut. Das Grinsen wurde größer, als ihm einfiel, dass er noch öfter nach Lemberg musste und er viel Spaß mit ihr haben kann.
Nun saß sie als Problem neben ihm. Sie hatten es mit dem Paten so verabredet, dass sie mit nach Vesberg kommt und sich dort ein Bild von seiner Firma machen durfte. Pate, so hatte er seinen Vater heimlich getauft, weil der nichts anderes war: ein Pate.
In Lemberg regierte wie überall auch die Vorsicht. Dort noch mehr als in Vesberg. Bevor Verträge gemacht und begossen wurden, wollten die Bosse ziemlich genau wissen, ob seine Firma seriös war, wie sie arbeitete und überhaupt wer sie eigentlich waren. Ihm fiel nichts dagegen ein und so musste er widerwillig zustimmen; sie mit nach Vesberg zu nehmen und sich um sie zu kümmern. Was die Bosse wohl nicht wussten – er und sie verbrachten inzwischen einige Nächte zusammen.
Quatsch, die Bosse wussten es ganz sicher. Dessen war er sich sicher.
Und nun stand er vor einem Problem – wie soll er sie vor seiner Frau und seiner Familie geheim halten? So groß war Vesberg nicht, Deutsch konnte sie kaum und dass er sich um sie kümmerte, davon gingen ihre Chefs, seine künftigen Geschäftspartner einfach aus. Alles andere wäre tödlich für das Geschäft; für beide Seiten.
Seine Frau… Ach nein, um die ging es ihm nicht. Sie war früher sehr hübsch; jetzt aber eher fad. Die Wiedervereinigungsphase verstand Sie als ehemalige Mitläuferin nie so richtig, geschweige denn machte aktiv als Widerstandskämpferin mit. Jetzt lebte sie in der Vergangenheit weiter. Sein Sohn war ihm viel wichtiger und wenn bekannt wurde, dass er mit der Schönen, die jetzt verkniffen auf der Beifahrerseite saß und missmutig nach draußen in die Nacht schaute, schon sehr vertraut war, flog er zu Hause ganz sicher raus.
Geschäft hier, Familie da und etwas Freude nebenbei. Warum muss das Leben immer so verdammt kompliziert sein? Wenn er mit ihr und seinem Sohn zusammen neu anfangen würde, dann … ach nein, seine spießige Frau, diese verkappte Genossin war so verkrampft, sie würde extra für ihn ein neues Bautzen aufmachen und ihn dort alleine verhungern lassen.
Für ihn gab es nur einen Ausweg aus dieser Misere: Er musste mit seinem Vater reden. Noch verstanden sich beide recht gut, aber er wurde immer älter und unübersehbar schrulliger. Von Lemberg aus versuchte er das Schlimmste zu verhindern und ihn dazu zu bewegen, dass sie in Lemberg blieb. Aber was hatte sein Vater im Sinn? Natürlich, nur das Geschäft. Und ein Zucken ein paar Körperregionen weiter unten wohl auch. Nein, er freue sich, wenn sie mitkommt und er ihr Vesberg zeigen kann. Wohl nicht nur Vesberg. Immerhin blieb ihm nicht verborgen, dass sein Vater kein Kostverächter war und sich schon immer das genommen hatte, was ihm gefiel.
Unterwegs, irgendwo im Nirgendwo, hatte sein Vater einige Male versucht, ihn anzurufen. Als dann wegen der schlechten Verbindungen das Gespräch doch noch zustande kam, wollte er nur wissen, ob seine Verhandlungen in Lemberg gut waren, ob alles klappt und das Geschäft in der nächsten Woche unter Dach und Fach gebracht werden könne. Wie es ihm ging, nach einer Woche Komasaufen in der Ukraine, war seinem Vater völlig egal.
Warum er seinen Vater Pate nannte, wusste er nicht mehr ganz genau. Er buchte es einfach als unverarbeitetes Kindheitstrauma ab. Sein Alter war nie leicht, sehr auf sich fixiert und in den letzten Jahren nur noch die Firma im Kopf. Spätestens als er auf Druck seines Vaters, Enterben und ähnlicher Unsinn begleiteten heftige Streitereien, in die Firma eintrat und sich als Außenminister, wie er sich sah, profilierte, wurde ihm klar: sein Vater hätte durchaus auch in Italien seinen Weg gemacht: Sein Reich, seine Familie und manchmal etwas skrupellos, wenn es dann der Sache diente, seine Firma. Wobei skrupellos immer relativ zu sein schien, denn sein Geschäftspartner dürfte seinem Vater in dieser Hinsicht um Längen voraus sein.
Aber jetzt, wo sie neben ihm saß, brauchte er ihn, seinen Vater trotzdem. Vielleicht hatte er ja auch das Zeug zu einem Paten. Probieren kann man das ja mal. Also, wenn sein Vater sich in den nächsten Tagen mit ihr beschäftigen würde und sie ihm bereitwillig die Zimmertür im Hotel öffnen…
Scheiße, nein!
Nicht Sie und Er!
Er mag Sie schon.
Aber warum denn nicht? Sein Vater würde ihm damit ein Problem abnehmen; ein nicht Unerhebliches sogar. Aber so richtig wollte er das auch nicht. Sie und Er. Vielleicht könnte er nach Lemberg gehen und dort…
Was für blöde Gedanken? Diese öde Fahrerei, monotone Geräusche, Musik, die er schon tausendmal gehört hatte, dunkle Nächte auf der Autobahn. Verdammt, ich will das hier alles nicht!
Sie schmollte, weil sie… Okay, wir sind gleich in Deutschland. Ein paar Kilometer hinter der Grenze gab es eine Raststätte; ein Kaffee würde ihn nicht nur wach machen, sondern hoffentlich auf andere Gedanken bringen.
Jetzt, Stunden nach seiner Ansage, war sie wieder ganz lieb, schmiegte sich etwas an ihn. Vielleicht noch eine halbe Stunde, dann würde es ernst werden. Er wohnte einige Kilometer außerhalb von Vesberg, schöne Randlage. Zuerst würde er sie im Hotel in der Nähe der Firma unterbringen. Dort werden immer alle Geschäftspartner einquartiert. Dann wollte er nur noch nach Hause. Vielleicht schaute er noch kurz bei seinem Vater vorbei. Der wohnte zwei Straßen weiter oben. Wenn noch Licht in seinem Arbeitszimmer war, machte er es ganz bestimmt. Die Entscheidung war schnell getroffen. Kann sein, dass der Pate ihn jetzt mal verstehen und mit einer Idee aushelfen kann.
Hatte er etwa Angst vor zu Hause, vor seiner Frau?
Ja schon, denn wer hatte schon seine Familie und sein Schmusi gerne in direkter Nähe? Wer wollte schon freiwillig Streit mit einer Frau, die man tief im Inneren hasste? Er machte da keine Ausnahme. Er brauchte das ganz bestimmt nicht. Hätte er bloß nichts mit ihr in Lemberg angefangen…
Die nächste Abfahrt, dann noch etwas Landstraße, Vesberg konnte man schon riechen. Hier war es etwas hügelig. Viel Wald. Eigentlich ganz schön. Er nahm gerne sein Mountainbike und powerte sich bis zur Erschöpfung in der Gegend aus. Das brauchte er; diese Freiheit nahm er sich. Er hatte nicht vor, mitten im Leben stehend schlapp zu machen und den Rest seines Lebens nach dem ‚Tote-Augen-Prinzip‘ zu leben. Seine Arbeit und vor allem sein Pate, er musste wieder grinsen, verlangten viel von ihm. Schon deshalb bestand sein Körper auf regelmäßigen körperlichen Ausgleich.
Im Wald machte er zusätzlich das Nebellicht an, denn hier gab es immer wieder Wildunfälle. Und er hatte kein Bock darauf, so kurz vor dem Ziel einem Hirsch das Geweih abzufahren. Mit dem Fernlicht reichte es, bis zur nächsten Kurve. Dann musste er immer wieder abbremsen, man kann ja nie wissen. Scheiß Fahrerei. Scheiß Monotonie.
So langsam wirkte der Kaffee auch nicht mehr, mit etwas Frischluft versuchte er, die letzten Minuten munter zu bleiben. Sie fand das überhaupt nicht gut und fing schon wieder Zoff an.
Nach einer Kurve beschleunigte er, denn er wusste, dass nun ein längeres gerades Stück kam.
Mist, was war das?
Er riss die Augen entsetzt auf und versuchte mit voller Kraft zu bremsen. Sie schrie wie verrückt und zog plötzlich an der Handbremse. Blöde Kuh, dachte er noch, als sie sich exakt einmal um die eigene Achse drehten, er das Auto wieder auf den Asphalt und in die richtige Richtung brachte und sie mit voller Wucht gegen etwas auf der Straße prallten.
Sein Airbag kam ihm vor wie ein Ruhekissen.
Nach der langen Fahrt eine wohltuende und angenehme Art, sich schlafenzulegen. Dachte er noch, als er kurz vor dem Einschlafen war.
Im Halbdunkel seiner Wahrnehmung nahm er noch auf, dass irgendwer die Autotüren aufriss und an den Gurten zerrte.
Was ging hier vor?
Nein, dieser Frage konnte er jetzt nicht mehr widmen. Können wir das nicht morgen besprechen?
Jetzt schön schlafen nach der langen Fahrt. Beschützt von einem Airbag.
Wer war das?
Warum riss jemand die Türen auf?
Was wollte er von ihm?
An ein anderes Auto konnte er sich nicht erinnern. Hinter ihm war kein Licht gewesen. Entgegen kam auch keines; sonst hätte er das Fernlicht doch abgeblendet. Musste er aber nicht.
Das klären wir morgen, wenn ich ausgeschlafen habe.
Falls!
Und sie schläft sicher auch schon. Das klären wir alles morgen.
Mit dem Paten.
Und mit ihr…
Wenn ich ausgeschlafen habe…
Jetzt verlor er endgültig die Kontrolle, sein Bewusstsein. Die dunkle Nacht erschien ihm jetzt ganz nah.
Der Airbag machte es wohltuend sanft und warm.
Die Nacht, der Wald – alles war so greifbar.
Und er war mittendrin.
Sonnabend, 13. November 2010, am ganz frühen Morgen
„Wer ist sie?“ Remsen schrie förmlich in sein Telefon. Wer Jan Remsen mitten in der Nacht weckt, sollte wissen, dass die Begegnung mit einem ausgehungerten Bären deutlich mehr Chancen auf ein Überleben bietet. Der raue Umgangston war Remsen egal. Sollte irgendjemand damit ein Problem haben, konnte der ja gerne den Job wechseln und Rollatoren verkaufen; die gehen hier weg wie geschnitten Brot – erzählte man sich in der Gegend.
Keine Antwort war auch eine Aussage, fiel ihm dazu ein, als nichts mehr zurückkam. Sein Gegenüber legte einfach auf. Wieder einer von der Blaumanntruppe; die wie immer keine Lust auf Nachtdienst mit Außeneinsatz, schon gar nicht an einem Wochenende Mitte November hatten.
Dich werde ich mir nachher gleich persönlich vornehmen, dachte Remsen sich noch, als sein Telefon wieder klingelte.
„Ja“, die Freundlichkeit war so einladend, dass erst einmal eine längere Pause entstand.
„Remsen?“, war die knappe Gegenfrage.
„Wer sonst?“, war die erneute Gegenfrage.
Das lustige Spiel hätte sich noch ewig fortgesetzt, wenn Nöthe nicht kühlen Kopf bewahrt und das Gespräch auf den Unfall gelenkt hätte.
Nöthe und Remsen oder besser Remsen und Nöthe waren aufeinander angewiesen, denn sie mussten zusammenarbeiten. Zwangsweise. Auf seine Gefühle nahm in Vesberg scheinbar niemand Rücksicht. Denn Remsen sah in Benjamin Nöthe, einem Assistenten der Mordkommission, einen äußerst limitierten Anwärter für einen Job, den der nie verstehen, geschweige denn gut machen wird. Die nehmen auch alles, was sich nicht wehrt oder wegrennt. Was soll’s, er musste mit ihm auskommen.
Ein ‚leider‘ schwang noch mit in seinen Gedanken, als Nöthe ansetzte: „Es muss wohl einen Wildunfall gegeben haben, denn der tote Hirsch lag mitten auf einer Straße, gleich hinter einer Kurve. War nur eine Frage der Zeit, bis jemand auf diesen Kaventsmann auffuhr und abhebt.“
Nöthe war froh, dass er halbwegs was brauchbares Remsen weitergeben konnte.
Remsen sah das komplett anders: „Nöthe, Sie wissen doch überhaupt nicht, was Kaventsmänner sind. Haben Sie schon mal einen gesehen oder so was erlebt?“
Ganz langsam kam er in Fahrt. Wach war zwar etwas anderes, aber dafür war Remsen in Nähe seiner Betriebstemperatur: „Nöthe, Kaventsmänner sind Riesenwellen und haben nichts mit Hirschen zu tun. Die sind nicht nur groß, sondern richtig überdimensional. Ich erklär Ihnen das mal.“
Bevor Nöthe dem etwas entgegnen konnte, entlud sich über Ihn eine ganze Ladung Remsenschen Wissens über Kaventsmänner, die schon mal als Monsterwelle daherkamen und Leute vom Strand gezogen hatten. Oder einfach etwas Übergroßes sind. Oder so. Ein Hirsch, nein. Eher nicht. Remsen rede sich in Rage, „…verstehen Sie Nöthe?“
„Ja, aber der Hirsch war wirklich riesengroß und es musste zu einem schweren Unfall kommen, so wie der auf der Straße lag. Schauen Sie sich das doch selbst an, was davon noch übriggeblieben ist.“
Nöthe versuchte hilflos, seinen sprachlichen Ausflug in die Umgangssprache zu rechtfertigen.
„Raten Sie, mal was ich gerade hier mache, Nöthe? Die Blaumänner chauffieren mich schnurstracks zum Festschmaus. Und seien Sie sicher: Wenn es nur ein Wildunfall war und ich deswegen mitten in der Nacht raus musste, heißen Sie ab morgen Benjamina. Finden Sie irgendwas, was nach Arbeit für mich aussieht.“
Er legte einfach auf.
Kurz und knapp, wie immer, brachte Remsen sein Team zur Verzweiflung. Wer war sie? Eine Unfalltote war gemeldet, aber wer war sie?
Wieder griff er nach seinem Telefon. „Nöthe, wer ist die Tote? Schon einen Namen, einen Hinweis?“.
Nöthe war auch nur ein Mensch, der inzwischen ziemlich genervt war: „Wenn ich es wüsste, wüssten Sie es schon längst.“
Jetzt war es an Nöthe, das Telefonat zu beenden. Remsen empfand es als eigenmächtigen Abbruch, eigentlich seine Kompetenz und nahm sich vor, es nicht zu vergessen.
Armer Nöthe.
Drei, vier Stunden Schlaf in der letzten Nacht. Oder doch nur zwei? Keine Ahnung. Er hing gedanklich im Nirwana zwischen dem, was da auf ihm zukam und dem Nebel in seinem Kopf. Draußen wie drinnen, alles etwas unscharf.
Sind wir hier bei den Wildhütern? Umweltschützern oder so?
Mit den Leuten in Vesberg kam Remsen noch immer nicht klar. Schon gar nicht nach einem Abend im Refill. Wie an jedem Freitagabend war er auch gestern dort und hatte sich das eine oder andere Bier genehmigt. Der Laden entwickelte sich als so etwas wie sein Stammlokal. Als er hierher zog, kam trotz einiger Suche nichts so richtig für ihn in Frage. Er vermisste die heimatliche Kneipenkultur. Bei ihm in Hamburg konnte er egal wo reingehen; es war meistens angenehm: Gesprächspartner, die ihm zuhörten, viel Bier, Korn und jede Menge Spaß drum herum.
Das Refill wurde dann in der Nähe seiner Wohnung eröffnet, ein unschlagbarer Vorteil. Schon im Namen war das Geschäftsmodell erkennbar: einmal zahlen und trinken bis zum Anschlag. Viele Trinker trotteten gemeinschaftlich in das Refill und belagerten die Tresen, wovon es mehrere gab. Normalos wie er wurden schon kurz nach der Eröffnung immer weniger dort angetroffen und der Betreiber vom Refill ging recht schnell pleite.
Jetzt mit angeschlossenem Lokal und verändertem Konzept ist es zu einer neuen Pilgerstätte geworden, eher zu einer Szenekneipe. Der Name blieb. Remsen war gerne dort, aß meistens etwas und bleibt solange sitzen, bis das Personal mehr oder weniger freundlich die letzten Gäste zum Gehen auffordert.
So auch gestern. Er hatte sich auf ein entspanntes Wochenende eingestellt und im Refill darauf eingestimmt. Nach einer Kur an der See – seine Lunge und seine Bronchitis waren sein Dauerproblem- zumindest eines von vielen, und mehreren stressigen Fällen gleich zu Beginn seiner Zeit in Vesberg, schien nun etwas Ruhe einzukehren. Remsen wollte die nächste Zeit mehr dazu nutzen, um Vesberg und die Leute besser kennenzulernen. Bisher hatte er das eher vermieden; es war wohl beidseitig mit den Vorbehalten.
Vesberg ist eigentlich nicht so schlimm, wie man denkt. Klar, gegenüber Hamburg ist es ein Kaff. Obwohl, knapp eine halbe Million Menschen wohnten in der Stadt und im Speckgürtel. Muss mal fragen, fiel ihm dazu ein. Remsen war sonst nicht so voreingenommen, aber provinziell war das die Gegend hier schon.
Schon zu DDR-Zeiten war Vesberg so etwas wie eine kleine Oase. Nicht ganz so heruntergekommen, wie Remsen nach der immer noch präsenten Wende viele Städte im Osten Deutschlands gesehen hatte, gab es hier viele gut erhaltene Häuser; ganze Stadtviertel machten einen ganz angenehmen Eindruck. Vesberg ist schon seit zwei Jahrhunderten eine Universitätsstadt, was dem Ort etwas Elitäres und Junges zugleich gab. Wenig Industriebrachen waren zu sehen. Dafür sorgten Unternehmen aus der Elektronik und Informatik für genug Arbeitsplätze und verschandelten die Stadt nicht so arg.
Remsen ist zwar kein aktiver Freizeitsportler, wie scheinbar jeder hier, aber er ist gerne draußen im Umland, wenn es sein Beruf zulässt. Leider ist das nicht allzu oft, aber man kann ja nicht alles haben.
Die Büros auf der W36 sahen aus wie verkappte Wohnzimmer, nur viel schlimmer. Blümchen, Bilder von Oma, Kindern, Hund und Garten auf den Schreibtischen und allerlei Firlefanz an den Wänden. Fehlen nur noch die bunte Tapete und Nierentische in den Vernehmungsräumen. Die Hausmannskost in der Kantine lehnte er kategorisch ab. Remsen und seine Befindlichkeiten. Es könnten auch Vorurteile sein; er muss es noch ergründen. Demnächst mal, wenn es die Zeit hergibt. Leicht sich anzupassen, ist es für Leute wie ihn nicht.
Und zu allem Überfluss saß er jetzt in einem Blauwagen und wurde zu einem toten Hirsch chauffiert. Mit einer Unfalltoten. Aber er ist Leiter der Mordkommission und nicht bei der Unfallaufnahme. Warum wurde er aus dem Bett geholt? Hoffentlich war es ein Mord. Nicht weil er Tote und damit viel Arbeit gerne hatte, sondern für den, der ihn in der Nacht geweckt hatte, könnte dieser Sachverhalt zu einem unschätzbaren Vorteil werden.
„Ist der schwarz?“
An der Absperrung fand sich gleich der erste Beamte ohne Kaffeebecher wieder, nachdem er Remsens Frage bejaht hatte. So ist es, Remsen war der Chef am Tatort und entsprechend verhielt er sich.
Nöthe kam direkt auf ihn zu: „Der Wagen ist auf eine Firma namens CodeWriter GmbH zugelassen. VES CW 500, kein direkter Fahrer.“
„Sagt mir nichts.“, entgegnete Remsen. „Was machen die?“
Nöthe zuckte mit den Schultern, obwohl er diese Frage beantworten konnte. „Entwickeln Software für Sicherheitsfirmen und übernehmen Auftragsarbeiten für die Universität und andere wissenschaftliche Einrichtungen.“
„Steht auf deren Homepage. Die Firma ist schon gut fünfzehn Jahre aktiv.“
Jutta Kundoban grinste Nöthe an. „Was so ein kleines Smartphone nicht alles kann.“ Nöthe bekam richtig große Augen.
Das Stichwort für Remsen: „Na Nöthe, das mit dem Internet ist ganz einfach. Das können Sie noch gar nicht wissen; ich erklär Ihnen das mal.“ Arrogant und verblüffend entwaffnend, wie alle fanden.
Gottlob, dazu kam es nicht, denn der Chef der Spurensicherung Reiken wartete schon auf Remsen. Beide hatten schon oft und unangemeldet das Vergnügen; sie kannten und schätzen sich.
„Jan, der Bock war schon länger tot.“
Remsens Puls begann um sich zu schlagen: „Was interessiert mich ein toter Zwölfender? Außer ein Teil davon liegt auf meinem Teller. Dann schon…“
„Es gibt außer den Versprengungen durch den Aufprall keinen weiteren Hinweis darauf, dass der Hirsch hier auf der Straße angefahren wurde. Das solltest du wissen.“
„Wo ist die Tote? Besondere Merkmale?“ Remsen verspürte keine Lust mehr, den Tierschützer zu spielen.
„Da hinten. Recht erhebliche Frakturen am Kopf und im Halsbereich. Der Airbag löste zwar aus, aber obwohl sie angeschnallt war… Die Jungs von der Rechtsmedizin untersuchen sie gerade.“
„Wer ist heute dran?“ Remsen hatte eine leise Vorahnung.
„Dr. Ansbaum.“ Beide kannten Dr. Ansbaum als äußerst zuverlässigen und genauen Mann, dem kein Detail entging und der oft recht schnell die richtigen Schlussfolgerungen zog. Natürlich unter Vorbehalt, die Gerichtsmediziner sollten ja auch ihre Arbeit machen.
„Na wenigstens ein Lichtblick in dieser Nacht.“ Remsen konnte es nicht lassen, denn er stellte klar, dass er bereits Anwesende nicht schätzte.
Entsprechend wurde Reiken stinksauer: „Jan, wenn du meinst, dann kannst du ja gerne unseren Job übernehmen. Um diese Zeit pflege ich üblicherweise zu schlafen. Solltest du übrigens auch so handhaben.“
Remsen ruderte zurück: „War nicht so gemeint Günther. Irgendein Hinweis von Gewalteinwirkung oder so?“
„Noch nichts gehört, aber lass uns mal zum Doc. rüber gehen.“
Zum Glück hatte die Spurensicherung inzwischen Lichtmasten aufgestellt, sodass man die herumliegenden Einzelteile des Hirsches gut um kurven konnte. In diesem Licht gesehen sah der Kaffee in seinem Becher eher wie eine klebrige Substanz aus. Entnommen aus der nahegelegenen Entwässerungsanlage, wie Remsen vermutete. Nicht gesund, entschied er. Und schwupp landete der Becher im Straßengraben.
„Schon mal was von Unversehrtheit des Tatorts gehört?“ Jetzt war es an Günther Reiken, den launigen Remsen aus der Reserve zu locken.
„Wenn ich nicht gleich etwas höre, was auf keinen Unfall hinweist, sitze ich im nächsten Taxi nach Hause.“ Wer der Stärkere ist, werden wir noch sehen. Remsen fand seinen Konter recht gelungen.
„Hallo Dr. Ansbaum, schon was gefunden? Woran ist sie gestorben?“
Dr. Ansbaum bewegte sich nicht mehr so schnell. Das lag einerseits an seinem Alter; nur noch wenige Jahre und er wird pensioniert. Andererseits empfahl sein Therapeut ihm schon oft, mal seine Sportsachen in direkter Verbindung mit Körperertüchtigungsabsicht zu nutzen. Ja, er war richtig fett und tat nichts dagegen. Der Doktor wird schon wissen, was für ihn gut und richtig war.
„Der Unfall müsste so vor etwa 4 Stunden, plus minus wie immer, passiert sein. Hämatome eigentlich überall am Körper, am Kopf und am Hals besonders.“ Dr. Ansbaum schien nachdenklicher als sonst. Und offensichtlich nicht ganz sicher, wie Remsen bemerkte.
Er wollte sich nicht lange bitten lassen: „Todesursache?“
„Höchstwahrscheinlich war es ein Genickbruch. Zumindest hatte ein solcher endgültig für das Aus dieser Kleinen hier gesorgt.“
„Doktor, wenn sie angeschnallt war und der Airbag funktionierte, dann ist doch ein Genickbruch nicht drin, oder irre ich mich? Das Auto ist fast neu und Kopfstützen haben heute alle.“ Dafür war Remsen bekannt: scharfer Spürsinn und glasklarer Sachverstand mit einer Prise Sarkasmus. Er war gedanklich allen anderen meistens voraus.
Reiken schaltete sich ein: „Wenn ich mir hier die Teile vom Hirsch anschaue, dann hat sie locker mit mehr als 100 km/h den Hirsch geküsst. Jan, du kennst doch den Zubringer zur Autobahn: So schnell fährt hier an dieser Stelle noch nicht einmal Montoya.“
Reiken war Hobbyrennfahrer, ein Draufgänger wie der Kolumbianer. Dieser war zwar nicht so erfolgreich, stand aber trotzdem bei ihm hoch im Kurs. Denn Reiken war es, der gerne spektakulär überholte und sonst gerne mal die Regeln vergaß.
„Also, da hat jemand nachgeholfen!?“ Diese von Remsen teils als Aussage formulierte Frage brachte Ansbaum endgültig in Zugzwang; er musste sich festlegen. Unter Vorbehalt natürlich.
„Wenn Sie mich so fragen…“
„Ja, das tue ich. Und ich erwarte sogar eine Antwort.“ Remsen wurde ungeduldig und deutete dem Chef der Spurensicherung, beim Rechtsmediziner etwas nachzuhelfen.
„Jan, du weißt, wie so was läuft. Hier wird die erste Analyse gemacht, untersucht wird alles später in der KTU und der Gerichtsmedizin. Ich denke Doc., dass wir es bis zum Mittag es genauer wissen.“ Auch Reiken verstand es, Aussagen als Fragen zu formulieren.
Dr. Ansbaum überlegte genau, was er sagte: „Ein Unfall allein war es definitiv nicht. Die Hämatome am Hals deuten auf zusätzliche Einwirkungen hin, die letztlich zum Tod geführt haben könnten. Aber Genaues wirklich erst nach der Untersuchung. Ich denke, es war nicht nur ein Unfall.“
„Vielleicht haben noch ein paar Renntiere mitgeholfen.“ Jan Remsen zog mit Reiken, der ihm folgte, davon und ließ Dr. Ansbaum und sein Team stehen. Halb im Umdrehen rief er zurück: „Um Punkt 12 Uhr will ich es genau, ganz genau wissen. Und denken Sie daran, ich esse pünktlich.“
„Jan, der Doc. tut was er kann. Wir untersuchen gerade das Auto, die Spuren auf der Straße. Bisher scheint klar zu sein, dass sie gleich nach der Kurve da vorne gebremst und sich dabei gedreht haben. Wie es aussieht, haben sie dabei nur wenig Geschwindigkeit verloren und ist mit voller Wucht auf den Hirsch aufgefahren. So einen Unfall hatten wir noch nicht. Wir müssen morgen alles nachstellen.“
Reiken war auf Zeitgewinn und Beruhigung aus. Er wusste, dass Geduld nicht gerade eine Stärke von Jan Remsen war. Außerdem mochte er es nicht, wenn die Cops, wie die Mordkommission unter der Hand genannt wird, seine Arbeit nicht anerkannten.
„Glaubst du wirklich“, Remsen hatte Günthers Taktik durchschaut, „dass ein Auto mit, sagen wir mal 100 Stundenkilometern, auf einen Hirsch auffährt und die Fahrerin trotz Sicherheitsgurt und Airbag mit einem Knick im Genick das Leben aushaucht. Das stinkt gewaltig, nicht nur nach Hirsch. Und Ansbaum geht auch davon aus, dass am Hals jemand nachgeholfen hatte.“
„Ja, ja, mag ja alles sein. Aber solange wir das nicht wissenschaftlich belegt haben, kannst du anbrüllen, wen du magst. Vorher können wir dir nicht verbindlich sagen, was passierte.“
Jetzt reichte es Reiken auch so langsam. Wenn das alles hier vorbei ist, müsste er mit Jan mal wieder ins Refill, so von Mann zu Mann mit ihm reden. Aber nicht jetzt.
Einer seiner Mitarbeiter winkte ihn zu sich rüber. „Sieh mal, hier auf dem Beifahrersitz befinden sich jede Menge Haare, lang, blond. Die scheinen unser Kleinen zu gehören.“
„Sag nicht immer Kleine zu ihr. Die hat doch sicher einen Namen.“ Reiken war ein guter Chef, forderte aber von seinen Mitarbeitern volle Konzentration und vor allem Ergebnisse, hier in Form von Erkenntnissen.
„Ein wenig komisch ist es schon, Günther: Einen Raubmord kannst du ausschließen. Geld, Schmuck sind noch da. Aber weder ein Ausweis noch eine Kreditkarte oder so. Frauen haben immer so viele Karten im Koffer. Nichts da. Bis jetzt kein einziger Hinweis auf ihre Identität. Nur dass sie eine Frau ist, so um die 30, recht attraktiv“. Remsen war mit seiner ersten Einordnung wie immer schnell zur Hand.
„War. Sie war eine Frau. Ok, danke.“ Reiken ging dann doch noch mal zu den Rechtsmedizinern rüber. Jedoch nicht, ohne sich vorher zu vergewissern, dass Jan Remsen weit genug weg und mit anderen Dingen beschäftig war.
„Dr. Ansbaum – wir haben hier ein Problem. Wir wissen nicht, wer sie ist. Kein Ausweis, keine Bankverbindung, Gesundheitskarte oder so. Kein Hinweis auf ihre Identität. Hat sie ein Tattoo oder etwas Markantes, eine auffällige Narbe oder irgendwas anderes?“ Reiken schaute fast schon verzweifelt Dr. Ansbaum an, denn jeder Hinweis würde ihm Arbeit abnehmen und vor allem Zeit gewinnen.
„Herr Reiken, wir haben sie noch nicht weiter untersucht. Bisher ist mir nichts aufgefallen. Sorry, aber wenn Sie mich fragen? Ich tippe auf Osteuropäerin.“ Dr. Ansbaum machte Anstalten, sich wieder seiner Arbeit zu widmen.
„Osteuropäerin? Polin? Russin? Wie kommen Sie darauf?“ Jeder Hinweis könnte ein Lichtblick sein; so viel Erfahrung hatte Reiken allemal.
„So ein Gefühl, Intuition vielleicht. Vom Gesicht und ihrer Kleidung her würde ich es so einschätzen, muss aber nicht stimmen. Vielleicht weiß ich nach der Untersuchung mehr.“
Reiken war sich unsicher: „Soll ich Remsen davon was sagen?“
„Kann nicht schaden, aber bitte…“
„Ja, ja – ich weiß; unter Vorbehalt.“ Dr. Ansbaum sicherte sich wie immer mehrmals ab.