Unrast

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Die verlassene Wohnung

Die Wohnung versteht nicht, was passiert ist. Die Wohnung meint, der Besitzer ist gestorben. Seitdem die Tür ins Schloss gefallen ist und der Schlüssel im Schlüsselloch geknirscht hat, dringen alle Geräusche nur noch gedämpft herein, ohne Schattierung und Umriss, wie verlaufene Flecken. Der Raum erstarrt, ungenutzt, von keinem Durchzug, keiner Bewegung der Vorhänge aufgestört, in dieser Reglosigkeit bilden sich zaghaft probeweise Formen, und zwar solche, wie sie einen Augenblick lang im Flur zwischen Decke und Fußboden hängen.

Natürlich erscheint hier nichts Neues, wie könnte es auch? Das sind nur die Imitationen bekannter Formen, die blasenartige Ballungen bilden und ganz kurz Gestalt annehmen. Es sind einzelne Episoden, wie zum Beispiel ein Fußabdruck auf dem weichen Teppich, der dauernd – und immer an der gleichen Stelle – entsteht und verschwindet. Oder bloße Gesten, wie die Hand, die am Tisch die Bewegung beim Schreiben imitiert, was vollkommen unbegreiflich ist, denn sie hat weder Stift noch Blatt noch Schrift noch einen Körper, der dazu gehört.

Das Buch der Schandtaten

Eine Freundin war sie nicht. Ich traf sie auf dem Flughafen in Stockholm, dem einzigen Flughafen der Welt mit Holzfußboden, ein schönes dunkles Eichenparkett, gebohnerte, sorgfältig aufeinander abgestimmte Holzplättchen, man kann sich leicht vorstellen, dass ein paar Hektar nördlicher Wald darin stecken.

Sie saß neben mir, hatte die Beine ausgestreckt und auf ihren schwarzen Rucksack gelegt. Sie las nicht, hörte keine Musik, hatte die Hände über dem Bauch verschränkt und schaute vor sich hin. Mir gefiel diese Ruhe, diese völlige Hingabe ans Warten. Als ich sie etwas neugieriger musterte, bemerkte ich, dass ihr Blick über den gebohnerten Boden glitt.

Ich wollte sie ansprechen und murmelte deshalb etwas wie: »Schade um so viel Wald für einen Fußboden im Flughafen.«

»Wahrscheinlich muss beim Bau eines Flughafens ein Lebewesen zum Opfer gebracht werden. Damit keine Katastrophen passieren.«

Die Stewardessen am Pult hatten ein Problem. Leider hatte sich herausgestellt – wie sie uns, den Wartenden, durchs Mikrofon mitteilten –, dass unsere Maschine überbelegt war. Unerklärlicherweise waren zu viele Leute auf der Passagierliste. Ein Computerfehler – das Fatum unserer Tage. Wenn zwei Passagiere bereit wären, ihren Flug auf morgen zu verschieben, würden sie je zweihundert Euro bekommen, eine kostenlose Übernachtung im Flughafenhotel und einen Gutschein für ein Abendessen.

Die Leute wechselten nervöse Blicke. »Losen wir aus!«, schlug einer vor. Ein anderer lachte, aber dann trat ein unangenehmes Schweigen ein. Niemand will zurückbleiben, das ist verständlich, wir leben ja nicht in einem Vakuum, wir haben Verabredungen, morgen müssen wir zum Zahnarzt, und zum Abendessen sind Freunde eingeladen.

Ich betrachtete meine Schuhspitzen. Ich habe es nicht eilig. Ich muss nirgends zu einem festen Zeitpunkt sein. Soll die Zeit sich nach mir richten und nicht umgekehrt. Außerdem – man kann auf alle möglichen Weisen Geld verdienen, hier tut sich jetzt eine ganz neue Dimension von Arbeit auf, vielleicht ist das die Einkunftsquelle der Zukunft, die Rettung vor Arbeitslosigkeit und Überproduktion von Abfall. Vom Flug zurücktreten, mit der Übernachtung im Hotel ein Tageseinkommen verdienen, morgens vom großen schwedischen Frühstücksbuffet essen und die reiche Auswahl an Joghurt genießen. Warum nicht? Ich stand auf und trat auf die aufgeregte Stewardess zu. Die Frau, die neben mir gesessen hatte, folgte mir.

»Warum nicht?«, fragte sie.

Unser Gepäck musste leider ohne uns abfliegen. Der leere Autobus brachte uns zum Hotel, wir bekamen zwei nette kleine Zimmer nebeneinander. Es gab nichts auszupacken, Zahnbürste und frische Unterwäsche waren im Handgepäck, ebenso wie die Gesichtscreme und ein dickes Buch. Ein Notizbuch. Ich werde Zeit haben, alles aufzuschreiben, auch diese Frau zu beschreiben:

Sie ist groß, hat eine gute Figur, ziemlich breite Hüften und kleine Hände. Ihr volles gewelltes Haar trägt sie in einem Knoten, aber weil es nicht so leicht zu bändigen ist, schwebt es wie eine silberne Aureole um ihren Kopf, ganz ergraut. Aber ihr Gesicht ist jung, hellhäutig, sommersprossig. Bestimmt ist sie Schwedin, die färben nicht die Haare.

Wir hatten verabredet, dass wir uns am Abend unten in der Bar treffen würden, nach einer ausgiebigen Dusche und einem Blick in die verschiedenen Fernsehsender.

Wir bestellten Weißwein, und nach anfänglichen Höflichkeiten und den Drei Fragen der Reisenden kamen wir zur Sache. Ich erzählte ihr zuerst von meinem Wanderleben, aber hatte bald den Eindruck, dass sie nur höflichkeitshalber zuhörte. Deshalb verlor ich den Schwung, ich wusste, dass sie eine viel interessantere Geschichte haben würde.

Sie sammelte Beweise, dafür hatte sie ein Stipendium der eu, aber das reichte nicht für ihre Reisen, sie hatte zusätzlich etwas von ihrem Vater leihen müssen, der in der Zwischenzeit gestorben war. Sie strich sich eine graue Korkenzieherlocke aus der Stirn (dabei konnte ich mich vergewissern, dass sie bestimmt nicht älter als fünfundvierzig war), und für die Gutscheine der Fluggesellschaft bestellten wir uns einen Salat. Griechischer Salat war das Einzige, was wir uns dafür leisten konnten.

Beim Sprechen hielt sie die Augen halb geschlossen, das verlieh ihren Worten eine leichte Ironie. Deshalb war ich in den ersten Minuten nicht ganz sicher, ob sie ernst meinte, was sie sagte. Sie behauptete, die Welt wirke nur auf den ersten Blick so vielfältig. Wohin man auch fahre, man stoße auf verschiedene Menschen, ihre exotischen Kulturen, nach verschiedensten Plänen erbaute Städte, aus allen möglichen Materialien. Dächer, Fenster, Höfe – überall anders. Mit der Gabel spießte sie ein Stück Feta auf und beschrieb damit einen Kreis in der Luft.

»Doch lass dich von dieser oberflächlichen Vielfalt, von diesem Pfauenschweif nicht täuschen«, sagte sie. »Überall ist es dasselbe: die Tiere. Das, was der Mensch den Tieren antut.«

Ruhig, als hielte sie einen auswendig gelernten Vortrag, begann sie aufzuzählen: »Hunde reißen in brütender Hitze an zu kurzen Ketten, warten auf Wasser wie auf den Heiland, Welpen liegen an Ketten von einem halben Meter Länge, im zweiten Lebensmonat können sie noch nicht laufen; Schafe werfen im Winter auf offenem Feld, die Bauern unternehmen nichts, organisieren höchstens Lieferwagen, die die erfrorenen Lämmer abtransportieren. In Restaurants kann der Gast mit dem Finger auf den lebenden Hummer im Aquarium zeigen, den er damit zum Tod im siedenden Wasser verurteilt; andere Restaurants halten heimlich im Hinterhof Hunde, denn Speisen aus Hundefleisch sollen Männern die Potenz wiedergeben; Käfighühner werden nach der Anzahl der gelegten Eier definiert und in ihrem kurzen Leben mit Chemie vollgepumpt; Hunde richtet man zum Kampf ab, Affen werden ansteckende Krankheiten gespritzt, auf der Haut von Kaninchen werden Kosmetika getestet; ungeborene Lämmer werden zu Pelzmänteln verarbeitet.« Das alles sagte sie ganz gleichgültig, während sie sich die Oliven in den Mund schob.

Ich protestierte. Nein, das werde ich mir nicht anhören.

Sie zog einen Stapel Unterlagen aus ihrer Patchworktasche, die sie über den Stuhl gehängt hatte. Die Blätter steckten in zusammengehefteten Plastikhüllen, dicht beschriebene Fotokopien, die sie mir über den Tisch reichte. Ich blätterte sie unwillig durch. Auf den dunklen Seiten waren jeweils zwei Spalten Text wie in einer Enzyklopädie oder in der Bibel. Kleingedrucktes, Anmerkungen. »Berichte über Schandtaten«, ihre Internetadresse. Beim ersten Blick darauf wusste ich schon, dass ich sie nicht lesen würde. Trotzdem steckte ich sie später sorgfältig in meinen Rucksack.

»Damit beschäftige ich mich«, sagte sie.

Als wir bei der zweiten Flasche Wein waren, erzählte sie mir, wie sie auf einer Reise in Tibet die Höhenkrankheit bekommen hatte und fast daran gestorben wäre. Eine Frau dort hatte sie geheilt, indem sie auf Trommeln schlug und ihr Heilkräutersud einflößte.

Wir gingen spät zu Bett, unsere Zungen hatten sich am Abend gelöst, vom Wein geölt und voll Verlangen nach langen Sätzen und Fabeln.

Als wir am nächsten Morgen beim Frühstück saßen, beugte sich Alexandra – so hieß nämlich die zornige Frau – über die Croissants zu mir.

»Der wahre Gott ist ein Tier«, erklärte sie. »Er ist in den Tieren, so nah, dass wir ihn nicht erkennen. Tagtäglich opfert er sich für uns, stirbt unzählige Male, ernährt uns mit seinem Körper, kleidet uns in seine Haut, lässt zu, dass man Medikamente an ihm testet, damit wir länger und besser leben können. So zeigt er uns seine Zuneigung, beschenkt uns mit Liebe und Freundschaft.«

Ich erstarrte, schaute fassungslos auf ihren Mund. Was mich entsetzte, war weniger die Äußerung selbst als der ganz ruhige Ton, in dem sie sprach. Und das Messer, mit dem sie gelassen eine Schicht Butter auf dem weichen Inneren des Hörnchens verteilte.

»Der Beweis befindet sich in Gent.«

Sie kramte eine Postkarte aus ihrer Patchworktasche und warf sie mir auf den Teller.

Ich nahm sie in die Hand und versuchte, in der Fülle von Einzelheiten einen sinnvollen Zusammenhang zu erkennen, dazu hätte man eine Lupe gebraucht.

»Jeder kann es sehen«, sagte Alexandra. »Mitten in der Stadt steht eine Kathedrale, und im Altar dort ist ein großes schönes Bild. Darauf sieht man Felder, eine grüne Ebene vor der Stadt, und auf dieser Wiese befindet sich eine einfache Erhebung. Genau hier« – sie zeigte mit der Messerspitze auf die Stelle –, »hier ist Das Tier in Gestalt eines weißen Lammes, auf der Erhebung.«

 

Ja, ich erkannte das Bild. »Die Anbetung des Lamms«, ich hatte es oft auf Reproduktionen gesehen.

»Seine wahre Identität hat sich hier offenbart. Seine leuchtende Gestalt zieht den Blick an, jeder Kopf beugt sich vor seiner göttlichen Majestät«, erzählte sie und deutete mit dem Messer auf das Lamm. »Und wir sehen, wie fast von überallher Prozessionen zu ihm strömen, alle Menschen wollen ihm huldigen, diesen Gott in seiner bescheidensten, niedrigsten Form sehen. Schau, hier kommen die Herrscher der Länder, Kaiser und Könige, Kirchen, Parlamente, politische Parteien, Handwerkszünfte, Mütter kommen mit ihren Kindern, Greise und junges Volk …«

»Warum tust du das?«, fragte ich.

»Das liegt doch auf der Hand! Ich will ein großes Buch schreiben, in dem keine Schandtat vom Anfang der Welt bis zum heutigen Tag unerwähnt bleiben soll. Das wird die Beichte der Menschheit.«

Auszüge aus der antiken Literatur hatte sie schon niedergeschrieben.

Reiseführer

Beschreiben ist wie benutzen – es verschleißt. Die Farben verblassen, die Kanten werden stumpf, das Beschriebene verblasst allmählich und verschwindet. Das betrifft insbesondere Orte. Die Reiseliteratur hat große Verheerungen angerichtet, wie eine Invasion, eine Epidemie. Die Baedekers haben den größten Teil der Welt ein für alle Mal zerstört, in Millionen von Auflagen und unzähligen Sprachen gedruckt, haben sie die Orte geschwächt, sie festgenagelt, benannt und die Umrisse verwischt.

In meiner jugendlichen Naivität habe ich mich früher selbst ans Beschreiben von Orten gemacht. Wenn ich später an diese Orte zurückkehrte, tief Luft holen und mich noch einmal an der Intensität ihrer Präsenz berauschen, mein Ohr ihrem Wispern öffnen wollte – erlebte ich einen Schock. Die Wahrheit ist schrecklich: Beschreiben heißt vernichten.

Deshalb passe man besser auf. Am besten nennt man keine Namen. Man sollte verschlüsseln und verschleiern, Ortsangaben vorsichtig behandeln, um niemanden zu einer Pilgerfahrt zu verführen. Was würde der Pilger dort finden? Einen toten Ort, Staub, einen abgenagten Butzen.

In dem bereits erwähnten »Buch der Syndrome« findet sich auch das »Pariser Syndrom«, das in erster Linie japanische Touristen befällt, die Paris besuchen. Kennzeichnend dafür ist ein Schock mit etlichen vegetativen Symptomen wie flacher Atem, Herzrhythmusstörungen, Schweißausbrüche und Erregungszustände. Manchmal treten sogar Halluzinationen auf. In solchen Fällen verabreicht man Beruhigungsmittel und rät zur Heimreise. Diese Störungen lassen sich durch die Abweichung der Wirklichkeit von den Erwartungen der Pilger erklären. Das Paris, das sie vorfinden, ähnelt in nichts der Stadt, die sie aus Reiseführern, Film und Fernsehen kennen.

Das neue Athen

Dabei gibt es ja keine Bücher, die so schnell veralten wie Reiseführer, was ja für die Reiseführerindustrie ein Segen ist. Auf meinen Reisen bin ich immer zweien treu geblieben, die ich höher schätze als alle anderen, obwohl sie vor langer Zeit geschrieben wurden. Denn sie sind aus wahrer Leidenschaft entstanden, aus dem Wunsch, die Welt zu beschreiben.

Der erste wurde am Anfang des 18. Jahrhunderts in Polen verfasst, zu einem Zeitpunkt, als in Europa die erweckte Vernunft ähnliche Versuche unternahm, die vielleicht von größerem Erfolg gekrönt waren, dafür aber mit Sicherheit weniger Charme haben. Sein Autor ist der katholische Priester Benedykt Chmielowski, der irgendwo in Wolhynien geboren wurde.1 Er ist ein vom Nebel der Provinz umwogter Josephus Flavius, ein Herodot vom Rand der Welt. Ich vermute, dass er an dem gleichen Syndrom gelitten haben mag wie ich, obwohl er sich, im Unterschied zu mir, nie von zu Hause fortbewegte.

In dem Kapitel mit dem langen Titel »Von anderen wundersamen und merkwürdigen Menschen auf der Welt, ergo den Anacephalen alias Kopflose, den Cynocephalen alias Hundsköpfige, und von anderen Menschen seltsamer Gestalt« schreibt er:

»… befindet sich das sogenannte Volk der Blemier, welches Isidorus auch Lemnios heißet, diese Halsmenschen haben Gestalt und Symmetrie, einen Kopf jedoch haben sie gar nicht, nur ein Gesicht in der Mitte der Brust. […] Plinius hingegen, der große Forscher natürlicher Dinge, bestätigt nicht nur dieses Sentiment der Acephalen alias kopflosen Menschen, sondern er siedelt sie auch nicht weit von den Troglodyten in Äthiopien an, also im Land der Mohren. Diese Autoren erhalten einige Bekräftigung von jenem oculatus testis ›was heißt Augenzeugen‹, nämlich dem S. Augustinus, da ebendieser in jenem Lande (von welchem er als Hipponensischer Bischof in Afrika nicht weit entfernt war) umherzog und des Heiligen Christlichen Glaubens semina (Samen) säte, wie er ausdrücklich in seiner Predigt in Eremo (in der Wüste) an die von ihm gegründete Bruderschaft der Augustiner verkündete. […] ›Ich war schon Bischof von Hippo und begab mich mit einigen Dienern Christi nach Äthiopien, um das Evangelium von Jesus Christus zu verkünden, und wir sahen dort viele Männer und Weiber ohne Kopf, die jedoch riesige Augen auf der Brust trugen, während ihre anderen Gliedmaßen jedoch den unseren ähnlich waren.‹ […] Solinus, der so oft erwähnte Autor, schreibt, dass sich in den indischen Gebirgen Menschen finden, welche die Köpfe von Hunden und ebenso Hundestimmen haben, alias Bellen. Marcus Polus, welcher Indien visitieret hat, berichtet, auf der Insel Agamen gebe es Menschen mit den Köpfen und Zähnen von Hunden; ebenso bezeugt dies auch Odoricus Aelianus lib 10, welcher ihnen die Wüsten und Sümpfe Ägyptens zuschreibt. Diese menschlichen Monstra nennt Plinius Cynanalogos, Aulus, Gellus, Isidonus hingegen nennen sie Cynocephalos, das sind Hundsköpfe. […] Der Fürst Mikołaj Radziwill gibt in Brief 3 von seinen Reisen Kunde, er habe zwei Cynocephalen, das sind hundsköpfige Menschen, mit sich genommen und sie nach Europa gebracht.

Tandem oritur questio ›so stellt sich schließlich die Frage‹: Sind solche Monstrosi Menschen capaces ›geeignet‹ für die Erlösung? Auf diese Frage antwortet der Hipponens Catedra Oraculum, der Heilige Augustinus: Wo auch immer ein Mensch geboren sein mag, solange er ein wahrhaftiger Mensch ist, ein mit Vernunft begabtes Wesen, das eine vernünftige Seele hat, das sich in Gestalt, Farbe Stimme oder Gang von uns unterscheide mag, so darf nicht bezweifelt werden, dass er von der Menschen Erstem Stammvater Adam abstamme und deshalb teilhaftig an der Erlösung capax sei.«

Der andere Reiseführer ist »Moby Dick« von Melville.

Und wenn man gelegentlich Zugang zu Wikipedia hat, dann reicht das vollkommen aus.

Wikipedia

Meiner Meinung nach ist es das anständigste der menschlichen Erkenntnis gewidmete Projekt, das es gibt. Es bringt unmittelbar zu Bewusstsein, dass alles Wissen von der Welt dem menschlichen Kopf entspringt, so wie Athene dem göttlichen Kopf. Die Leute bringen bei Wikipedia alles ein, was sie selbst wissen. Wenn das Projekt gelingt, wird eine solche sich ständig weiterentwickelnde Enzyklopädie das größte Weltwunder sein. Darin findet sich alles, was wir wissen, jedes Ding, jede Definition, jedes Ereignis, jedes Problem, mit dem sich das menschliche Gehirn beschäftigt hat; wir werden Quellen zitieren und Links angeben. Auf diese Art und Weise werden wir unsere eigene Version von der Welt wirken, die Weltkugel mit unserer eigenen Erzählung überziehen. Alles werden wir darin unterbringen. Machen wir uns an die Arbeit! Soll jeder nur einen Satz über das schreiben, worauf er sich am besten versteht.

Manchmal habe ich allerdings Zweifel, ob es gelingen wird. Denn dort kann sich ja nur das finden, was wir aussprechen können, wofür es Worte gibt. In diesem Sinne wird eine solche Enzyklopädie keineswegs alles enthalten.

Es müsste des Gleichgewichts halber noch eine andere Wissenssammlung geben, von dem, was wir nicht wissen, wie ein Rock und seine linke Seite, sein Innenfutter, von keinem Inhaltsverzeichnis zu erfassen, keiner Suchmaschine zugänglich, ihres ungeheuren Umfangs wegen findet der Fuß keinen Halt an den Worten, sondern man setzt die Füße zwischen die Worte, in die abgrundtiefen Schlünde zwischen den Begriffen. Jedes Mal rutscht der Fuß ab, und wir fallen.

Die einzige mögliche Bewegung scheint mir die Bewegung in die Tiefe zu sein.

Materie und Antimaterie.

Information und Antiinformation.

Bürger der Welt, an die Feder!

Jasmin, eine liebenswerte Muslimin, mit der ich mich einmal einen ganzen Abend unterhalten habe, erzählte mir von ihrem Vorhaben: Sie will alle Menschen in ihrem Land dazu anregen, ein Buch zu schreiben. Sie sagte: Man braucht so wenig, um ein Buch zu schreiben, nur ein bisschen freie Zeit nach der Arbeit, nicht mal unbedingt einen Computer. Es kann immer vorkommen, dass dem einen oder andren mutigen Menschen dann ein Bestseller gelingt, dann wäre ein gesellschaftlicher Aufstieg der Lohn für seine Mühe. Das ist die beste Methode, um sich aus der Armut zu befreien, sagte sie. Wenn wir nur alle gegenseitig unsere Bücher lesen würden. Sie seufzte. Sie hat ein Forum im Internet gegründet. Angeblich gibt es schon mehrere hundert Mitglieder.

Das gefällt mir sehr: das Lesen von Büchern als eine moralische Geschwisterpflicht gegenüber unserem Nächsten.

Reisepsychologie.
Lectio brevis I

Im Laufe der letzten ein, zwei Jahre bin ich auf Flughäfen Wissenschaftlern begegnet, die dort inmitten des Reisetrubels zwischen Ansagen zu Abflug und Einsteigen ihre kleinen Vorlesungen veranstalten. Irgendjemand erklärte mir, dass das ein weltweites (vielleicht aber auch nur EU-weites) Informationsprojekt sei. Deshalb blieb ich stehen, als ich die aufgespannte Leinwand im Wartesaal und die Ansammlung Neugieriger bemerkte.

»Verehrte Damen und Herren«, begann eine junge Frau und rückte mit einer etwas nervösen Bewegung ihren bunten Schal zurecht, während ihr Partner, ein Mann in Tweedjacke mit Lederflecken auf den Ellbogen, die Leinwand vorbereitete. »Die Reisepsychologie befasst sich mit dem reisenden Menschen, dem Menschen in Bewegung, und platziert sich damit außerhalb der herkömmlichen Psychologie, die das Wesen des Menschen immer im statischen Kontext, in stabiler Lage und Unbewegtheit untersucht hat – beispielsweise durch das Prisma seiner biologischen Konstitution, seiner Familienbeziehungen und sozialen Situation und so weiter. Für die Reisepsychologie stehen solche Fragen nicht im Mittelpunkt, sie sind zweitrangig.

Wenn wir den Menschen überzeugend beschreiben wollen, können wir das nur tun, indem wir ihn in den Kontext einer Bewegung setzen – von irgendwoher, irgendwohin. Die Tatsache, dass es so viele wenig überzeugende Beschreibungen des Menschen gibt, die ihn als stabil und statisch darstellen, scheint die Existenz eines außerkontextuell verstandenen ›Ich‹ in Frage zu stellen. Aus diesem Grund setzen sich in der Reisephilosophie seit einiger Zeit verstärkt bestimmte Strömungen durch, die in der Reisepsychologie die einzig mögliche Form der Psychologie sehen.«

Das kleine Häuflein Zuhörer wurde unruhig, denn gerade kam eine lärmende Gruppe großer Männer vorbei – Fußballfans, die alle Schals in den Farben ihres Clubs trugen. Gleichzeitig gesellten sich immer neue Zuhörer dazu, die neugierig waren und wissen wollten, was es mit der Leinwand und den zwei Stuhlreihen auf sich hatte. Sie unterbrachen ihren Weg zum Abflugsteig oder ihr müßiges Bummeln durch die Flughafengeschäfte und setzten sich einen Augenblick hin. Von vielen Gesichtern ließen sich Müdigkeit und zeitliche Desorientierung ablesen. Man sah ihnen an, dass sie gerne wenigstens ein bisschen vor sich hin gedöst hätten, und wahrscheinlich wussten sie nicht, dass sich gleich um die Ecke ein bequem eingerichteter Warteraum mit Schlafsesseln befand. Mehrere Reisende blieben stehen, als die Frau anfing zu sprechen. Ein ganz junges Paar stand aneinandergeschmiegt und hörte konzentriert zu, dabei streichelten sie einander zärtlich über den Rücken.

Die Frau machte eine kleine Pause, dann nahm sie den Faden ihres Themas wieder auf:

»Ein wichtiger Begriff in der Reisepsychologie ist das Begehren, denn dieses verleiht dem menschlichen Wesen Bewegung und Richtung zugleich – es weckt die Hingabe an etwas. Das Begehren an sich ist leer, das heißt, es weist nur die Richtung, aber nicht das Ziel, das Ziel nämlich bleibt immer phantasmagorisch und unklar, je näher man ihm kommt, desto rätselhafter wird es. Das Ziel lässt sich unter keinen Umständen erreichen, man kann auch nie das Begehren damit stillen. Dieser Prozess des Strebens wird durch die Bewegung zu … hin veranschaulicht. Zu etwas hin.«

 

Hier hob die Frau den Blick und warf über den Rand ihrer Brillengläser hinweg einen aufmerksamen Blick in die Menge der Zuschauer, als erwarte sie irgendeine Form von Bestätigung, dass sie sich an das richtige Publikum wandte. Das gefiel einem Ehepaar mit zwei Kindern im Buggy nicht, sie wechselten einen kurzen Blick und schleiften ihr Gepäck weiter, um sich die falschen Rembrandts anzusehen.

»Die Reisepsychologie kappt das Band mit der Psychoanalyse jedoch nicht …«, fuhr sie fort, und ich bekam allmählich Mitleid mit diesen jungen Dozenten. Sie wandten sich an Leute, die sich nur zufällig hier befanden und nicht besonders interessiert aussahen. Ich zog mir einen Becher Kaffee am Automaten und gab ein paar Zuckerwürfel hinein, um richtig aufzuwachen. Als ich zurückkam, war der Mann an der Reihe.

»Das grundlegende Konzept ist das Prinzip der Konstellationalität«, sagte er, »und damit sind wir auch gleich beim ersten Grundsatz der Reisepsychologie: Im Unterschied zur Wissenschaft (und auch da wird vieles der gewünschten Ordnung wegen zurechtgebogen) gibt es im Leben kein philosophisches Primum. Das heißt, es lässt sich weder eine konsequente Reihe von Ursache-Folge-Argumenten aufbauen noch eine Narration aus kausal aufeinander folgenden und einander bedingenden Ereignissen konstruieren. Es wäre nur eine Approximation, so ähnlich wie uns das Netz aus Längen- und Breitengraden als Approximation der Oberfläche einer Kugel erscheint. Wollten wir hingegen unsere Erfahrung so genau wie möglich abbilden, müsste man ein Ganzes vielmehr aus konzentrisch auf einer Fläche angeordneten Teilchen ungefähr gleicher Wertigkeit bilden. Denn die Konstellation ist der Träger von Wahrheit, nicht die Sequenz. Deshalb beschreibt die Reisepsychologie den Menschen in äquivalenten Situationen, ohne zu versuchen, seinem Leben auch nur eine ungefähre Kontinuität zuzuschreiben. Das Leben des Menschen setzt sich aus Situationen zusammen. Es besteht allerdings eine gewisse Neigung zur Wiederholung von Verhaltensweisen. Diese Wiederholungen jedoch heißen nicht, dass man dem Leben den Anschein einer gleichwie gearteten konsequenten Ganzheit verleihen kann.«


Boufarik, Algeria (1882)

Der Mann blickte mit einer gewissen Nervosität über den Rand seiner Brillengläser auf die Zuhörer, wahrscheinlich wollte er sich vergewissern, ob sie wirklich lauschten. Wir lauschten aufmerksam.

In diesem Augenblick eilte eine Reisegruppe mit Kindern an uns vorbei, offensichtlich mussten sie in ein anderes Flugzeug umsteigen und waren schon verspätet. Das lenkte uns ein bisschen ab, eine Zeitlang hing unser Blick an ihren erhitzten geröteten Gesichtern, ihren Strohhüten, den Souvenirs in Gestalt von Trommeln und Masken, den Muschelketten. Der Mann räusperte sich einige Male, um uns zur Ordnung zu mahnen, er holte tief Luft, doch nach einem weiteren Blick auf uns atmete er hörbar aus und schwieg. Er blätterte kurz in seinem Notizbuch, schließlich sagte er:

»Historisches. Nun ein paar Sätze zum historischen Hintergrund. Dieses Gebiet der Psychologie entwickelte sich in den Nachkriegsjahren (den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts) aus der Flugpsychologie, die wiederum infolge der zunehmenden Zahl von Flugreisen entstanden war. Anfangs widmete sie sich speziellen mit dem Passagiertransport verbundenen Problemen, wie beispielsweise dem Verhalten bestimmter Gruppen in Gefahrensituationen oder der psychologischen Dynamik des Fliegens. Im Laufe der Zeit vergrößerte sich ihr Interessensbereich, die Beschäftigung mit der Organisation von Flughäfen und Hotels kam hinzu, Fragen der Eingewöhnung an neuen Orten, interkulturelle Aspekte des Reisens. Einzelne Spezialgebiete bildeten sich heraus, so die Psychogeographie und die Psychotopologie. Es entstanden auch klinische Forschungsbereiche …«

Ich hörte nicht mehr zu, der Vortrag war mir zu lang. So viel Wissen müsste man in kleineren Dosen verabreichen.

Dafür weckte ein Reisender mein Interesse: Er war ungepflegt gekleidet und wirkte sehr erschöpft, bestimmt war er schon lange unterwegs. Er hatte einen liegen gebliebenen schwarzen Regenschirm gefunden und untersuchte ihn eingehend. Doch der Regenschirm erwies sich als ganz unbrauchbar. Die Stangen waren zerbrochen, und der schwarze Schirm ließ sich nicht mehr aufspannen. Zu meiner Verblüffung begann der Mann nun, die Bespannung des Regenschirms von den Stangen und Verschraubungen zu lösen, was ziemlich viel Zeit in Anspruch nahm. Er war ganz konzentriert bei der Sache, reglos saß er inmitten der um ihn brandenden Menge der Reisenden. Als er fertig war, faltete er den Stoff säuberlich zusammen, steckte ihn in die Tasche, und verschwand im Strom der Menschen.

Da drehte ich mich auch um und machte mich auf meinen Weg.