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Das Syndrom

Die Geschichte meiner Reisen ist nur die Geschichte einer Unzulänglichkeit. Ich leide an einem Syndrom, das sich mühelos in jedem Atlas klinischer Syndrome finden lässt und das – wie die Fachliteratur behauptet – immer mehr um sich greift. Am besten greift man zu »The Clinical Syndrome« in einer älteren Ausgabe, aus den siebziger Jahren. Das ist eine Art eigener Syndrom-Enzyklopädie. Für mich übrigens eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Würde es da noch jemand wagen, den Menschen als Ganzes zu beschreiben, allgemein und objektiv? Sich voller Überzeugung des Begriffs der »Persönlichkeit« zu bedienen? Begeisterung für eine überzeugende Typologie aufzubringen? Ich glaube kaum. Der Begriff des Syndroms passt wie angegossen auf die Reisepsychologie. Ein Syndrom ist nicht groß, übertragbar, an keine schlaffe Theorie gebunden, episodisch. Man kann damit etwas erklären und es dann in den Papierkorb werfen. Ein Erkenntniswerkzeug zum Einmalgebrauch. Meines heißt Perseveratives Detoxifikationssyndrom. Ganz nüchtern und schlicht erklärt, bedeutet es nur so viel, dass es dem Wesen nach auf der hartnäckigen Bewusstmachung bestimmter Vorstellungen, ja sogar auf der zwanghaften Suche nach diesen Vorstellungen beruht. Es ist eine Variante des »Mean World Syndrome« (»Böse-Welt-Syndrom«), das in der jüngsten Zeit in der neuropsychologischen Literatur ziemlich gut als eine spezifische Form der Infektion durch die Medien beschrieben wird. Im Grunde ein sehr bürgerliches Leiden. Der Patient verbringt Stunden vor dem Fernseher und sucht mit der Fernbedienung nur die Sender, auf denen besonders schreckliche Nachrichten gebracht werden: Kriege, Epidemien, Katastrophen. Gebannt von dem Anblick, kann der Zuschauer die Augen nicht mehr abwenden.

Die Symptome selbst sind nicht bedrohlich, man kann in Ruhe damit leben, solange man eine gewisse Distanz behält. Dieses unangenehme Leiden lässt sich nicht heilen, die Wissenschaft begnügt sich in diesem Fall mit der bedauernden Feststellung, dass es existiert. Gelangt der über sich selbst entsetzte Patient schließlich in die Sprechstunde eines Psychiaters, wird dieser ihm raten, seine Lebenshygiene zu verbessern: Verzicht auf Kaffee und Alkohol, Schlafen bei offenem Fenster, Gartenarbeit, Stricken oder Weben.

Mein Symptomkomplex besteht darin, dass mich alles anzieht, was kaputt, unvollkommen, defekt, zerbrochen ist. Mich interessiert das Unansehnliche, Irrtümer der Schöpfung, Sackgassen. Das, was sich entwickeln sollte, doch aus irgendwelchen Gründen unentwickelt geblieben oder, umgekehrt, übers Ziel hinausgeschossen ist. Alles, was von der Norm abweicht, was zu klein oder zu groß ist, wuchernd oder verkümmert, monströs und abstoßend. Formen, die keine Symmetrie wahren, die sich vervielfältigen, in die Breite gehen, sprießen oder, umgekehrt, die Vielzahl zur Einzahl reduzieren. Mich interessieren keine wiederholbaren Vorkommnisse, über die sich aufmerksam die Statistik beugt, die von allen mit zufriedenem freudigem Grinsen gefeiert werden. Meine Sensibilitäten sind teratologisch, monstrophil. Ich bin der unbeirrbaren und irritierenden Überzeugung, dass genau darin das wahre Sein zum Vorschein kommt und seine Natur offenbart. Eine plötzliche, zufällige Enthüllung. Ein verschämtes »Hoppla«, ein Zipfel Unterwäsche unter dem sorgsam plissierten Rock. Ein abscheuliches Metallskelett dringt plötzlich durch den Samtbezug, eine Eruption der Federn im Plüschsessel, die jedwede Illusion von Weichheit schamlos demaskiert.

Kuriositätenkabinett

Für den Besuch von Kunstmuseen habe ich nie viel übrig gehabt, und wenn es nach mir ginge, könnte man an ihrer Stelle gerne Kuriositätenkabinette einrichten, wo das Seltene und Einmalige, das Absonderliche und Monströse gesammelt und ausgestellt wird. Das, was im Schatten des Bewusstseins existiert und aus dem Blickfeld verschwindet, sobald man hinschaut. Ja, mit Gewissheit leide ich an jenem unglückseligen Syndrom. Mich zieht es nicht zu Ausstellungen in den Stadtzentren, sondern eher in kleine, zu Krankenhäusern gehörige Sammlungen, die oft in den Keller verbannt sind, als verdienten sie keinen wertvollen Ausstellungsraum, Indizien für den suspekten Geschmack früherer Sammler. Ein Salamander mit zwei Schwänzen in einem ovalen Glas, der mit hochgereckter Schnauze den Tag des Jüngsten Gerichts abwartet, wenn alle Präparate der Welt wiederauferstehen. Die Niere eines Delphins in Formalin. Die reine Anomalie: ein Schafsschädel mit je zwei Augenpaaren, Ohrenpaaren und Schnauzen, schön wie das Bildnis einer vielgesichtigen antiken Gottheit. Ein mit Glasperlen geschmückter menschlicher Embryo, dazu ein in sorgfältiger Schönschrift gefertigtes Etikett: »Fetus Aethiopis 5 mensium«. Jahrelang wurden hier die schrägen Launen der Natur gesammelt, Doppelköpfige und Kopflose, ungeboren treiben sie träge in Formaldehyd-Lösung. Oder der Fall des Cephalothoracophagus Monosymetro, bis heute in einem Museum in Pennsylvanien ausgestellt, der in Gestalt der pathologischen Morphologie einer Leibesfrucht mit einem Kopf und zwei Körpern die Grundlagen der Logik als Gleichung 1=2 in Frage stellt. Und zu guter Letzt ein rührendes hausgemachtes Präparat aus der Küche: Äpfel aus dem Jahre 1848 mit seltsamen, ganz abartigen Formen schlummern in Spiritus, weil offensichtlich jemand erkannte, dass diesen Launen der Na-tur Unsterblichkeit gebührt und nur das überdauert, was anders ist.

Und genau deshalb unternehme ich meine geduldigen Reisen, auf denen ich die Fehler und Reinfälle der Schöpfung aufspüre.

Ich habe gelernt, in Zügen, Hotels und Wartesälen zu schreiben. Auf den Klapptischchen im Flugzeug. Ich mache mir beim Mittagessen unter dem Tisch Notizen, oder sogar auf der Toilette. Ich schreibe auf Museumstreppen, in Cafés, auf geparkten Autos am Straßenrand. Ich schreibe auf Papierfetzchen, in Notizbücher, auf Postkarten, auf meinen Handrücken, auf Servietten, auf die Seitenränder in Büchern. Meistens kurze Sätze, Skizzen, manchmal schreibe ich auch Stücke aus Zeitungen ab. Es kommt vor, dass mich irgendeine Gestalt in der Menge von meinem Weg abbringt, ich folge ihr eine Zeitlang, fange an zu erzählen. Das ist eine gute Methode, in der ich mich vervollkommnen will. Von einem Jahr aufs andere ist die Zeit meine Verbündete geworden, wie für jede Frau: Ich bin unsichtbar, durchsichtig geworden. Ich kann mich wie ein Geist umherbewegen, Menschen über die Schulter schauen, ihren Streit belauschen, zusehen, wie sie mit dem Kopf auf dem Rucksack schlafen, wie sie mit sich selbst reden, ohne sich meiner Anwesenheit bewusst zu sein, die Lippen bewegen, Worte formulieren, die ich ihnen laut nachspreche.

Sehen ist wissen

Das Ziel meiner Pilgerreise ist immer ein anderer Pilger. Diesmal ist es ein gebrechlicher Pilger, in Stücken.

Hier werden zum Beispiel Knochen gesammelt, aber nur solche, mit denen etwas nicht stimmt: verkrümmte Wirbelsäulen und verdrehte Rippen, die bestimmt aus ebenso verdrehten Körpern gezogen worden sind, um präpariert, getrocknet und zum Schluss mit Lack überzogen zu werden. Eine kleine Nummer gibt einen Hinweis auf die Krankheitsbeschreibung in längst zerbröselten Listen. Wie kurzlebig ist Papier im Vergleich mit Knochen! Man hätte gleich auf Knochen schreiben sollen.

Da ist zum Beispiel ein Oberschenkelknochen, den jemand vorwitzig der Länge nach durchgesägt hat, um zu sehen, was darin steckt. Bestimmt war er enttäuscht, denn er hat beide Teile mit Schnur umwickelt und sie, mit den Gedanken schon bei etwas anderem, zurück in den Schaukasten gelegt.

In diesem Schaukasten befinden sich mehrere Dutzend Menschen, die sich nicht kannten, deren Leben zeitlich und räumlich weit voneinander entfernt stattfanden. Jetzt sind sie gemeinsam in diesem schönen, geräumigen, trockenen und gut beleuchteten Grab zur musealen Ewigkeit verurteilt; die Knochen, die auf ewig in der Erde stecken, beneiden sie bestimmt darum. Und manche von ihnen – die Knochen der Katholiken – machen sich vielleicht Sorgen darüber, wie sich alle am Tag des Jüngsten Gerichts wiederfinden werden, wie sie sich so versprengt wieder zu dem Körper zusammenfinden sollen, der Sünden begangen und gute Taten vollbracht hat.

Schädel mit allen nur vorstellbaren Strukturen, durchschossen, durchlöchert, geschrumpft. Vom Rheumatismus befallene Handknochen. Mehrfach gebrochene Arme, die ohne Hilfe wieder zusammengewachsen sind, so, wie es sich gerade fügte, ein versteinerter vieljähriger Schmerz.

Lange Knochen, die zu kurz sind, und kurze Knochen, die zu lang sind, tuberkulös, von Veränderungen gezeichnet, als hätte ein Borkenkäfer an ihnen genagt.

Arme Menschenschädel in beleuchteten viktorianischen Glaskästen, wo sie die eigenen Zähne demonstrativ blecken. Der eine hat zum Beispiel mitten in der Stirn ein großes Loch, aber schöne Zähne. Man fragt sich, ob dieses Loch tödlich war. Nicht unbedingt. Es gab einmal einen Eisenbahningenieur, dem eine Eisenstange das Gehirn durchbohrte und der trotz dieser Verletzung noch viele Jahre lebte. Diesen Fall machte sich selbstverständlich die Neuropsychologie zunutze und erklärte, der Sitz unseres Seins sei im Gehirn. Der Verletzte starb nicht, veränderte sich aber stark. Er wurde – wie man so sagt – ein anderer. Denn es hängt vom Gehirn ab, wie wir sind, deshalb wollen wir gleich nach links abbiegen, in den Gang mit den Gehirnen. Da sind sie! Cremefarben liegen sie in der Lösung, große und kleine, geniale und solche, die nicht bis zwei zählen konnten.

Weiter hinten liegt das Revier der Föten, der Menschen im Miniaturformat. Kleine Püppchen, Präparatchen, alles im Miniaturformat, so passt ein ganzer Mensch in ein kleines Glas. Die Allerjüngsten, die Embryonen, die man fast nicht sehen kann, sind kleine Fischchen, Fröschchen, die an einem Rosshaar im Formaldehyd hängen. Die Größeren veranschaulichen uns die Ordnung des menschlichen Körpers, in dem alles so wunderbar verpackt ist. Nicht menschgewordene Würmchen, semihominidale Winzlinge, deren Leben nie die magische Grenze des Potentiellen überschritt. Sie haben eine Gestalt, doch in den Geist sind sie noch nicht hineingewachsen – vielleicht ist die Gegenwart des Geistes irgendwie mit der Größe der Gestalt verbunden. In ihnen hat die Materie angefangen, sich in schläfriger Unbeirrbarkeit zu Leben zu fügen, Gewebe anzusammeln, Verbindungen zwischen den Organen herzustellen, ein festes Netz zu bilden, schon hat die Arbeit am Auge begonnen, sich die Lunge vorbereitet, obwohl Licht und Luft weit weg sind.

 

In der nächsten Reihe die gleichen Organe, doch ausgewachsen, glücklich, dass die Umstände ihnen gewogen waren und sie ihre volle Größe erreichen konnten. Ihre Formen? Woher wussten sie, wie groß sie sein sollten, wann sie aufzuhören hatten? Manche wussten es nicht, sie wuchsen und wuchsen, und die braven Professoren hatten Mühe, ein Glas zu finden, das groß genug war. Umso schwerer kann man sich vorstellen, wie sie im Bauch des Mannes Platz fanden, dessen Initialen auf dem Etikett vermerkt sind.

Ein Herz. Sein ganzes Geheimnis ist ein für alle Mal offengelegt: Es ist dieser unförmige Klumpen, faustgroß und schmutzigweiß. Das ist nämlich die Farbe unseres Körpers, grau-cremeweiß, graubraun, hässlich, das darf man nicht vergessen. Weder in unserem Haus noch in unserem Auto würden wir eine solche Farbe sehen wollen. Das ist die Farbe des Inneren, der Dunkelheit, der Orte, wo die Sonne nicht eindringt, wo sich die Materie im Feuchten vor fremden Blicken verbirgt, da muss sie sich nicht mehr zur Schau stellen. Nur mit dem Blut kann sie sich noch Eskapaden leisten. Das Blut soll warnen, sein Rot soll der Alarm sein, dass die Muschel des Körpers sich geöffnet hat, dass die Geschlossenheit des Gewebes unterbrochen ist.

In Wirklichkeit haben wir im Innern gar keine Farbe. Wenn alles Blut aus dem Herzen gespült ist, sieht es genau so aus: wie ein Schleimklumpen.

Sieben Jahre Reisen

Jedes Jahr eine Reise, seit sieben Jahren, seitdem wir geheiratet haben«, erzählte ein junger Mann im Zug. Er trug einen eleganten langen schwarzen Mantel und hatte ein schwarzes Köfferchen bei sich, das aussah wie ein feiner Besteckkasten.

»Wir haben viele Fotos«, erklärte er. »Alle der Reihe nach geordnet. Südfrankreich, Tunesien, Türkei, Italien, Kreta, Kroatien, sogar Skandinavien.« In der Regel schauen sie die Bilder mehrmals an: zuerst mit der Familie, dann bei der Arbeit, dann mit Freunden, und danach liegen die Fotos jahrelang wohlverwahrt in Plastikhüllen, wie Beweisstücke im Schrank eines Detektivs: »Wir sind dort gewesen.«

Er wurde nachdenklich und schaute aus dem Fenster. Draußen entflohen die Landschaften, werweißwohin hastend. Dachte er nicht manchmal darüber nach, was das heißt: »Wir sind gewesen«? Wohin sind die zwei Wochen in Frankreich, die sich heute mit Mühe in ein paar Erinnerungen quetschen lassen: plötzlicher Hunger an der Stadtmauer eines mittelalterlichen Orts und ein Augenblick, eines Abends in einem Lokal, unter einem weinberankten Dach. Was ist von Norwegen übrig geblieben? Nur die Kälte des Wassers in einem See und ein Tag, der nicht zu Ende gehen wollte, und dann noch die Freude über das Bier, das man kurz vor Geschäftsschluss hatte erstehen können, oder der umwerfende erste Blick auf einen Fjord.

»Was ich gesehen habe, das gehört mir«, erklärte der Mann zusammenfassend, dabei lebte er plötzlich auf und schlug sich begeistert auf die Schenkel.

Eine Prophezeiung von Cioran

Ein anderer Mensch, der sanftmütig und schüchtern war, nahm immer ein Buch mit ganz kurzen Texten von Cioran auf seine Dienstreisen mit. Im Hotel hatte er das Buch auf seinem Nachttisch liegen, und gleich nach dem Aufwachen schlug er es auf gut Glück auf, um sein Motto für den neuen Tag zu finden. Seiner Meinung nach sollten die Bibeln in europäischen Hotels schleunigst gegen Cioran ausgetauscht werden. Von Rumänien bis Frankreich. Denn was Prophezeiungen anging, hatte die Bibel ihre Aktualität verloren. Was sollte einem beispielsweise der folgende Vers sagen, wenn man ihn an irgendeinem Freitag im April oder einem Mittwoch im Dezember aufschlagen würde: »Bei allen Geräten der Wohnung zu all ihrem Bedarf, und alle Pflöcke dazu, und alle Pflöcke des Hofes seien von Kupfer«. Wie sollten wir das verstehen? Es müsse übrigens gar nicht unbedingt Cioran sein, erklärte er. Er sah mich herausfordernd an.

»Bitte, schlagen Sie etwas anderes vor«, sagte er.

Mir fiel nichts ein. Da zog er das dünne abgewetzte Büchlein aus seinem Rucksack, schlug es willkürlich irgendwo auf, und sein Gesicht strahlte:

»Statt auf die Gesichter der Vorübergehenden achtzugeben, beobachtete ich ihre Füße – all diese Erregten schrumpften gleichsam zusammen zu dahineilenden Schritten – wohin eilten sie? Und es wurde mir klar, dass unsere Sendung drin besteht, den Staub zu streifen auf der Suche nach einem Geheimnis, dem jeder Ernst abgeht«, las er befriedigt vor.

Kunicki. Wasser I

Es ist Vormittag, die Uhrzeit weiß er nicht genau, er hat nicht auf die Uhr geschaut, aber er wartet höchstens seit einer Viertelstunde – meint er. Er lehnt sich bequem in den Sitz zurück und schließt die Augen. Die Stille ist durchdringend wie ein hoher unablässiger Ton, es ist unmöglich, die Gedanken zu sammeln. Noch weiß er nicht, dass die Stille wie ein Alarm klingt. Er schiebt den Fahrersitz zurück und streckt die Beine aus. Sein Kopf wird schwer, den Körper zieht es hinterher in diese Schwere, er sinkt in die erhitzte weiße Luft. Er wird sich nicht rühren, er wartet.

Sicher raucht er eine Zigarette, vielleicht sogar zwei. Nach ein paar Minuten steigt er aus dem Auto und pinkelt in den Graben. Kein einziges Auto schien in der Zwischenzeit vorbeigekommen zu sein, aber jetzt ist er sich nicht mehr so sicher. Er steigt wieder ins Auto und trinkt Wasser aus der Plastikflasche. Allmählich wird er ungeduldig. Er drückt heftig auf die Hupe, und der ohrenbetäubende Ton lässt eine Zorneswelle aufbrausen, die ihn rasch holt. Mit einem Mal sieht er alles deutlicher: Er macht sich auf, über den Pfad ihnen hinterher und denkt sich unwillkürlich schon die Worte aus, die er gleich sagen wird: »Mensch, was zum Teufel machst du so lange? Was treibst du da?«

Der Olivenhain ist knochentrocken. Das Gras knistert unter den Sohlen. Zwischen den knorrigen Olivenbäumen wachsen wilde Brombeeren: Junge Ranken schieben sich auf den Pfad und greifen nach seinen Füßen. Überall liegt Abfall: Papiertaschentücher, schmutzige Binden, fliegenübersäte menschliche Exkremente. Manche Leute entleeren sich gleich auf dem Weg, machen sich nicht mal die Mühe, ins Gebüsch zu gehen, sogar hier haben sie es eilig.

Kein Wind. Keine Sonne. Der reglose weiße Himmel wirkt wie ein Zelt. Es dampft. Kleine Wassertröpfchen zersprühen in der Luft, überall riecht man das Meer – elektrisch, ozonhaltig, fischig.

Er sieht, dass sich etwas bewegt, aber nicht dort zwischen den Bäumen, sondern auf dem Weg, zwischen seinen Füßen. Ein riesiger schwarzer Käfer krabbelt auf dem Pfad. Einen Augenblick streckt er die Fühler prüfend in die Luft, hält inne, offenbar spürt er die Anwesenheit eines Menschen. Der weiße Himmel spiegelt sich als milchiger Fleck in seinem makellosen Panzer, und Kunicki hat ganz kurz das Gefühl, als schaue ihn ein einzelnes Auge aus der Erde an, das zu keinem Körper gehört, ein frei schweifendes, unbeteiligtes Auge. Kunicki stößt die Spitze seiner Sandale leicht in die Erde. Der Käfer eilt über den Pfad, raschelt im ausgedörrten Gras. Verschwindet im Brombeergebüsch. Sonst nichts.

Fluchend kehrt Kunicki zum Auto zurück, unterwegs hat er noch die Hoffnung, dass sie mit dem Jungen auf irgendeinem Umweg zurückgekommen und schon dort ist, ja er ist ganz sicher, dass das so sein wird. »Stundenlang suche ich nach euch!«, wird er ihnen sagen. »Was zu Teufel habt ihr getrieben?«

Sie sagte: Halt an. Als er anhielt, stieg sie aus und öffnete die hintere Tür. Sie löste den Gurt des Kindersitzes, nahm den Kleinen an die Hand und ging mit ihm davon. Kunicki hatte keine Lust auszusteigen, er war müde und schläfrig, obwohl sie erst ein paar Kilometer gefahren waren. Er sah sie nur aus dem Augenwinkel, ohne darauf zu achten, er wusste nicht, dass er besser genau hätte hinschauen sollen. Jetzt versucht er, sich dieses verschwommene Bild in Erinnerung zu rufen, es scharf zu stellen und näher zu holen, zu halten. Da sieht er sie von hinten, wie sie über den knirschenden Pfad gehen. Sie trägt eine helle Leinenhose, glaubt er, und ein schwarzes T-Shirt, der Kleine ein Trikothemd mit einem Elefanten darauf, das weiß er genau, denn er hat es ihm am Morgen selbst angezogen. Im Gehen reden die beiden miteinander, er hat nicht zugehört, er wusste nicht, dass er besser zugehört hätte. Sie verschwinden zwischen den Olivenbäumen. Er weiß nicht, wie lange das dauert, bestimmt nicht lange. Eine Viertelstunde, vielleicht ein wenig mehr, er vertut sich leicht mit der Zeit, er hat nicht auf die Uhr geschaut. Er wusste nicht, dass er besser auf die Zeit geachtet hätte. Er hasste es, wenn sie ihn fragte: Woran denkst du? An nichts, sagte er dann immer, aber sie glaubte ihm nicht. Man kann nicht nicht denken, sagte sie dann und war beleidigt. Aber klar! Kunicki empfand so etwas wie Genugtuung, er schaffte das – an nichts zu denken. Er kann das.

Doch dann bleibt er plötzlich mitten im Brombeerdickicht stehen, erstarrt, als hätte sein Körper im Bücken nach einem Brombeerstrunk wider Willen einen neuen Mittelpunkt seines Gleichgewichts gefunden. Das Summen der Fliegen und ein Dröhnen im Kopf begleiten die Stille. Einen Augenblick lang sieht er sich selbst von oben: ein Mann in alltäglichen Khakihosen und weißem Hemd, mit einer kleinen Glatze oben auf dem Kopf, der in dem kleinen, niedrigen Dickicht steht, ein Eindringling, ein Gast in einem fremden Haus. Ein dem Beschuss ausgesetzter Mensch, ein Ausgelieferter genau in der Mitte eines vorübergehenden Waffenstillstands in der Schlacht, in die der glühende Himmel und die schrundige Erde verstrickt sind. Angst überfällt ihn, er möchte sich sofort verstecken, im Auto verkriechen, doch sein Körper ignoriert ihn, er kann die Beine nicht rühren, kann sie nicht zwingen, sich in Bewegung zu setzen. Nur einen Schritt tun – er hat das nie für so schwer gehalten, die Übertragungsleitungen sind gerissen. Sein Fuß in der Sandale ist ein Anker, der ihn auf der Erde hält, er steckt fest. Konzentriert, mit Mühe, über sich selbst erstaunt zwingt er ihn zur Bewegung. Anders kann er diesen glühenden grenzenlosen Raum nicht verlassen.

Sie waren am 14. August angekommen. Die Fähre von Split war voll besetzt, ziemlich viele Touristen, aber die meisten waren Einheimische, die auf dem Festland eingekauft hatten, denn dort war es billiger. Auf den Inseln gibt es nicht viel anzubauen. Die Touristen ließen sich leicht erkennen, denn als sich die Sonne anschickte, unweigerlich ins Meer zu versinken, gingen sie alle nach Backbord und richteten ihre Objektive auf sie. Die Fähre passierte langsam die verstreuten Inseln, dann sah es kurze Zeit so aus, als führe sie aufs offene Meer hinaus. Ein unangenehmes Gefühl, einen ganz kurzen, unbedeutenden Augenblick lang machte sich Panik bemerkbar.

Problemlos fanden sie ihre direkt am Meer gelegene Pension namens »Poseidon«. Der Besitzer, der bärtige Branko in einem Hemd mit Muschelmuster, ließ sich gleich beim Vornamen nennen und klopfte Kunicki vertraulich auf die Schulter, während er sie in den ersten Stock des Hauses führte und stolz die Wohnung präsentierte. Sie hatten zwei Schlafzimmer zur Verfügung, eine kleine, traditionell eingerichtete Küchenecke mit Schränken aus laminiertem Pressspan. Aus den Fenstern sah man direkt auf den Strand und das offene Meer. Unter einem Fenster war eine Agave erblüht, die Blüte saß auf dem starken Stängel und reckte sich triumphierend über das Wasser.

Er nimmt eine Karte der Insel hervor und erwägt die Möglichkeiten. Vielleicht hatte sie die Orientierung verloren und war einfach an einer anderen Stelle auf die Fahrstraße gestoßen. Bestimmt steht sie woanders, stoppt vielleicht sogar ein Auto und fährt damit weg – aber wohin? Er sieht auf der Karte, dass die Landstraße auf Vis in einer gewundenen Linie über die ganze Insel führt und dass man darauf die Insel durchqueren kann, ohne einmal ans Meer zu kommen. So hatten sie selbst vor ein paar Tagen eine Tour über Vis gemacht. Er legt die Karte zu ihrer Tasche auf den Beifahrersitz und fährt los. Er fährt langsam, hält zwischen den Olivenbäumen nach ihnen Ausschau. Doch etwa nach einem Kilometer ändert sich die Landschaft, die Olivenhaine weichen steinigem Ödland, das mit trockenem Gras und Brombeergestrüpp bedeckt ist. Die weißen Kalksteinbrocken sind schartig wie Riesenzähne, die irgendein wildes Geschöpf hier verloren hat. Nach einigen Kilometern kehrt er um. Zu seiner Rechten sieht er jetzt verblüffend grüne Weingärten, in denen hier und da kleine Gerätehütten aus Stein stehen – alles leer und düster. Im besten Fall hat sie sich verirrt, vielleicht ist ihr auch schlecht geworden, oder aber dem Kleinen, es ist ja so schwül und heiß. Vielleicht brauchen sie Hilfe, und anstatt etwas zu tun, gondelt er die Landstraße hinauf und hinunter. Ach, wie dumm er ist, das begreift er erst jetzt. Sein Herz schlägt heftiger. Vielleicht hat sie einen Sonnenstich. Oder ein Bein gebrochen.

 

Er geht zurück und hupt ein paarmal. Zwei deutsche Autos kommen vorbei. Er schaut auf die Uhr: Ungefähr anderthalb Stunden sind schon vergangen, das heißt, dass die Fähre schon weg ist. Sie hat die Autos verschluckt, die Tore geschlossen und ist in See gestochen, ein mächtiger weißer Dampfer. Mit jeder Minute liegt ein größerer Streifen gleichgültiges Meer zwischen ihnen und der Fähre. Kunicki hat eine düstere Ahnung, von der ihm der Mund ganz trocken wird, eine Ahnung von etwas, das mit dem Abfall auf dem Pfad zusammenhängt, mit den Fliegen und den menschlichen Exkrementen. Er begreift. Sie sind umgekommen. Beide sind sie verschwunden. Er weiß, dass sie nicht in dem Olivenhain sind, trotzdem läuft er über den ausgedörrten Pfad dorthin und ruft nach ihnen, obwohl er schon gar nicht mehr glaubt, dass sie antworten werden.

Jetzt ist Siesta, die kleine Stadt ist so gut wie ausgestorben. Am Strand gleich neben der Fahrstraße lassen drei Frauen einen hellblauen Drachen steigen. Beim Parken kann er sie genau sehen. Eine von ihnen trägt eine cremefarbene Hose, die ihre dicken Gesäßbacken eng umspannt.

Er findet Branko an einem Tisch in dem kleinen Café. Dort sitzt er mit zwei anderen Männern. Sie trinken Obstler mit Eis, wie Whisky. Branko lächelt überrascht, als er ihn sieht.

»Hast du was vergessen?«, fragt er.

Sie bieten ihm einen Stuhl an, aber er will sich nicht setzen. Er will alles der Reihe nach erzählen, geht zu Englisch über, während er gleichzeitig in einem anderen Teil seines Kopfes nachdenkt, wie man jetzt vorgehen würde, wenn das Ganze ein Film wäre. Er sagt, sie seien verschwunden, Jagoda und der Kleine. Er sagt, wo und wann. Er sagt, dass er sie gesucht hat und sie nicht gefunden hat.

»Habt ihr euch gestritten?«

Fragt Branko.

Er verneint, wahrheitsgemäß. Die beiden Männer trinken von ihrem Obstler. Er hätte auch Lust darauf. Im Mund spürt er den scharf-süßlichen Geschmack. Langsam räumt Branko seine Zigaretten und Streichhölzer vom Tisch. Die beiden anderen stehen auf, widerspenstig, als wollten sie sich vor einem Kampf konzentrieren, vielleicht wollen sie aber auch nur hier im Schatten der Markise sitzen bleiben. Alle wollen zu der Stelle fahren, aber Kunicki beharrt darauf, dass erst die Polizei benachrichtigt werden muss. Branko zögert. Hier und da scheint ein graues Haar durch seinen schwarzen Bart. Auf dem gelben T-Shirt prangt das Bild einer roten Muschel und die Aufschrift »Shell«.

»Vielleicht ist sie ans Meer gegangen?«

Vielleicht. Sie beschließen, dass Branko und Kunicki zurück an die Stelle fahren, die beiden anderen gehen auf die Wache, um in Vis anzurufen. Branko erklärt, dass in Komiża nur ein Polizist stationiert ist, die richtige Wache ist in Vis. Auf dem Tisch lassen sie die Gläser mit den schmelzenden Eiswürfeln zurück.

Kunicki erkennt die kleine Bucht, wo er zuvor gestanden hat, sofort wieder. Ihm scheint es Ewigkeiten her zu sein, die Zeit fließt jetzt anders, sie ist zäh und herb, setzt sich aus Einzelsequenzen zusammen. Hinter den weißen Wolken kommt die Sonne hervor, auf einmal wird es heiß.

»Hup mal!«, sagt Branko, und Kunicki drückt auf die Hupe.

Ein langgezogener klagender Laut ertönt, wie von einem Tier. Er verstummt, zerfällt zu den Miniaturechos der Zikadenklänge.

Sie dringen in den Olivenhain vor, rufen sich hin und wieder etwas zu. Erst am Weingarten treffen sie wieder zusammen, nach kurzer Beratung beschließen sie, auch diesen ganz zu durchkämmen. Sie schreiten die schattigen Reihen ab und rufen nach der verschwundenen Frau: Jagoda! Jagoda! Kunicki wird sich der Bedeutung des Namens bewusst – Beere –, die war ihm ganz entfallen. Plötzlich hat er das Gefühl, an einem uralten, obskuren und grotesken Ritual teilzunehmen. Von den Weinstöcken hängen pralle dunkelviolette Trauben, perverse Ballungen von Brustwarzen, und er irrt in dem belaubten Labyrinth umher und schreit »Jagoda, Jagoda!«. An wen ist das gerichtet? Wen sucht er?

Er muss kurz stehen bleiben, er hat Seitenstechen, krümmt sich zwischen den Weinranken. Er taucht den Kopf in die schattige Kühle, die vom Laub gedämpfte Stimme Brankos verstummt, und Kunicki hört jetzt das Summen der Fliegen – den vertrauten Grundton der Stille.

Hinter diesem Weingarten beginnt der nächste, vom ersten nur durch einen schmalen Pfad getrennt. Sie bleiben stehen, und Branko macht einen Anruf von seinem Mobiltelefon. Er sagt mehrmals die beiden Worte »Zena« und »dijete« – »Frau« und »Kind« –, mehr kann Kunicki nicht verstehen. Die Sonne wird orange, wird groß und aufgedunsen, man kann zusehen, wie sie kraftloser wird. Gleich kann man ihr direkt ins Gesicht sehen. Die Weingärten nehmen jetzt ein tiefes Dunkelgrün an. Zwei menschliche Gestalten stehen ratlos in diesem Meer aus grünen Streifen.

Als es dämmert, haben sich bereits mehrere Autos und ein Männergrüppchen an der Landstraße eingefunden. Kunicki sitzt in einem Auto mit der Aufschrift »Polizei« und beantwortet mit Brankos Hilfe die ihm chaotisch erscheinenden Fragen des dicken, verschwitzten Polizisten. Er spricht in einem einfachen Englisch: »We stopped. She went out with the child. They went right, here.« Er zeigt die Richtung mit der Hand. »I was waiting, let’s say fifteen minutes. Then I decided to go and look for them. I couldn’t find them. I didn’t know what had happened.« Sie geben ihm lauwarmes Mineralwasser, er trinkt gierig. »They are lost.« Kurz darauf sagt er noch einmal: »Lost.« Der Polizist wählt eine Nummer auf dem Handy. »It is impossible to get lost here, my friend«, sagt er zu ihm. Dieses »my friend« kommt Kunicki merkwürdig vor. Dann meldet sich das Walkie-Talkie. Noch eine Stunde vergeht, bis sie in offener Schwarmlinie ins Innere der Insel aufbrechen.

Unterdessen sinkt die Sonne langsam über dem Weingarten, und als sie den Kamm erreichen, sieht man, dass sie schon das Meer berührt. Sie werden unfreiwillige Zeugen ihres theatralischen langen Untergangs. Schließlich schalten sie ihre Taschenlampen an. Es ist schon dunkel, als sie auf den hohen, felsigen Küstenstreifen der Insel kommen, wo zahlreiche Buchten sind. Sie steigen in zwei Buchten hinab, um nachzufragen. In kleinen Steinhäusern wohnen dort etwas exzentrischere Touristen, die keine Hotels mögen und dafür lieber etwas mehr bezahlen, um weder fließendes Wasser noch Strom zu haben. Sie bereiten ihr Essen auf Steinöfen zu, manche haben auch Gasflaschen mitgebracht. Sie fangen Fische, die direkt vom Meer auf den Grill wandern. Nein, niemand hat eine Frau mit einem Kind gesehen. Gleich gibt es bei ihnen Abendessen, Brot, Käse, Oliven und die armen Fische, die sich am Nachmittag noch ihren sorglosen Spielen im Meer hingegeben haben. Immer wieder ruft Branko im Hotel in Komiøa an – Kunicki bittet ihn darum, weil er sich nur vorstellen kann, dass sie sich verirrt hat und schließlich doch auf einem anderen Weg dorthin zurückgelangt. Doch nach jedem Anruf klopft Branko ihm nur wortlos auf die Schulter.