Unrast

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Gegen Mitternacht löst sich die Gruppe der Männer langsam auf. Auch die beiden, die Kunicki am Cafétisch in Komiża gesehen hat, sind dabei. Jetzt erst, beim Abschiednehmen, stellen sie sich vor: Drago und Roman. Zusammen gehen sie zum Auto. Kunicki ist ihnen für ihre Hilfe dankbar, er weiß nicht, wie er es ausdrücken soll, er hat vergessen, was auf Kroatisch »danke« heißt. Wahrscheinlich ein dem Polnischen entfernt ähnelndes Wort. Mit einem bisschen guten Willen müsste man eigentlich eine slawische Verständigungsform entwickeln können, eine Zusammenstellung ähnlicher praktischer slawischer Wörter, die man ohne Grammatik benutzen könnte, anstatt sich einer hölzernen und simplifizierten Version des Englischen zu bedienen.

In der Nacht legt ein Boot an dem Haus an, wo er wohnt. Sie müssen evakuiert werden, es gibt eine Überschwemmung. Das Wasser reicht schon bis zum ersten Stockwerk der Häuser. In der Küche dringt es durch die Fugen zwischen den Kacheln und strömt in warmen Bächen aus den Steckdosen. Die Bücher sind von der Nässe schon aufgequollen. Er öffnet eines und sieht, dass die Buchstaben wie Schminke zerfließen und verschmierte leere Seiten hinterlassen. Es stellt sich heraus, dass alle schon mit dem letzten Transport fortgefahren sind, nur er ist zurückgeblieben.

Im Schlaf hört er Tropfen, die vereinzelt vom Himmel fallen und kurz darauf zu einem heftigen kurzen Wolkenbruch werden.

Benedictus, qui venit

April auf der Autobahn, rote Sonnenstreifen auf dem Asphalt, eine vom Regen wie mit sorgfältig aufgetragenem Zuckerguss überzogene Welt – ein Osterkuchen. Es ist Karfreitag, irgendwo zwischen Belgien und Holland bin ich mit dem Auto unterwegs, ich weiß nicht genau, in welchem Land ich bin, die Grenze ist verschwunden, hat sich verwischt, wird nicht mehr gebraucht. Im Radio wird ein Requiem übertragen. Beim Benedictus leuchten plötzlich entlang der Autobahn die Lampen auf, als wollten sie den mir unfreiwillig übers Radio erteilten Segen wirksam werden lassen.

Eigentlich kann es aber auch nur daran gelegen haben, dass ich nun in Belgien angelangt war, wo man alle Autobahnen reisefreundlich zu beleuchten pflegt.

Panoptikum

Das Panoptikum und die Wunderkammer sind, wie ich einem Museumsführer entnahm, ein etabliertes Paar, das einen Vorläufer der Museen darstellt. Dort zeigte man alle möglichen gesammelten Kuriositäten, die die Eigentümer von ihren Reisen nach nah und fern mitgebracht hatten.

Man sollte nicht vergessen, dass Bentham sein geniales System zur Überwachung von Gefangenen auch als Panoptikum bezeichnete: Er plante eine Anlage, die räumlich so gestaltet war, dass jeder Gefangene jederzeit beobachtet werden konnte.

Kunicki. Wasser II

So groß ist die Insel ja nun auch wieder nicht«, sagt Djudzica am nächsten Morgen zu Branko, als sie ihm einen starken schwarzen Kaffee einschenkt.

Alle wiederholen diese Worte wie ein Mantra. Kunicki versteht, was sie sagen wollen, er weiß ja selbst, dass die Insel so klein ist, dass man nicht darauf verloren gehen kann. Die Insel ist nur zehn Kilometer lang, und es gibt zwei größere Orte darauf: Vis und Komiża. Man kann sie Zentimeter für Zentimeter durchsuchen, wie eine Schublade. Und in bei-den Orten kennen sich alle. Die Nächte sind warm, auf den Feldern wächst der Wein, die Feigen sind fast schon reif. Selbst wenn sie sich verirrt hätten, würde ihnen nichts zustoßen, sie würden weder verhungern noch erfrieren und auch nicht Opfer wilder Tiere werden. Sie würden eine warme Nacht im trockenen, sonnenerhitzten Gras verbringen, unter den Zweigen eines Olivenbaums und beim schläfrigen Rauschen des Meeres. Von keiner Stelle aus sind es mehr als drei, vier Kilometer zur Landstraße. Auf den Feldern stehen Steinhütten, wo die Weinfässer aufbewahrt werden, manchmal sind auch Essen und Kerzen da. Zum Frühstück nehmen sie sich eine Handvoll reife Weintrauben oder bekommen bei den Sommergästen in einer der Buchten eine richtige Mahlzeit.

Sie gehen hinunter zum Hotel, wo schon ein Polizist auf sie wartet, diesmal ist es ein anderer, jüngerer. Einen Augenblick lang hat Kunicki die Hoffnung, dass er gute Nachrichten hat, aber der Polizist fragt nur nach seinem Pass. Alle Angaben schreibt er ganz genau auf, sagt, dass sie jetzt auch auf dem Festland nach den beiden suchen werden, in Split. Und auf den benachbarten Inseln.

»Vielleicht sind sie übergesetzt«, erklärt er.

»Sie hatte kein Geld. No money. Alles ist hier drin.« Kunicki zeigt die Tasche und zieht ihr Portemonnaie heraus, es ist rot und mit kleinen Perlen bestickt. Er öffnet es und hält es dem Polizisten unter die Nase.

Der zuckt mit den Schultern und notiert seine Adresse in Polen.

»Wie alt ist das Kind?«

»Drei«, sagt Kunicki.

Sie fahren über eine Serpentinenstraße an dieselbe Stelle, der Tag verspricht heiß und klar zu werden, erleuchtet wie ein Dia. Am Mittag wird das Bild ganz daraus verschwinden. Kunicki denkt über die Möglichkeit nach, die Insel von oben zu betrachten, aus einem Hubschrauber, sie ist ja fast kahl. Er denkt auch an Erkennungschips, wie sie Vögeln eingesetzt werden, Kranichen und Störchen, aber für Menschen gibt es keine. Alle sollten so einen Chip haben, zu ihrer eigenen Sicherheit. Später könnte man dann alle ihre Bewegungen im Internet verfolgen: Strecken, Begegnungen, Verirrungen. Wie viele könnten vorm Tod gerettet werden! Er sieht einen Computerbildschirm vor sich, darauf bunte Linien, die Menschen bezeichnen, lauter Spuren, Zeichen. Kreise und Ellipsen, Labyrinthe. Vielleicht auch Endlosschleifen, vielleicht missratene Spiralen, die plötzlich abbrechen.

Ein Hund ist da, ein schwarzer Schäferhund, sie halten ihm ihren Pullover vom Rücksitz vor die Nase. Der Hund schnüffelt um das Auto herum, dann schlägt er den Pfad zwischen den Olivenbäumen ein. Kunicki fühlt plötzlich, wie neue Energie in ihm erwacht, gleich wird sich alles aufklären. Sie laufen hinter dem Hund her. Der Schäferhund bleibt an einer Stelle stehen, offenbar haben sie hier ihre Notdurft verrichtet, obwohl man keine Spur davon sieht. Er bleibt stehen, mit sich zufrieden – aber wir sind noch nicht fertig, Hund! Wo sind die Leute, wohin sind sie gegangen? Der Hund versteht nicht, was sie von ihm wollen, aber nach kurzem Zögern bewegt er sich weiter, biegt seitlich ab, Richtung Straße, weg von den Weingärten.

Dann ist sie an der Straße entlang gegangen, denkt Kunicki. Sie muss sich vertan haben. Sie mochte weiter unten an der Straße herausgekommen sein und auf ihn gewartet haben. Aber hatte sie die Hupe nicht gehört? Und dann? Vielleicht hatte jemand sie mitgenommen – doch wohin, da sie ja nicht aufzufinden waren? Jemand. Eine unscharfe, verschwommene breitschultrige Gestalt. Ein schwerer Nacken. Entführung. Hatte er sie geknebelt und in den Kofferraum verfrachtet? Dann hatte er sie mit der Fähre aufs Festland gebracht, und jetzt sind sie schon in Zagreb oder München oder werweißwo. Aber wie konnte er mit zwei bewusstlosen Menschen die Grenze überqueren?

Nun biegt der Hund in eine leere Schlucht ein, die schräg von der Straße abgeht, eine lange steinige Rinne, die läuft er hinab, über das Geröll. Dort fängt ein schmaler, verwilderter alter Weingarten an, darin steht ein kleines, mit rostigem Wellblech gedecktes Steinhäuschen, das an einen Kiosk erinnert. Vor der Tür liegt ein Haufen vertrockneter Traubenpergel, wahrscheinlich zum Verbrennen. Der Hund läuft im Kreis um das Haus, kehrt dann zur Tür zurück. Doch die Tür ist mit einem Vorhängeschloss versperrt, sie schauen alle verdutzt. Der Wind hat Reisig auf die Schwelle geweht, man sieht, dass hier niemand hineingegangen ist. Der Polizist schaut durch die schmutzige Scheibe ins Innere und rüttelt dann an der Scheibe. Er rüttelt immer fester und fester, bis sie nachgibt. Alle schauen hinein, Modergeruch schlägt ihnen entgegen und der Geruch nach Meer, der allgegenwärtige.

Die Walkie-Talkies rauschen, der Hund bekommt zu trinken, dann lässt man ihn wieder an dem Pullover schnüffeln. Jetzt macht er drei Runden um das Haus, kehrt zum Weg zurück, trabt nach kurzem Zögern auf dem Weg weiter, auf ein paar kahle Felsen zu, nur mit einzelnen Grasbüscheln bewachsen. Tief unten am Abhang sieht man das Meer. Dort bleiben alle Sucher stehen, das Gesicht dem Wasser zugewandt.

Der Hund hat die Spur verloren, kehrt zurück, legt sich schließlich mitten auf den Pfad.

»To je zato jer je po noci padala kisa«, sagt jemand auf Kroatisch, und Kunicki versteht genau, dass es um den Regen geht, der in der Nacht gefallen ist.

Branko lädt ihn zu einem späten Mittagessen ein. Die Polizisten bleiben zurück, sie fahren nach Komiża. Sie reden kaum ein Wort. Kunicki kann sich denken, dass Branko nicht weiß, was er sagen soll, dazu noch in einer fremden Sprache, auf Englisch. Nun gut, er braucht nichts zu sagen. In einem Restaurant direkt am Meer bestellen sie gebratenen Fisch. Eigentlich ist es kein Restaurant, es ist die Küche von Brankos Bekannten. Hier sind alle seine Bekannten, sie sehen sich sogar ähnlich, ihre Gesichtszüge sind irgendwie schärfer, die Gesichter wie vom Wind gegerbt, ein Stamm der Seewölfe. Branko schenkt ihm Wein ein, redet ihm zu, er soll trinken. Er selbst leert sein Glas in einem Zug. Er lässt nicht zu, dass Kunicki bezahlt. Branko bekommt einen Anruf.


Details of St. Petersburg (1850)

»They manage to get a helicopter, an airplane. Police«, sagt Branko.

Sie machen einen Plan: In Brankos Boot wollen sie die Küste der Insel abfahren. Kunicki ruft seine Eltern in Polen an, er hört die brüchige Stimme seines Vaters, sagt ihm, sie müssten noch drei Tage bleiben. Er sagt nicht die Wahrheit. Alles ist in Ordnung, sie müssen bloß noch etwas bleiben. Er ruft auch bei der Arbeit an, es gebe ein kleines Problem, er bittet um weitere drei Tage Urlaub. Er weiß nicht, warum er genau »drei Tage« sagt.

 

Er erwartet Branko am Hafen. Branko trägt jetzt ein neues Hemd mit einer roten Muschel darauf, es ist frisch und sauber, offenbar hat er mehrere von der Sorte. Sein kleiner Kutter liegt zwischen anderen vertäuten Booten. In unbeholfenen hellblauen Lettern steht der Name auf der Bootswand: »Neptun«. Kunicki fällt ein, dass die Fähre, mit der sie angekommen waren, »Poseidon« hieß. Dieser Name taucht hier an so vielen Stellen auf: Bars, Läden und Boote heißen Poseidon. Oder Neptun. Diese beiden Namen wirft das Meer wie Muscheln aus. Wie haben sie sich wohl das Copyright bei dieser Gottheit gesichert? Und womit bezahlt?

Sie setzen sich im Kutter zurecht. Eigentlich handelt es sich eher um ein Motorboot mit einer Kabine, die nachlässig aus Holzbrettern zusammengezimmert ist. Dort bewahrt Branko Wasserflaschen auf, leere und volle. In einigen Flaschen ist Wein aus seinem Weingarten, ein guter, starker Weißwein. Branko holt den Motor aus der Kabine und montiert ihn am Heck. Beim dritten Versuch springt er an, jetzt müssen sie sich schreiend verständigen. Der Lärm ist erst unerträglich, aber bald hat sich das Gehirn daran gewöhnt, so wie an dicke Winterkleidung, die den Körper von der Außenwelt abschottet. Nach und nach versinkt der Anblick der immer kleiner werdenden Bucht und des Hafens in dem Lärm. Kunicki erkennt das Haus, in dem sie gewohnt haben, sogar das Küchenfenster und die emporragende Agave, wie ein erstarrtes Feuerwerk, eine triumphale Ejakulation.

Vor seinen Augen schnurrt alles zusammen und verschwimmt: Die Häuser werden zu einer ungleichmäßigen dunklen Linie, der Hafen zu einem chaotischen weißen Fleck mit den kreuz und quer ragenden Masten. Dafür wachsen hinter der Stadt Berge empor, nackte, graue Berge mit den grünen Tupfen der Weinstöcke. Sie wachsen, werden riesig. Im Inland, von der Straße aus, wirkte die Insel klein, jetzt sieht man ihre Wucht, ein zu einem monumentalen Kegel geformter Felsbrocken, eine aus dem Wasser gereckte Faust.

Sie biegen nach links, kommen aus der Bucht aufs offene Meer hinaus, und von hier sieht die Küste der Insel steil und bedrohlich aus.

Die weißen Kämme der an die Felsen brandenden Wellen und die Vögel, die das Auftauchen des Bootes in Unruhe versetzt hat, bringen Bewegung in das Bild. Als sie zur Rückfahrt wieder den Motor anlassen, verschwinden die aufgescheuchten Vögel. Und noch etwas: ein senkrechter Kondensstreifen, der den Himmel in zwei Flächen zerschneidet. Ein Flugzeug fliegt nach Süden.

Es geht los. Branko zündet zwei Zigaretten an, eine gibt er Kunicki. Das Rauchen ist schwierig, unter dem Bug sprüht das Wasser auf und überzieht alles mit kleinen Tröpfchen.

»Guck aufs Wasser«, schreit Branko. »Auf alles, was schwimmt.«

Als sie sich einer Bucht mit einer Höhle nähern, sehen sie einen Hubschrauber, der in die entgegengesetzte Richtung fliegt. Branko stellt sich ins Boot und winkt. Kunicki blickt fast glücklich auf die Maschine. Die Insel ist doch nicht groß, denkt er zum hundertsten Mal, von oben betrachtet wird sich nichts vor den Augen des großen mechanischen Insekts verbergen können, alles liegt offen da wie auf dem Präsentierteller.

»Fahren wir zur Poseidon«, ruft er Branko zu, aber der will nicht so recht.

»Dort gibt es keine Durchfahrt«, schreit er zurück.

Aber der Kutter biegt ab und verlangsamt die Fahrt. Mit abgestelltem Motor treiben sie zwischen den Felsen.

Dieser Teil der Insel müsste auch Poseidon heißen, so wie alles andere, denkt Kunicki. Gott hatte sich hier seine eigenen Kathedralen gebaut mit Haupt- und Nebenschiff, Säulen und Chor. Die Perspektiven sind planlos, der Rhythmus falsch und ungleichmäßig. Die Felsen aus schwarzem Magma glänzen nass, wie mit einem seltenen dunklen Metall überzogen. Jetzt, im Dämmer, sind diese Bauwerke erschütternd traurig, das ist die Quintessenz der Verlassenheit, hier hat noch nie jemand gebetet. Kunicki meint plötzlich, hier die Urform der Kirchen der Menschen zu erblicken. Hierher müsste man reisen, bevor man nach Reims oder Chartres fährt.

Er möchte diese Entdeckung mit Branko teilen, aber der Lärm ist zu groß, man kann kein Wort wechseln. Sie sehen ein anderes größeres Boot mit der Aufschrift »Policie. Split«. Es fährt an der Steilküste entlang. Die Boote fahren aufeinander zu, Branko spricht kurz mit den Polizisten. Keine Spur ist zu entdecken, nichts. Das entnimmt Kunicki jedenfalls, das Knattern der Motoren übertönt das Gespräch. Offenbar verständigen sie sich mit Lippenbewegungen und einem sanften ratlosen Schulterzucken, was nicht zu ihren weißen Polizeihemden mit den Achselklappen passt. Sie geben mit Gebärden zu verstehen, man solle umkehren, gleich würde es dunkel. »Kehrt um!«, diese Worte versteht Kunicki. Branko gibt Gas, es hört sich an wie eine Explosion. Das Wasser bebt, kleine Wellen laufen auseinander, wie ein Schauder.

Als sie sich jetzt der Insel nähern, wirkt alles ganz anders als bei Tag. Zuerst sehen sie das Lichtergefunkel, das mit jedem Moment klarer in einzelne Punkte zerfällt, die Reihen bilden. Sie wachsen im sinkenden Dunkel, treten einzeln und verschiedenartig hervor: Die Lichter der Yachten vor dem Ufer sind anders als die in den Häusern, wieder anders sind die erleuchteten Schilder und die beweglichen Scheinwerfer der Autos. Eine gezähmte Welt, die Sicherheit ausstrahlt.

Schließlich schaltet Branko den Motor aus, und das Boot erreicht das Ufer. Unerwartet scheuert der Bootsboden auf Kies – sie sind auf dem kleinen Strand, des Ortes angekommen, gleich neben dem Hotel und weit vom Hafen. Kunicki ahnt, weshalb. An der Rampe, gleich am Strand, steht ein Polizeiauto, zwei Männer in weißen Hemden warten offensichtlich auf sie.

»Ich glaube, die wollen mit dir reden«, sagt Branko und vertäut das Boot. Kunicki wird plötzlich ganz schwach zumute, er hat Angst vor dem, was er vielleicht gleich hören wird. Dass sie die Leichen gefunden haben. Davor hat er Angst. Mit weichen Knien geht er auf sie zu.

Gott sei Dank – es ist nur ein normales Verhör. Nein, es gibt nichts Neues. Aber inzwischen ist so viel Zeit vergangen, die Angelegenheit ist sehr ernst geworden. Sie bringen ihn über die einzige Straße der Insel nach Vis auf die Wache. Es ist schon stockdunkel, aber offensichtlich kennen sie den Weg gut, sie gehen nicht mal in den Kurven vom Gas. An jener Stelle fahren sie schnell vorbei. Auf der Wache warten weitere Leute auf ihn. Ein Übersetzer – ein großer gutaussehender Mann, den sie extra aus Split hergeholt haben und der offen gestanden sehr wenig Polnisch spricht – und noch ein Polizist. Sie stellen Routinefragen, fast gleichgültig, und ihm wird langsam klar, dass er verdächtigt wird.

Sie bringen ihn bis direkt ans Hotel. Er steigt aus und tut so, als ginge er hinein. Aber er bleibt in dem dunklen Vestibül stehen, bis sie fort sind, bis das Brummen des Motors verklungen ist, dann tritt er wieder hinaus auf die Straße. Er geht auf die nächste Ansammlung von Lichtern zu, in Richtung des Boulevards am Hafen, wo sich die Cafés und Restaurants befinden. Aber es ist schon spät, und obwohl Freitag ist, sind nicht mehr viele unterwegs, es muss schon ein, zwei Uhr nachts sein. Unter den spärlichen Gästen an den Tischen sucht er nach Branko, aber er kann ihn nicht entdecken, das Hemd mit dem Muschelmotiv ist nirgends zu sehen. Italiener sind da, eine ganze Familie, sie sind gerade mit dem Essen fertig, er nimmt auch zwei ältere Leute wahr, die ein Getränk mit dem Strohhalm trinken und die lärmende italienische Familie mustern. Zwei blonde Frauen sitzen einander vertraulich zugeneigt ins Gespräch vertieft, ab und zu berühren sich ihre Schultern. Männer aus dem Ort, Fischer, ein Paar. Welch ein Glück, dass ihn niemand beachtet … Er geht im Schatten direkt am Ufer entlang, spürt den Geruch nach Fisch und den warmen salzigen Hauch des Meeres. Er hat Lust, eine der kleinen Gassen hinaufzugehen, die zu Brankos Haus führen, aber er traut sich nicht, bestimmt schlafen sie schon. Schließlich setzt er sich an einen kleinen Tisch am Rand einer Terrasse. Der Kellner ignoriert ihn.

Er betrachtet die Männer, die auf den Tisch neben ihm zusteuern. Sie setzen sich hin, stellen noch einen Stuhl dazu, sie sind zu fünft. Bevor der Kellner kommt und sie ihre Getränke bestellen, verbindet sie schon ein unsichtbares Einvernehmen.

Sie sind verschiedenen Alters, zwei von ihnen haben dichte Bärte, doch in dem Kreis, den sie unwillkürlich sogleich gebildet haben, verschwinden all diese Unterschiede. Sie reden, aber es ist nicht wichtig, was sie reden, es könnte so aussehen, als schickten sie sich zum gemeinsamen Singen an, als probierten sie ihre Stimmen aus. Lachen erfüllt den Raum im Innern ihres Kreises, Witze, sogar altbekannte, werden erfreut kommentiert, ja sogar gewünscht. Es ist ein tiefes, vibrierendes Lachen, es nimmt den Raum in Beschlag und bringt die Touristen am Nebentisch – plötzlich aufgeschreckte Frauen in mittlerem Alter – zum Schweigen. Es zieht neugierige Blicke auf sich.

Sie bereiten sich ihr Publikum vor. Der Eintritt des Kellners mit dem Tablett voller Getränke wird zur Ouvertüre, der Kellner selbst, ein junger Mann, wird, ohne sich im Geringsten dessen bewusst zu sein, zum Conférencier, der einen Tanz, eine Oper ankündigt. Bei seinem Anblick leben sie auf, eine Hand fährt in die Höhe und zeigt ihm den Platz: hier. Ein Augenblick Stille – und schon wandern die Glasränder zu den Lippen. Der eine oder andere von ihnen – und zwar die Ungeduldigsten – schließt unwillkürlich die Augen wie in der Kirche, wenn der Priester weihevoll die weiße Oblate auf die ausgestreckte Zunge legt. Die Welt ist bereit, umgekrempelt zu werden, nur konventionshalber ist der Boden noch unter den Füßen und die Decke über dem Kopf, der Köper gehört nicht mehr allein sich selbst, sondern ist Teil einer lebendigen Kette, eines lebendigen Kreises. So wie auch jetzt die Gläser wieder zum Mund geführt werden, der Augenblick selbst, in dem sie geleert werden, ist fast unmerklich, es geschieht in blitzartiger Konzentration mit einem kurzzeitigen Ernst. Ab jetzt werden sich die Männer an ihren Gläsern festhalten. Die Körper rings um den Tisch fangen an zu kreisen, die Scheitel werden in der Luft Kreise beschreiben, erst kleinere, dann größere. Sie werden sich überlagern, neue Lücken entstehen lassen. Schließlich werden sich die Hände erheben, zuerst werden sie ihre Kraft in der Luft erproben, in Gesten, die Worte illustrieren, dann werden sie zu den Schultern der Kameraden wandern, zu ihren Armen und Rücken, sie klopfen und stützen. Die Verbrüderung der Hände und Schultern ist keine Zudringlichkeit, es ist ein Tanz.

Kunicki schaut voller Neid zu. Er würde gerne aus dem Schatten kommen und sich ihnen anschließen. Eine solche Intensität kennt er nicht. Ihm steht der Norden näher, wo die Männer in Gemeinschaft zurückhaltender sind. Doch im Süden, wo Sonne und Wein den Körper schneller und ungenierter lösen, wird dieser Tanz ganz real. Nach einer Stunde sinkt der erste Körper rückwärts und fängt sich an der Lehne des Stuhls.

Der Nachtwind schlägt Kunicki wie eine warme Tatze auf den Rücken, schiebt ihn auf die Tische zu, als wollte sie ihn überreden, Geh, los, geh schon. Er würde sich ihnen gerne anschließen, egal wohin sie sich aufmachen. Er will, dass sie ihn mitnehmen.

Auf der unbeleuchteten Seite des Boulevards geht er zurück zum Hotel, dabei achtet er darauf, die Grenze des Dunkels nicht zu überschreiten. Bevor er das enge stickige Treppenhaus betritt, holt er tief Luft und bleibt einen Augenblick lang reglos stehen. Im Dunkeln tasten seine Füße nach den Stufen, so steigt er die Treppe hinauf und lässt sich im Zimmer gleich auf sein Bett fallen. Angezogen liegt er auf dem Bauch, die Arme von sich gestreckt, als hätte ihn jemand in den Rücken geschossen, und er hätte kurz über die Kugel nachgesonnen und wäre dann gestorben.

Nach ein paar Stunden steht er auf, er kann höchstens zwei Stunden gelegen haben, denn es ist noch dunkel, und er tastet sich die Treppe hinunter zu seinem Auto. Die Verriegelung klackt, das Auto blinzelt vertraulich und sehnsüchtig. Kunicki holt das Gepäck heraus, alles, wie es gerade kommt. Er trägt die Koffer die Treppe hinauf, sie in der Küche und im Zimmer auf den Boden fallen. Zwei Koffer und etliche Beutel, Taschen, Körbe, auch den mit dem Reiseproviant, eine Plastiktüte mit einem Satz Taucherflossen, Tauchermasken, einen Sonnenschirm, Strandmatten und die Kiste mit Wein, Ajvar, dieser Paprikapaste, die sie so gerne aßen, und Oliven von der Insel. Er knipst alle Lichter an und sitzt dann mitten in diesem Durcheinander. Er nimmt ihre Tasche und kippt den Inhalt vorsichtig auf den Küchentisch. Er setzt sich hin und betrachtet das Häuflein kläglicher Gegenstände, als wäre es ein kompliziertes Mikadospiel, für das man eine bestimmte Bewegung braucht, um einen Stab so herauszuziehen, dass die anderen sich nicht bewegen. Nach kurzem Zögern nimmt er ihr Rouge und dreht den Deckel ab. Dunkelrot, noch fast neu. Sie benutzte es nicht oft. Er riecht daran. Es duftet gut, schwer zu sagen, wonach. Er fasst Mut, nimmt jeden Gegenstand in die Hand und legt ihn einzeln auf den Tisch. Der Pass im blauen Umschlag, auf dem Bild ist sie wesentlich jünger, trägt die langen Haare offen, mit einem Pony. Die Unterschrift auf der letzten Seite ist verwischt, deshalb wird sie an Grenzen oft angehalten. Ein schwarzes mit einem Gummi zusammengehaltenes Notizbuch. Er schlägt es auf und blättert darin, ein paar Notizen, die Zeichnung von einer Jacke, eine Zahlenkolonne, die Karte von einem Bistro in Polanica mit einer Telefonnummer auf der Rückseite, ein Büschelchen dunkle Haare, eigentlich nicht mal ein Büschel, nur ein paar Dutzend einzelne Haare. Das legt er beiseite, er wird es später genauer anschauen. Ein Schminktäschchen aus indischem Stoff, darin ein dunkelgrüner Augenstift, eine Puderdose (fast ohne Puder), grüne Wimperntusche in einer Hülse, ein Brauenstift aus Plastik, Lipgloss, eine Pinzette, ein schwarz angelaufenes gerissenes Kettchen. Er findet noch ein Billett für das Museum in Trogir, auf der Rückseite steht etwas, ein Fremdwort; er hält das Stück Karton dicht vor die Augen und liest mit Mühe: καιρος, wohl K-A-I-R-O-S, aber er ist sich nicht sicher, das Wort sagt ihm nichts. Am Boden des Täschchens lauter Sand.

 

Das Mobiltelefon: Der Akku ist fast leer. Er prüft die letzten gewählten Nummern, vor allem seine eigene Nummer erscheint, aber auch zwei, drei andere, mit denen er nichts verbindet. Eingegangene Nachrichten: nur eine, die hat er geschickt, als sie sich in Trogir verloren hatten: »Ich bin am Brunnen auf dem Hauptplatz.« Verschickte Nachrichten: keine. Er kehrt zum Hauptmenü zurück, auf dem Bildschirm leuchtet kurz ein Muster auf und erlischt.

Ein angebrochenes Päckchen Papiertaschentücher. Ein Bleistift, zwei Kugelschreiber: der eine ein gelber Wegwerfstift, der andere mit der Aufschrift »Hotel Mercure«. Kleingeld, Groschen und Eurocent. Das Portemonnaie, darin ein paar kroatische Banknoten, zehn polnische Zloty. Eine Visakarte. Ein oranges Zettelblöckchen, etwas angeschmutzt. Eine Anstecknadel aus Kupfer mit antikem Muster, sie sieht kaputt aus. Zwei Bonbons. Eine Digitalkamera in schwarzem Etui. Ein Nagel. Eine weiße Klammer. Ein Kaugummistaniol. Krümel. Sand.

Alles breitet er vorsichtig auf der mattschwarzen Tischfläche aus, alle Gegenstände im gleichen Abstand voneinander. Er geht zum Wasserhahn, trinkt Wasser. Kehrt zurück zum Tisch und zündet sich eine Zigarette an. Dann macht er sich daran, mit ihrem Apparat zu fotografieren. Jeden Gegenstand einzeln. Er fotografiert langsam, mit Hingabe, aus geringstmöglicher Distanz, mit Blitz. Er bedauert nur, dass er sich mit dem kleinen Apparat nicht selbst fotografieren kann. Er ist auch ein Beweisstück in diesem Fall. Dann geht er in den Flur, wo die Taschen und Koffer stehen, knipst von jedem Gegenstand ein Bild. Doch dabei lässt er es nicht bewenden, er packt die Koffer aus und fotografiert jedes Kleidungsstück, jedes Paar Schuhe, jede Cremetube, jedes Buch. Die Spielsachen des Kleinen. Er schüttelt sogar die Schmutzwäsche aus der Plastiktüte und macht ein Foto von dem unförmigen Haufen.

Er findet eine kleine Flasche Rakija und trinkt sie, den Fotoapparat in der Hand, auf einen Zug aus, dann macht er ein Bild von der leeren Flasche.

Es ist schon hell, als er sich mit dem Auto in Richtung Vis aufmacht. Er hat die vertrockneten Brote dabei, die sie für die Reise zurechtgemacht hatte. In der Hitze war die Butter geschmolzen, hatte die Brotscheiben mit glänzendem Fett getränkt, der Schnittkäse ist hart geworden und halb durchsichtig wie Plastik. Er isst zwei Brote bei der Ausfahrt aus Komiża, die Hände wischt er an der Hose ab. Er fährt langsam und vorsichtig, schaut rechts und links, achtet auf alles, an dem er vorbeifährt, er ist sich bewusst, dass er Alkohol im Blut hat. Aber er fühlt sich stark und zuverlässig wie eine Maschine. Er schaut sich nicht um, obwohl er weiß, dass dort, in seinem Rücken, das Meer immer größer wird. Die Luft ist so klar, dass man vom höchsten Punkt sicher bis zur italienischen Küste sehen kann. Vorläufig hält er sich an die Buchten und schaut sich jede Kleinigkeit genau an, jedes Papierchen, jedes Stück Abfall. Er hat auch Brankos Fernglas mit, damit mustert er die Küstenfelsen. Er sieht die steinigen Hänge, auf denen strohig verdorrtes, grau gewordenes Gras wächst, er sieht die unverwüstlichen Disteln, von der Sonne dunkel verfärbt, die sich mit ihren langen Trieben krampfhaft festklammern. Die mickrigen verwilderten Olivenbäume mit ihren gewundenen Stämmen, die Steinmauern, die von aufgegebenen Weingärten noch übrig geblieben sind.

Etwa eine Stunde fährt er nach Vis hinab. Er fährt langsam wie eine Polizeistreife, an dem kleinen Supermarkt vorbei, wo sie eingekauft haben, vor allem Wein, und bald ist er in der Stadt.

Die Fähre liegt schon am Hafen vertäut. Sie ist riesig, groß wie ein Mietshaus, ein schwimmender Wohnblock. Die »Poseidon«. Die großen Tore sind geöffnet, eine Reihe Autos mit verschlafenen Passagieren stehen schon Schlange, um in diese gähnende Höhle zu fahren, gleich werden sie eingelassen. Kunicki bleibt an der Barriere stehen und betrachtet die Gruppe von Leuten, die Fahrkarten kaufen. Einige haben Rucksäcke dabei, darunter auch ein schönes Mädchen mit einem bunten Turban auf dem Kopf. Er schaut sie an und kann den Blick nicht von ihr losreißen. Neben dem Mädchen steht ein großer, skandinavisch-gutaussehender Junge. Frauen mit Kindern stehen dort, wahrscheinlich Einheimische, sie haben kein Gepäck, ein Mann im Anzug und mit Aktentasche. Ein Paar – die Frau hat die Augen geschlossen und den Kopf an seine Brust gelehnt, als wollte sie versäumten Schlaf einer zu kurzen Nacht nachholen. Und ein paar Autos: eines mit deutscher Nummer, das bis unters Dach beladen ist, zwei italienische. Und Lieferwagen vom Ort, die Brot, Gemüse, Post holen. Die Insel muss leben. Kunicki wirft verstohlene Blicke in die Autos.

Schließlich setzt sich die Schlange in Bewegung, die Fähre verschluckt Menschen und Autos, niemand protestiert, sie gehen hinein wie die Lämmer. Eine Gruppe von fünf französischen Motorradfahrern kommt an, sie sind die Letzten, die gehorsam im Schlund der Poseidon verschwinden.

Kunicki wartet, bis sich die Tore mit mechanischem Knirschen schließen. Der Fahrscheinverkäufer knallt sein Fenster zu und kommt heraus, um eine Zigarette zu rauchen. Sie sind beide Zeugen, wie die Fähre mit plötzlichem Getöse vom Ufer ablegt.

Er sagt, er suche eine Frau und ein Kind, zieht ihren Pass aus der Tasche und hält ihn dem anderen unter die Nase.

Der Fahrscheinverkäufer blickt auf das Bild im Pass, er beugt sich darüber. Dann sagt er etwas auf Kroatisch, das sich ungefähr anhört wie:

»Die Polizei hat schon nach ihr gefragt. Hier hat sie keiner gesehen.« Er zieht an seiner Zigarette und setzt hinzu: »Das ist ja keine große Insel, man würde sich an sie erinnern.«