Buch lesen: «Terra Aluvis Vol. 1»

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Terra Aluvis

I

Nox Laurentius Murawski

alias Van Syl Production

2. Auflage

Copyright: © 2015 Nox Laurentius Murawski

alias Van Syl Production

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-0198-9


Legende:

1 – Eksaph

2 – die Prinzresidenz

3 – Tyurin

4 – Rafalgar

5 – Breys Pferdehof

6 – Kanfar

Schatten ferner Zeiten

Sie weinen …

Nur der Mond lauscht den Tränen jener

Die zwischen Leben und Tod wanken

~Prolog~

"Mein Freund,

Die Welt hat sich gewandelt …

Die Menschen, die sie bevölkern, sind in Angst und Schrecken versetzt, während ihre Zahl auf unerklärliche Art und Weise von Nacht zu Nacht schrumpft. Sie verschwinden einfach und kehren nicht zurück.

Die Jeremiaden der Verbliebenen gelten den Tieren, denen sie die Schuld geben. Als Opfer außer Kontrolle geratener Verzweiflung werden sie erbarmungslos gejagt und ihres Lebens beraubt. Die Wölfe als 'Inkarnation des Bösen' seien die Ursache von allem, was geschehen ist.

Mit dieser Illusion haben die Menschen Schilde um ihre Städte errichtet, um sich vor jeglichen Tieren abzuschotten …

– Nur mit dem kleinen Fehler, dass ihr Feind kein Tier ist."

(Alran der Weise)

~1~

Die Nebelschleier hingen schwer vor dem Antlitz des Himmels und erlaubten ihm nicht, sein Sternenlicht zur Erde zu tragen. Kein Wind regte sich in dieser Nacht, ja, die Luft schien fast zu stehen, wenngleich einem die Kälte im Tal des Eksaph einen Schauer nach dem anderen über den Rücken zu jagen vermochte.

Die kleine Siedlung, welche zu jener Nacht nicht mehr als hundert Seelen zählte, war ungewöhnlich weit abseits von der Hauptstadt der Menschen Hymaetica Aluvis gelegen; denn Hymaetica befand sich an der Küste zum Ozean der Träume, um welche sich die anderen Dörfer und Städte angesiedelt hatten. Eksaph hingegen lag tief in der Wildnis des Gebirges des Grauens verborgen und war nur sehr schwer zu erreichen. Und doch hatte diese Kleinstadt, wie alle größeren Menschensiedlungen, diesen einen kleinen Schutz: die Schilde der Wissenden – so unbedeutend, so wertlos gegen das, wogegen sie sich zu schützen erhofften …

Während dieser mondlosen Nacht inmitten dieser verlorenen Berggegend, ja, ausgerechnet zu diesem abgelegenen Ort – geprägt durch einsame Adler, deren verzweifelter Ruf von den kahlen Gipfeln widerhallte – waren sie gekommen.

Sie, denen die verfluchten Schatten gehorchten. Sie, die sich zu Herren über das Schicksal gemacht hatten. Sie, welche die Verdammnis mit sich brachten.

Celine blickte gedankenverloren an die dunkle Decke ihrer Kammer. Vor ihrem inneren Auge sah sie Lewyn gegen das Licht der Sonne vom Pferd zu ihr herab lächeln. Dabei erklärte er ihr, dass er einen Brief an den Prinzen zu überbringen hatte und in einer Woche zurückkehren würde. In einer Woche also …

Danach war der junge Mann zügig auf seinem Pferd davon­geritten und zu einer verschwommenen Silhouette am Horizont geworden – auf dem Weg zu Sacris Faryen, dem Prinzen der Menschen und zugleich Lewyns und Celines bestem Freund.

Das Mädchen musste unweigerlich schmunzeln, als sie sich daran entsann, wie sie alle noch vor wenigen Jahren zu dritt herumgetollt hatten … Ach, es waren schöne Erinnerungen …! Voll Leichtigkeit und Unbefangenheit …

Seitdem Celine im Alter von neun Jahren von Lewyns Eltern aufgenommen worden war, hatte sie viel Zeit mit den beiden verbracht, obwohl jeder letztlich seinen ganz eigenen Weg gegangen war. Sie selbst setzte die Tätigkeit ihrer verstor­­benen Mutter als Heilkundige des Dorfes fort, half den Menschen, wo sie nur konnte, und fand darin ihre Erfüllung. Sacris dagegen wurde in der Hauptstadt Hymaetica gelehrt, eines Tages als König das Reich der Menschen zu regieren. Und Lewyn lebte als Knappe an der Seite eines großen Kriegsveteranen – und zugleich Sacris' Schwertlehrers – und reiste im Reich umher, um die Aufträge seines Herrn auszuführen. Kurz: eine Medica, ein Kronprinz und ein Knappe …

Die jungen Männer waren für Celine immer wie Brüder gewesen und hatten sich stets um sie gekümmert. In der vergangenen Zeit hatten sie sich allerdings seltener gesehen – zu eingenommen war ein jeder von seinem Leben gewesen. Doch hatte Celine sich nie allein gefühlt; denn die Bewohner Eksaphs liebten und respek­tierten sie für das, was sie tat, und waren dankbar für ihre Hilfe und Mühe. Vielen von ihnen hatte sie bereits das Leben gerettet und würde gewisslich noch vielen weiteren Menschen das Leben retten.

Die junge Frau lächelte zufrieden. Sie hatte wirklich keinen Grund, sich zu beschweren. Es ging ihr gut, wirklich gut … Sie kuschelte sich in die weichen Kissen ihres Bettes, schloss glücklich die Augen und verfiel bereits nach kürzester Zeit in einen tiefen Schlummer …

Im Traum erschien Celine dann jedoch eine eigenartige, fremde Gestalt: eine junge Frau. Sie war zierlich gebaut und besaß ein prächtiges, weißes Kleid, das dennoch zerschlissen wirkte. Ihre blassen Wangen waren von bitteren Tränen benetzt, während ihr langes, seidig hellblondes Haar vom Wind in alle Richtungen geweht wurde. Leises Schluchzen ließ ihre Schultern beben und sie legte sich die fahlen Hände voll Kummer ins Gesicht.

Celine sah sie sprachlos an. "Mutter …", kam es über ihre Lippen, doch klang ihre Stimme viel zu hell, viel zu hoch – eine Stimme, die sie, wenn überhaupt, dann wohl vor vielen Jahren gehabt haben musste. Die Gestalt wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, ehe der Wind drehte und dafür sorgte, dass das lange Haar das halbe Gesicht verdeckte. Die schlanke Frau wurde plötzlich ganz ruhig, hob ihren Kopf zu Celine hin und hauchte: "Es tut mir so leid …"

Das Mädchen begriff nicht. Sie setzte zu einer Frage an, nur wollten sich ihre Lippen nicht öffnen! So wandte sich ihr Gegenüber langsam ab und schritt davon. "… tut mir leid …", drang es noch leiser als zuvor an ihre Ohren.

Celine wollte der Frau folgen, zu ihr aufschließen, sie fragen, wovon sie sprach, sie fragen, was das zu bedeuten hatte! – aber ihr Leib gehorchte ihr nicht und fesselte sie an Ort und Stelle. "… so leid …", hallten die Worte wie ein Schatten in ihrem Geiste wider, während die Gestalt zum Licht ging, das kleine Mädchen verloren am Boden in der Dunkelheit zurücklassend …

– Celine schrak schwer atmend auf. Sie bekam kaum Luft und hatte das Gefühl, vergebens darum zu ringen. Also erhob sie sich von ihrem Bett, lief durch das dunkle Zimmer zum Fenster hin und riss es mit einem kräftigen Ruck auf. Ein mächtiger Windzug fuhr durch die Kammer und wirbelte den großen Stapel Karten vom Tisch herab, welcher sich unter dem Fenster befunden hatte. Celine bemerkte es aber nicht und schloss befreit die Augen, um die frische Luft in tiefen Zügen einzuatmen …

Doch bereits nach wenigen Momenten hatte sich die Brise völlig gelegt. Stattdessen kroch der Nebel der Nacht leise verhängnisvoll in das Zimmer hinein und legte sich als träge Woge in die Lungen des Mädchens. Celine drehte sich nun vom Fenster weg und sah die Karten auf dem Boden liegen. "Meine … Seherkarten …", kam es zögernd von ihr, während sie begann, diese langsam wieder aufzusammeln.

Celine besaß die seltene Gabe, in des Schicksals Fäden hineinspähen zu können. Sie wurde regelmäßig von Visionen und Träumen heimgesucht; ein Schicksalsblick skurriler als der andere. Die Seherkarten verhalfen ihr dazu, den Sinn jener fremdartigen Botschaften zu enträtseln – so hoffte sie zumindest.

Mit einem Mal hielt die junge Frau inne. Ihr starrer Blick war auf eine einzelne Karte gerichtet: die einzige, welche auf­gedeckt zu Boden gefallen war. Celine griff zögernd nach ihr, besah sich das abgebildete Motiv … und legte ihre Stirn in Falten. Was … hatte das zu bedeut- …?

Celine zuckte jäh zusammen, als sie ein kaum hörbares Rascheln vernahm – und ließ die aufgedeckte Seherkarte wieder auf das Holz zu ihren Füßen fallen. Sämtliche Kerzen erloschen mit einem kurzen Zischen, dass es plötzlich vollkommen düster im Zimmer war.

Totenstille.

Nervös lauschend richtete sich die junge Frau auf und strich sich ihr langes, rotbraunes Haar aus dem Gesicht. Sie fühlte sich unangenehm aufgewühlt und vor allem angespannt. Eine ungute Ahnung beschlich sie …

Da, wieder dieses Rascheln! Und da, da war es wieder! Wo kam es nur her? Mit huschendem Blick versuchte Celine, etwas in der unheilvollen Finsternis ihrer Wohnung zu erspähen, und ihre Hand klammerte sich verkrampft an die Tischecke, auf welcher sich der Kartenstapel befand. Dort, wieder ein Rascheln! Aber diesmal gleich mehrere! Und- …!

Ihre geweiteten Augen blieben an einem pechschwarzen Schattenumriss in der Mitte des Zimmers hängen, welcher immer größer und größer wurde. Nun erkannte das Mädchen eine menschliche Gestalt – und obwohl diese vollständig in einen schwarzen Talar gehüllt war, so spürte Celine dennoch ihre immer deutlicher werdende Ausstrahlung: eine Präsenz tiefster Dunkelheit, welche jede einzelne Zelle ihres Körpers alarmierend aufschreien ließ, sofort die Flucht zu ergreifen! Was war das nur für eine Furcht, die sie übermannte? Und warum konnte sie sich nicht rühren?!

Die junge Frau fühlte sich in einen Bann gezogen und war nicht in der Lage, ihren Blick von der immer näher kommenden Gestalt abzuwenden. Flach atmend wich sie zurück, bis sie das Fensterbrett im Rücken spürte. Wie aus weiter Ferne hörte Celine von der Straße hinter sich weiteres Rascheln. Eine Flucht war unmöglich. Und der vermummte Fremde im Raum vor ihr schloss ruhig und unaufhaltsam zu ihr auf und ließ sich damit alle Zeit der Welt – denn es gab kein Entrinnen.

Das war der Moment, wo Celine endgültig in Panik verfiel.

"W-was … was wollt ihr …?", kam es verzweifelt, fast wimmernd von ihr, "W-wer seid ihr …?" Der geheimnisvolle Gewandete verwehrte ihr jedoch jedwede Erklärung und blieb schweigend weniger als einen Schritt von ihr entfernt stehen. Keuchend fasste sich das Mädchen an die Brust, da sie plötzlich das er­stickende Gefühl hatte, als hätte sich eine Schlange um ihren Körper gewunden. "W-w- …" Ihre Worte blieben ihr im Hals stecken. Mit aller Kraft stützte sich Celine auf dem Tisch und dem Fensterbrett zugleich ab, so fürchtete sie, dass ihre Beine ihr jeden Moment den Dienst versagen würden.

Ein Schmunzeln.

Celine zuckte zusammen. Was war das gerade unter der Kapuze gewesen? Ein unkontrolliertes Zittern fuhr durch ihren ganzen Leib und mit einem Mal fühlten sich ihre Gliedmaßen so an, als wären sie von tausend feinsten Nadeln durchdrungen. "W-w- …!" Das Mädchen schnappte verstört nach Luft und griff sich an den Hals. Ihre Kehle brannte wie loderndes Feuer. Sie spürte ihre Zunge nicht mehr! W-warum nur …?!

Das Schmunzeln wich einem Grinsen.

Der verhüllte Fremde ließ eine blasse Hand unter dem rabenschwarzen Gewand zum Vorschein kommen und hielt einen langen Zeigefinger an die Stirn der jungen Frau, berührte sie jedoch nicht. Ein heißer Wirbel begann, sich von ihrem Kopf aus in den Rest ihres Körpers auszubreiten, und die stechenden Nadeln wichen einer versengenden Hitzeglut. Celine erschauderte wie im Fieberwahn und wankte, ehe sie sämtliches Gefühl in ihren Gliedern verlor. 'Du wirst uns jetzt folgen', vernahm sie schleichendem Gift gleich wispernde Worte in ihrem Geist, welcher sich daraufhin in tödlichen Qualen wand und ihr einen Schmerzensschrei entlockte. Der Schrei verließ nie ihre Lippen.

***

"Welch herrliches Wetter, findest du nicht auch, Sacris?", rief Lewyn lachend und lief in die leuchtend grüne Wiese hinein, wobei seine Hände durch die hohen Grasspitzen kämmten. Sein hüftlanges, hellblondes Haar schillerte im ungetrübten Sonnenlicht, während seine saphirfarbenen Augen mit dem Himmel um das reinere Blau rangen. Ein beiges Schnürgewand umflatterte seinen schlanken Körper und fügte sich fließend in die Bewegungen des leichten Windes ein.

Sacris musste unwillkürlich lächeln, als er seinen Freund so munter sah. Ja, das machte ihn aus … Wenn Lewyn lachte, glich er selbst einer strahlenden Sonne, die ihre Umgebung mit ihrem warmen Licht erhellte. Der junge Mann strich sich eine Strähne seines dunklen, handlangen Haares aus dem Gesicht und schritt auf sein Gegenüber zu. Er selbst trug ein weißes, nur zur Hälfte zugeknöpftes Leinenhemd – wodurch ein einfacher Anhänger auf der Brust zum Vorschein kam – und eine bequeme, dunkelbraune Schnürhose. In der Nähe seines Freundes blieb der Prinz schließlich stehen, stemmte die Hände in die Seiten und blickte grinsend zum klaren Himmel hinauf. "Tja, wie könnte es denn auch anders sein, wo wir doch heute unseren Ausflug zu den Nayayami Wasserfällen machen werden?"

Bei der Erwähnung des Ausfluges wurde sein Gefährte von einer derart, ja, kindlichen Begeisterung ergriffen, worauf in diesem Moment vermutlich niemandem in den Sinn gekommen wäre, dass Lewyn bereits neunzehn Sommer zählte. "Und da sollten wir die Pferde auch nicht länger warten lassen …!", lachte der Blonde heiter und schlug dem dunkelhaarigen Mann verspielt gegen die kräftige Schulter, "Na los, brechen wir auf!" Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte fröhlich die Wiese zur Prinzresidenz zurück. "Und beeil dich, Sacris, sonst bist du wieder Letzter!" Jener schüttelte den Kopf und folgte seinem Gefährten lachend.

Die Prinzresidenz befand sich einen guten Tagesritt nördlich von Hymaetica jenseits der Gebirgsarme, die den Tical umgaben. Sie lag weithin abgegrenzt und eher unscheinbar in einer wunderbaren Seenlandschaft an der Grenze zu den Auen der Tausend Seen und den Bergen. So prunkvoll der Name auch klang, bezeichnete er jedoch nur ein verhältnismäßig schlichtes Haus, das auch nicht unbedingt mehr als das Nötigste zu bieten hatte: einen größeren Wohnraum mit einem Schlafplatz, eine Kochstelle mit einer kleinen Vorratskammer, etwas, das an ein Bad erinnern mochte, und eine kleine, private Bibliothek mit einem gemüt­lichen Kamin. In dieses Stübchen zog sich der Prinz zurück, wenn er seinen Studien nachgehen oder in Stille lesen wollte. Vom Bad pflegte Sacris in der Regel kaum Gebrauch zu machen, denn das Wasser der Seen war kristallklar und quellfrisch. Zusätzlich zu allem anderen hatte er sich eine Art Pavillon errichten lassen, welcher ihm eine wunderbare Möglichkeit bot, seine Gedanken zum Abend hin einfach nur schweifen zu lassen – so ganz am Ende einer schmalen Landzunge in den See hinein errichtet, mochte manch einer zuweilen meinen, ganz umringt von Wasser zu sein …

Somit glich die Prinzresidenz mehr einer Zuflucht vor dem Alltag denn etwas anderem. Lewyn hatte seinen Freund einst gefragt, warum sich jener als eigenen Wohnsitz etwas derart Bescheidenes ausgesucht hatte, wo er sich doch als Prinz hätte einen halben Palast erbauen lassen können …! Daraufhin hatte Sacris lediglich gelächelt und erklärt, er habe genau das gewählt, was für sein eigenes Gleichgewicht von Bedeutung gewesen wäre.

"Dieses Mal nehmen wir aber bitte wieder unseren normalen Weg", sagte der Blonde, während sie mit ge­schulterten Rucksäcken das Haus verließen. "Ach, was hast du denn gegen unsere letzte Route gehabt?", grinste der Prinz daraufhin und schloss die Holztür hinter ihnen, "War dir die große Felsbrücke etwa zu viel gewesen?" Da sah ihn Lewyn ernst und kopfschüttelnd an und meinte: "Ich habe nichts gegen Felsbrücken an sich; aber wenn sie mehrere hundert Schritt lang sind und über eine verflucht tiefe Schlucht führen, während in der Breite kaum Platz für zwei Pferde ist – dann ja!", und er setzte seinen Weg über die Wiese zu ihren weidenden Reittieren fort.

Sacris lachte und holte zu ihm auf. "Dadurch haben wir aber nun mal gut ein Fünftel an Weg gespart und waren so auch viel früher bei den Wasserfällen – abgesehen davon war die Aussicht von dort oben ja wohl wirklich genial!" Doch sein Freund schüttelte abermals heftig den Kopf und winkte dabei vernichtend mit einer Hand ab. "Oh, geh mir bloß weg mit deiner verdammten Aussicht!" Und er ahmte plötzlich die überaus begeisterte Stimme des Prinzen nach: "'Ach, komm schon Lewyn, die Aussicht dort ist bestimmt klasse! Lass uns dort hinüber reiten! Na komm schon, Lewyn! Du wirst es bestimmt nicht bereuen!'"

Sacris grinste daraufhin schelmisch, beugte sich seitlich zu seinem langhaarigen Gefährten hin und zog ihn mit singender Stimme auf: "Du hast doch einfach nur Hö~hen~angst, gib's zu~hu!" – "Tseh!", gab Lewyn prompt zur Antwort und wandte seinen Kopf dabei überheblich von ihm ab, "Ich bin lediglich überlebensorientiert. Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber ich möchte gerne noch einige Jahre am Leben bleiben." Das Grinsen des Prinzen wurde breiter, als er beteuerte: "Aber ich weiß gar nicht, was du hast …! Es ist doch gar nichts passiert! Ich meine: Du lebst, ich lebe, Lydia lebt, Concurius lebt. Was willst du mehr?" Infolgedessen wandte sich ihm Lewyn gereizt zu und ergänzte bestimmt: "Aber meine Nerven leben danach nun mal nicht mehr!" – "Oooh, deine Nerven …!", wiederholte der dunkelhaarige Mann daraufhin übertrieben mitleidig und sah ihn aus großen, mit Wimpern klimpernden, dunkelbraunen Augen an. "Vergiss es!", schüttelte der Blonde entschlossen den Kopf, "Mich kriegst du dort nicht nochmal rüber!"

Da schlug Sacris spontan vor: "Nun, wir könnten dir auch einfach die Augen verbinden; dann siehst du den Abgrund nicht mehr. Lydia bringt dich vollkommen sicher hinüber, auch ohne deine Hilfe." – "Ja, davon bin ich überzeugt", murrte Lewyn missmutig und stapfte finster vor sich hin. Auf diese Reaktion hin fügte der Prinz mit einem provozierenden Grinsen hinzu: "Oder vielleicht gerade ohne deine Hilfe?" – "Oargh!", empörte sich der Blonde augenblicklich, verengte die Augen zu Schlitzen und fauchte ihn wild an, "Jetzt reicht's aber! Ich verbinde dir auch gleich deine Augen – und deine Arme und Beine noch dazu! – und werfe dich danach am besten hier in den See! Und dann werden wir ja sehen, wer ohne wessen Hilfe klarkommt!" Sacris lachte darauf nur und entgegnete: "Achja? Dazu müsstest du mich überhaupt erst einmal zu fassen kriegen!" Und er machte einen flinken Satz zur Seite, als Lewyn sogleich nach ihm griff.

Da ließen beide Männer plötzlich ihre Rucksäcke ins Gras fallen und lieferten sich eine erbitterte Verfolgungsjagd. "Ich kriege dich noch, du elender Idiot!", knurrte der Blonde, während sein dunkelhaariger Gefährte laut lachend vor ihm davonrannte. "Na los, komm doch! Komm doch!", rief Sacris neckend hinter sich, "Mensch, bist du langsam, Lewyn! Wirst du etwa schon alt?" Als sein Freund daraufhin abermals knurrte und einen Zahn zulegte, lachte der Prinz – einfach herrlich amüsiert! – noch lauter los und wurde ebenfalls schneller.

Sie hatten den Rand des Sees bei der Prinzresidenz erreicht und preschten nun durch das hohe Ufergras. Sacris blickte dabei immer wieder grinsend hinter sich und ließ seinen Gefährten ganz kontrolliert fast an sich herankommen, ehe er ihm erneut davonrannte – und ihm anschließend wiederholt eine vermeintliche Chance gab, ihn einzuholen.

"Argh, jetz- …!", begann Lewyn, rutschte dann aber unerwartet am schlammigen Boden aus, stolperte dadurch zur Seite ins Schilf weg und … landete geräuschvoll im tiefen See. Als der Blonde kurz darauf wieder gurgelnd an die Wasseroberfläche kam – und mit den Armen rudernd seine langen, nassen Haare nach hinten strich, um Luft zu bekommen – hockte der Prinz bereits am Ufer und sah ihn besorgt an. "Hey, Lewyn", fragte jener ernst nach, "Alles in Ord- …?" Da fühle Sacris jäh eine Hand an seinem Unterarm und fiel kurz darauf ebenfalls ins kalte Gewässer. Als er daraufhin auftauchte und das Wasser aus seinen Lungen heraus hustete, blickte ihn sein Freund mit einem triumphierenden Grinsen an. "Was-", doch dann stellte der dunkelhaarige Mann fest, dass er ihn an seinem Anhänger festhielt.

"Tja, 'gefangen', würde ich dann mal sagen", meinte Lewyn feixend und schwamm rückwärts weiter in den See hinein, während er seinen neuen Gefangenen mit der Rechten hinter sich herzog. Perplex schaute Sacris von der Hand an seiner Halskette zu seinem Freund auf und war auf einmal gezwungen, hinter ihm her zu schwimmen, weil der Zug an seinem Hals zu stark wurde. "Lewyn, ich … ich hoffe doch sehr, … dass deine 'Ich-ertränke-meinen-besten-Freund-im-See' – Aktion nicht ernst gemeint war …", gab der Prinz ein wenig beunruhigt von sich, während er ihm in die Tiefen des Gewässers hinaus folgte.

Der Blonde hatte sich halb von ihm weggedreht, um besser voranschwimmen zu können, und lachte nun betont bösartig auf. "Nyahaha, das ist dein Ende, Freundchen! Gleich wirst du geknebelt, gefoltert, ertränkt und an die Fische verfüttert! Und dasselbe tue ich mit Concurius und Lydia – damit mich niemals je wieder jemand über diese verdammte Felsbrücke schleifen kann!"

"Ach, und dann auch noch unsere armen Pferde?", klagte Sacris wehleidig und verdrehte die Augen, "Die haben dir nun wahrlich nichts getan!" Dann seufzte er jedoch auf einmal leise und meinte resigniert: "Tja, weißt du, wenn nur ich allein davon betroffen wäre, wäre das ja was ganz Anderes – doch unter diesen Umständen …", und er packte mit einem Mal das Handgelenk seines Freundes, drehte es dabei routiniert herum, bis jener seinen Anhänger loslassen musste, und zog Lewyn selbst danach entschieden zu sich her, "… lässt du mir keine andere Wahl."

Lewyn schnappte überrascht nach Luft, als er sich plötzlich im Griff des Prinzen wiederfand. Seine Rechte – die doch noch eben dessen Kette festgehalten hatte! – befand sich nunmehr bewegungsunfähig auf seinem Rücken und wurde durch die Linke seines dunkelhaarigen Gefährten fixiert. Zudem hatte Sacris den anderen Arm sicher um seinen Hals gelegt und zitierte mit einer nicht zu verkennenden Spur von Selbstzufriedenheit: "'Tja, 'gefangen', würde ich dann mal sagen' …"

Und während der Prinz sich und seinen sprachlosen Freund mit den Beinen rückwärts schwimmend wieder Richtung Ufer brachte, schloss er grinsend: "Nun, Lewyn, ich fürchte, das Ertränken wird wohl noch ein wenig warten müssen – bis du gelernt hast, große Fische auch festzuhalten, sobald du sie einmal gefangen hast." Jener wusste darauf nichts mehr zu sagen.

Anschließend kehrten die beiden Männer zur Prinzresidenz zurück, zogen sich trockene Kleidung an und unternahmen schließlich einen zweiten Anlauf, um zu ihrem Ausflug aufzubrechen …

Das Geräusch von rasch aufschlagenden Hufen ließ Lewyn vom Satteln seiner schneeweißen Stute aufblicken. "Erwartest du jemanden, Sacris?" Ein wenig verwirrt sah dieser ihn an. "Nein, … sollte ich? Schließlich wären wir eigentlich schon längst unterwegs." Der Blonde hob eine Augenbraue und blickte zum Horizont. "Nun, du bekommst Besuch … Da scheint es aber jemand wirklich eilig zu haben." Sacris runzelte die Stirn und folgte seinem Blick. Dann hörte auch er das näherkommende Hufschlagen und erspähte kurz darauf ein bemanntes Pferd auf dem schmalen Trampelpfad, welcher zur Residenz führte. Die dunkelblaue Tunika des Reiters trug das goldene Wappen des Königshauses.

Mit einem Schnauben kam die große Stute direkt vor ihnen zum Stehen. Der Bursche – welcher nicht minder gehetzt aussah als sein Reittier – beugte sich zu ihnen hinab und reichte dem Prinzen einen ledernen, versiegelten Umschlag. Sacris schaffte es gerade noch, einen ratlosen Blick mit Lewyn zu wechseln und den Brief entgegenzunehmen, bevor der Junge auch schon atemlos zu erzählen begann: "Eure Hoheit …! Es … es ist furchtbar! Eure Freundin, Celine …!", er hielt keuchend inne, "Sie ist spurlos verschwunden!" Die Gesichter der jungen Männer entgleisten in Entsetzen.

Während Lewyn zunächst gar nicht zu begreifen schien, was er soeben vernommen hatte und zu einer Verständnisfrage ansetzte, packte der Prinz den Boten am Arm und zog ihn näher zu sich heran. "Was sagst du da, Bursche?!" – "J-ja, Eure Königliche Hoheit!", fuhr jener hilflos fort, "A-als Seine Königliche Majestät davon erfahren hat, bin ich, b-bin ich sofort damit beauftragt worden, Euch davon in Kenntnis zu setzen …!" – "Was genau ist passiert?", setzte Sacris drängend nach, "Wann ist sie verschwunden? Wo ist sie verschwunden?!" Während er auf den Boten einredete, ruckte er mehrmals an dessen Arm und riss ihn dabei um Haares­­breite vom Sattel herunter.

"Ich … i-ich weiß nicht, Eure Hoheit …!", erklärte der Gesandte eingeschüchtert stotternd, "S-sie sollte ja eigentlich in Eksaph sein! D-der Bote, den Ihr vor einigen Tagen zu ihr geschickt habt, konnte sie aber nirgends auffinden!" Er schüttelte mit ent­schuldigendem Bedauern den Kopf. "Und auch die Stadtbewohner wissen nicht, was mit ihr geschehen ist, ja, seit über einer Woche ist sie von keinem mehr gesehen worden! Ihre Wohnung verlassen, Fenster und Türen geöffnet, keine Nachricht, keine Spuren, nichts!"

Der dunkelhaarige Prinz betrachtete ihn mit verengten Augen und legte in deutlichem Missfallen die Stirn in Falten … Ihm gefiel nicht, was er da hörte. Und der Gedanke an die Konse­quenzen des Ganzen gefiel ihm noch weit weniger.

Der Bote bekam es bei diesem Anblick mit der Angst zu tun und hob beschwichtigend die Hände in die Höhe. "Bitte, d-das ist alles, was ich weiß!" Doch der Ausdruck in den dunklen Augen des Kronprinzen verfinsterte sich infolgedessen nur noch mehr, dass der schmächtige Knabe schon mit dem Schlimmsten rechnete und in einem Moment seinen Kopf rollen sah! – Und er rief flehend: "Oh bitte, Hoheit, vergebt mir! Ich überbringe Euch doch nur das, was Seine Königliche Majestät mir auf­getragen hat!"

Nun ließ der Prinz ihn beherrscht los und ging langsam einen Schritt zurück. Dabei drehte er sehr nachdenklich und sichtlich unglücklich den Kopf zur Seite … Lewyn schaute auch weiterhin fassungslos zum Boten hinauf und wusste nicht, wie er auf diese Nachricht reagieren sollte. Sacris wandte seinen Blick daraufhin ebenfalls wieder dem Burschen zu und fragte gefasst: "Gibt es sonst noch irgendetwas?" Doch der Knabe schüttelte schüchtern den Kopf und erwiderte: "N-nein, Eure Königliche Hoheit … Nur der Brief von Seiner Königlichen Majestät." Damit wagte es der Bote, sich wieder aufzurichten und seinen Atem zur Ruhe kommen zu lassen.

Es folgte ein bedrückter Moment der Stille.

Den jungen Männern dämmerten die Umstände, unter welchen ihre gute Freundin verschwunden war – und es behagte ihnen überhaupt nicht. Denn wenn Celine sie auf diese Art und Weise verlassen hatte, konnte es nur eines bedeuten …

Der Prinz nickte resigniert und räusperte sich. "Nun gut …", sprach er und wandte sich schließlich erneut Lewyn zu. Dieser erwiderte seinen Blick in stillem Einverständnis … So atmete Sacris einmal durch, ehe er schloss: "Ich denke, dann wird unsere Reise heute wohl nirgendwohin sonst als nach Hymaetica gehen. Wir müssen schnellstmöglich mit meinem Vater sprechen." Mit diesen Worten drehte der dunkel­haarige Mann dem Reiter den Rücken zu und schritt zu seinem leise wiehernden Rappen hin. Auf dem Weg dorthin legte er seinem Freund schweigend eine ermutigende Hand auf die Schulter …

Sacris wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Auch wenn es zu­gegebenermaßen eigentlich keinen Grund gab, allzu opti­mistisch zu sein. Aber sie würden Celine schon irgendwie finden … – Und er fuhr sich mit einem aufgeregten Zischen durch das halbkurze Haar. Verdammt, da ließ man sie einmal aus den Augen …! Er hatte ihr schon immer angeboten, ihre Dienste als Heilerin vom Schloss aus in Hymaetica zu verrichten, doch sie hatte stets ab­gelehnt und in ihrem abge­legenen Dörfchen bleiben wollen! 'Die Menschen hier brauchen mich, Sacris. Hier gibt es keinen außer mir, der ihnen helfen kann. Also bleibe ich bei ihnen.' – Immer und immer wieder hatte sie ihm das entgegnet! Und jedes Mal hatte sie dabei dieses sture Lächeln aufgesetzt.

Der dunkelhaarige Mann schüttelte missbilligend den Kopf und rümpfte unterschwellig die Nase, während er auf seinen Hengst aufstieg. Tz! Das hatte sie jetzt davon, dass sie ihren Willen hatte unbedingt durchsetzen müssen. Dieses dick­köpfige Ding hatte es ja nicht einmal zugelassen, dass henxische Wachen auf sie aufpassten! Ja, und wohin hatte ihr verdammter Eigensinn sie jetzt gebracht …?! – Genau!

Aber dann riss sich Sacris zusammen und zügelte seinen Ärger.

Ja, Celine war stark … sehr stark. Sie ertrug das Leid so vieler Menschen, obwohl sie noch in ihrer zartesten Blüte stand und nicht einmal gänzlich erwachsen war. Und doch hatte sie nie aufgehört, ihr Lächeln und ihre Kraft an ihre Mitmenschen zu verschenken … – Aber dennoch! Argh!

Und der Prinz verzog plötzlich gequält leidend das Gesicht, während er das androgyn anmutige Profil seines langjährigen Freundes im Licht der Sonne betrachtete. Ein Stechen fuhr durch seine Brust, als hätte sich ein glühender Dorn in seine Seite gebohrt. Der junge Mann atmete tief durch und schluckte schwer, doch ging der Schmerz nicht fort, sondern blieb, wo er war – als dunkle Vorahnung in seinem Inneren. Und ihr Vorgeschmack entfaltete sich bitter auf seiner Zunge …

Sacris war nämlich nicht nur um das Wohl des Mädchens besorgt … Nein … Celine war zwar nett, aber zumindest für ihn nur eine recht gute Bekannte, mit welcher er durch die Verbindung zu Lewyns Familie regelmäßig Kontakt gehabt hatte. Nein, es war vor allem Lewyn, der besonders an Celine hing und sie liebte wie eine leibliche Schwester, die er nie ge­­habt hatte. Und er, Sacris, konnte jetzt nur hoffen, dass Lewyn – welcher ihm selbst nun mal mehr bedeutete, als er in Worte zu fassen vermochte! – in dieser Situation nichts Unüberlegtes tat … Und er hoffte es wirklich inständig …

Lewyn hatte kurz die Augen geschlossen, nachdem ihm Sacris eine Hand auf die Schulter gelegt hatte, und war still­schwei­gend auf seinen Schimmel aufgestiegen. Der Sonnenschein war verblasst, so wunderte sich der junge Mann, woher die jähen Wolken hergekommen waren; doch der Himmel war noch immer genauso klar und blau wie je zuvor …

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