Buch lesen: «Ich werde dich nicht warten lassen»

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NIVES MEROI

«Ich werde dich nicht warten lassen»

Der Kangchendzönga, Romano und ich.

Oder unser 15. Achttausender

Tyrolia-Verlag · Innsbruck-Wien

Titel der italienischen Originalausgabe: Non ti farò aspettare. Tre volte sul Kangchendzonga, la storia di noi due raccontata da me © 2015 RCS Libri S.p.A., Milano

© der deutschen Lizenzausgabe: 2016 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: Roberto Baldissera, Agentur für Grafik, Innsbruck, unter Verwendung eines Bildes von © Nicola Allegri

Skizzen im Vor- und Nachsatz: Angelo Valenti

Alle anderen Abbildungen: © Nives Meroi

Übersetzung aus dem Italienischen: Maria Anna Söllner, Wort & Tat, München

Lektorat: Margret Haider, Innsbruck

Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag, Innsbruck

Lithografie: Artilitho, Trento (I)

ISBN 978-3-7022- 3505-5 (gedrucktes Buch)

eISBN 978-3-7022-3526-0 (E-Book)

www.tyrolia-verlag.at buchverlag@tyrolia.at

INHALT

Romano am 17. Mai 2009. «Man geht weiter. Aber auch die Zeit geht weiter – bis man vor sich eine schattenlinie gewahrt.»

Er sagt, der Weg verschwimme vor seinen Augen. Alle zehn Schritte setzt er sich hin, und wenn er wieder aufsteht, spüre ich, wie die Erschöpfung immer schwerer auf ihm lastet.

Was ist mit ihm los?

Wenn er wenigstens sagen könnte, was ihm weh tut. Es ist jedoch ein taubes, nicht greifbares Unwohlsein, als ob ihn eine Flutwelle zuerst überschwemmt und beim Zurückfließen dann jeglicher Kraft beraubt hätte.

Wer hat noch mal behauptet, dass es abwärts von alleine geht?

Auf 7500 Metern Höhe schien die Situation jedoch noch nicht so schlimm zu sein: Sicher, er war sehr müde, aber in dieser Höhe ist das normal.

Ganz sicher ist es kein Hirnödem, das hatten wir sofort ausgeschlossen, und mit jedem Höhenmeter weniger hätte er wieder wacher werden müssen. Stattdessen ist es ihm dort oben, in der «Todeszone», besser gegangen als hier, 5000 Höhenmeter weiter unten.

Ich weiß nicht, was ihm zugestoßen ist, aber vielleicht hätte ich es begreifen müssen, hätte bemerken müssen, dass wir an unsere Grenzen geraten sind. Ich habe die Anzeichen erahnt, aber so getan, als wäre nichts.

«Man geht weiter. Aber auch die Zeit geht weiter – bis man vor sich eine Schattenlinie gewahrt.» (Joseph Conrad)

Dann begann es auch noch zu regnen.

ERSTER AKT
Keine angenehmen Aussichten

(Frühling 2009)

«Es ist schon spät! Es ist wirklich spät! Wir sind so was von zu spät dran!»

Romano erscheint mir wie Alice und ich komme mir vor wie das weiße Kaninchen aus Alice im Wunderland, als wir am Flughafen Mailand-Malpensa das Gepäck ausladen und uns von Loris verabschieden. Loris ist ein Freund, der für uns seit ein paar Jahren den «Bring- und Abholservice» zu den verschiedenen Flughäfen übernimmt, zwischen denen wir hin und her gondeln. Inzwischen ist es Tradition, dass er uns fährt, fast schon ein Ritual, das Glück bringen soll.

Wir eilen gerade Richtung Nepal, um zwei Achttausender zu besteigen, die Annapurna und den Kangchendzönga; dann fehlt uns eigentlich nur noch der Makalu, um den Grand Slam zu vervollständigen.

Im Herbst des Jahres 1986 hatte es Reinhold Messner geschafft, als erster Mensch alle Achttausender bestiegen zu haben. Mehr als zwanzig Jahre später war dies noch keiner Frau gelungen, aber inzwischen sind wir im Endspurt: Auf der ganzen Welt sind es drei Frauen, die sich momentan auf Gleichstand – elf Achttausender – befinden.

Wir sind bereit für den Startschuss zum drittletzten Achttausender. Das Ziel ist nunmehr nahe: als erste Frau alle 14 Achttausender der Welt bestiegen zu haben.

Egal ob Mann oder Frau, das Können eines Bergsteigers kann man nicht an der Zahl der erreichten Gipfel bemessen. Dennoch ist diese Etappe wichtig, denn jene Gipfel stellen immer noch eines der letzten männlichen Bollwerke dar. Wenn der letzte Achttausender von einer Frau bezwungen ist, wird sich der Kreis schließen. Dies wird nicht nur ein Datum sein, das in die Liste der Wiederholungen eingeht, sondern es wird ein Festtag sein.

Die anderen beiden Bergsteigerinnen sind Edurne Pasaban Lizarribar aus Spanien und Gerlinde Kaltenbrunner aus Österreich. Manchmal kreuzen sich unsere Wege – unterwegs in Kathmandu oder irgendwo in den Bergen –, aber mal abgesehen von dem einen oder anderen Gespräch über dies und das kann ich nicht behaupten, sie wirklich zu kennen.

Wer weiß, wer von uns «die Erste» sein wird. Ich weiß genau, dass ich das nicht sein werde, es sei denn, es geschieht noch ein Wunder: Romano und ich haben nicht genügend Geld, um «im Rennen» zu bleiben, und das wollen wir auch gar nicht.

Als wir 18 waren, haben Romano und ich uns zu einer Seilschaft zusammengetan, um Berge zu besteigen, später auch, um gemeinsam die «Berge des Lebens» zu meistern; in den Julischen Hausalpen begannen wir aus Spaß herumzustreifen, ohne die geringste Vorstellung davon zu haben, dass wir damit Schritt für Schritt den Weg entwarfen, der uns bis hierher führen sollte.

Ein Weg, der zufällig zu dem unseren wurde: der Weg von zwei Menschen, die mit offenen Augen vor sich hin träumten, die in einem flüchtigen Moment das Leben in die Hand genommen und eine vage Möglichkeit ins Auge gefasst haben: «Was meinst du? Wollen wir einen Achttausender versuchen?» Seitdem haben Romano und ich – immer gemeinsam – elf Achttausender bestiegen.

Während die Aufmerksamkeit für die «Frauen»-Unternehmung wächst, verwandeln sich die Berge in ein Stadion, in dem es nicht nur um den Alpinismus und den Titel «Die erste Frau» geht, sondern auch um die Interessen von Sponsoren und Medien. Denn diese müssen dem Publikum eine Show von Siegern und Besiegten liefern. Und in der Hektik dieses verrückten Wettlaufs sind auch wir in diesen Strudel geraten. Denn wenn man in den Medien nicht in Erscheinung tritt, ist man ein Niemand, ohne Medien jedoch findet man keine Sponsoren – und ohne Sponsoren können wir nicht darauf hoffen, jedes Frühjahr zu einer Expedition aufzubrechen. Es gibt kein Entkommen. Egal ob wir Lust haben oder nicht, wir stecken bis zum Hals mit drin.

Aber woher kommt dann dieses seltsame Unbehagen, das ich habe? Dieses widerwärtige Gefühl, dass ich irgendetwas falsch mache?

Vor zwei Jahren habe ich es zum ersten Mal wahrgenommen, auf dem Everest, jenem Spielplatz für gelangweilte Menschen. Aber was kann es sein, das jetzt nicht passt? Wir versuchen doch nur einen Weg zu finden, wie wir weiterhin bergsteigen können. Und dafür müssen wir im Medienzirkus mitspielen.

Wir steigen in Mailand ins Flugzeug und haben eine Zwischenlandung in Abu Dhabi mit Übernachtung. Am nächsten Morgen fliegen wir weiter und landen nachmittags in Kathmandu: Es ist der 16. März 2009.

Nima Nuru Sherpa, der Chef der Agentur, die unsere Expeditionen in den Himalaya organisiert, erwartet uns: Küsse, Umarmungen, wir laden das Gepäck ins Auto und fahren los.

Die Straße draußen ist chaotisch und staubig, der Verkehr ein wilder, aber keineswegs aggressiver Dschungel. Hupen ertönen, eine Schar von Mofas umgibt uns, auf Motorrädern einzelne Fahrer oder ganze Familien mit kleinen Kindern, die eng zusammengedrängt auf dem Sitz hocken, und dann die engen Sträßchen, in denen es von Leuten, Fahrzeugen und Waren nur so wimmelt.

Dort der kleine Tempel, gespalten von dem großen Baum, der in seiner Mitte wächst: Alles ist genauso wie vor sechs Monaten, es hat sich nichts verändert.

Vielleicht ist es nur Aberglaube, aber schon das Aus-dem-Fenster-Schauen während der Fahrt vom Flughafen in die Stadt ist eine weitere Zauberformel, die unserer Reise Glück bringen soll.

Seit ein paar Jahren sind wir in Kathmandu Nimas Gäste, wir wohnen in einer Wohnung, die über den Büros der Agentur liegt. Nicht in Thamel, dem «Touristen-Ghetto», das modern, sauber und beruhigend kontinental ist: Nimas Agentur ist etwas außerhalb gelegen, gerade weit genug von den saisonalen Migrationswellen entfernt.

Diese Unterkunft nennen wir inzwischen «zuhause», denn hier schlafen, essen, waschen und putzen wir: Warmes Wasser gibt es, wenn die Sonne die Solarzellen auf dem Dach aktiviert. Für die größeren Einkäufe gehen wir in den nahe gelegenen Supermarkt, während wir die kleinen Dinge in einem Laden am Eck kaufen, geführt von einem Ehepaar, die beiden wechseln sich dort ab. Sie sprechen nur Nepalesisch, und wir nur ein paar Brocken Englisch, aber das macht nichts, irgendwie gelingt es uns immer, uns ein bisschen zu unterhalten. Inzwischen kennen sie uns, und bei jeder Ankunft oder Abfahrt begrüßen bzw. verabschieden wir uns, wie es unter Nachbarn üblich ist.

Ich habe die schlechte Angewohnheit, von der Terrasse aus den üblichen Alltagstrott zu beobachten: Frauen, die morgens ihre Haushaltsdinge erledigen, Kinder, die nach der Schule auf der Straße spielen, Familien, die sich zum Abendessen vor dem Fernseher versammeln. Und die religiösen Riten im Morgengrauen, um den Göttern zu danken und sich ihre Gunst zu erwerben.

Dieses Mal jedoch wird es nichts mit der vertrauten Atmosphäre: Für heute Nacht bringt uns Nima in ein Hotel, da sie kein Wasser haben; er fügt hinzu, dass sie morgen das Problem gelöst haben dürften und wir zu ihnen umziehen könnten.

Es ist immer das Gleiche: In der Stadt ist das Benzin knapp, und der Strom wird rationiert. In Thamel besitzen die Hotels Generatoren, das Problem betrifft die Touristen also nicht. Aber die Stadt muss sich arrangieren, wie es eben geht, denn ohne Strom gehen die Pumpen nicht, das heißt, an solchen Tagen kann das Wasser nicht in die Zisterne auf dem Dach gepumpt werden. Als wäre das nicht schon genug, hat es außerdem seit sechs Monaten nicht mehr geregnet.

Das Land steht wieder einmal am Rande des Abgrunds, und Nimas Ironie ist noch bitterer geworden: «Es gibt keinen Strom, und die Leute sagen: ‚In Ordnung.‘ Es gibt kein Wasser, und sie seufzen: ‚Geduld!‘ Wir sind schon so daran gewöhnt, es fehlt jetzt nur noch, dass wir uns auch noch an die Schießereien auf der Straße gewöhnen.»

Wir befinden uns im Jahr 2009, der Bürgerkrieg ist seit drei Jahren zu Ende, aber die Situation ist immer noch schwierig und kompliziert. Es besteht durchaus das Risiko, dass die politische und soziale Lage wieder instabil wird. Tagtäglich werden Entwicklungschancen zunichtegemacht, während die Verzweiflung jener wächst, die einfach nur überleben wollen.

Im Hotel treffen wir auch die junge und tüchtige Beni, Nimas Alter Ego, und gemeinsam besprechen wir die Details der Expedition: Die bürokratischen Formalitäten sind von den Gruppen, mit denen wir uns die Genehmigung für die Gipfel teilen, erledigt worden. Wir kennen die anderen Bergsteiger nicht, und vielleicht begegnen wir ihnen auch gar nicht; mit diesen Expeditionen teilen wir uns nur das Zertifikat, mit dem das Ministerium für Kultur, Tourismus und Zivilluftfahrt die Erlaubnis für die Besteigung der Berge erteilt. Wir beide müssen uns also nur darum kümmern, mit unserer Mannschaft die Boxen für den Transport vorzubereiten, sodass diese mit der ganzen Ausrüstung für den Kangchendzönga, den wir Bergsteiger oft einfach nur «Kantsch» nennen, auf dem Landweg aufbrechen kann. Es ist der erste der beiden Berge, die wir zu besteigen versuchen. Romano und ich werden am nächsten Tag das Flugzeug nehmen und in Biratnagar auf die Mannschaft treffen; von dort aus werden wir die Reise zum Basislager gemeinsam fortsetzen. Nach der Besteigung werden wir nach Kathmandu zurückkehren und von dort nach Pokhara fliegen, um uns zum zweiten Gipfel zu begeben: zur Annapurna.

Morgen also haben wir eine Verabredung in der Agentur, um die Boxen vorzubereiten.

Nun steht uns ein weiteres wichtiges Ritual bevor: Mit ihrem legendären himmelblauen VW-Käfer kommt Miss Hawley am 17. März punktgenau um 10 Uhr an, um mit uns das übliche «Interview» zu führen. Der junge, sympathische Nepalese, der seit Jahren ihr Fahrer ist, reicht ihr die Hand, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.

Zierlich, gepflegte Kleidung, ein Hauch von Lippenstift – schon während sie dir die Hand gibt, wird, so wie sie dich über die Brille auf der Nasenspitze hinweg mustert, eines sofort klar: Ihr kann man keine Märchen erzählen, weil sie ihre Pappenheimer – uns Bergsteiger – kennt.

Elizabeth Hawley ist von Beruf Journalistin, sie lebt seit über einem halben Jahrhundert in Kathmandu und ist das historische Gedächtnis des Himalaya-Alpinismus und der Unternehmungen, die seit den Sechzigerjahren in diesen Bergen stattgefunden haben.

Nach dem Studium begann die 1923 in Chicago geborene Miss Hawley als Rechercheurin und Dokumentationsjournalistin für die Zeitschrift «Fortune» zu arbeiten. Schon bald jedoch entschloss sie sich, alles hinzuwerfen und zu einer abenteuerlichen Weltreise quer durch Europa, Afrika und schließlich den Nahen Osten aufzubrechen, um 1959 hier in diesem winzigen, sagenumwobenen Land zu landen, das eingezwängt zwischen den beiden Giganten China und Indien liegt.

Nach einer hundert Jahre andauernden Phase der Isolation hatte Nepal erst kurze Zeit vorher wieder seine Tore zur Welt geöffnet und stand am Anfang seines langen, mühsamen Weges zur Demokratie. Die allerersten Wahlen in der Geschichte des Landes waren gerade abgehalten worden; Elizabeth Hawley hatte vor, ein paar Jahre zu bleiben, und begann, als Auslandskorrespondentin zu arbeiten. Es war genau die Zeit, in der sie Nepals Öffnung zur Welt beobachten können sollte.


Elizabeth Hawley, die legendäre Chronistin des Himalaya-Bergsteigens, beim traditionellen expeditionsinterview

In jenen Jahren gab es jedoch noch eine weitere Veränderung. Denn nachdem die Eroberung der Weltriesen abgeschlossen war, begann eine neue Epoche des Bergsteigens im Himalaya: die Zeit der Erstbegehungen ohne künstlichen Sauerstoff, der Alleinbegehungen, der Winterbegehungen und der großen neuen Routen.

Als Miss Hawley hier ankam, wusste sie nichts über das Bergsteigen, sogar die Motive, die die Bergsteiger antrieben, waren ihr unklar. «Hier wimmelt es in den Bergen überall von Männern, die so verrückt sind, dass sie sogar auf die Gipfel wollen», schrieb sie ihrer Mutter.

Irgendwie spürte sie aber, dass der Alpinismus für ihre Arbeit wichtig werden könnte, weshalb sie das seltsame Kommen und Gehen dieser Männer – auf die Gipfel und wieder herunter – zu interessieren und sie Ankunft wie Abreise jeder Expedition zu den Himalaya-Gipfeln zu beobachten begann.

Als Korrespondentin für die größten Bergsteiger-Zeitschriften der Welt und Verlagsgiganten wie die Nachrichtenagentur Reuters und das amerikanische Nachrichtenmagazin «TIME» hat diese großartige Journalistin eine enorme Menge an detailreichen Berichten aufgenommen, die sie auch im Verzeichnis Himalayan Database, der Chronik aller Expeditionen zu den Sieben- und Achttausendern in Nepal und einer Art virtuellen Bibel für die «Himalayaner», veröffentlicht hat. Vor allem aber hat Miss Hawley im Laufe dieser fünfzig Jahre einen immensen Schatz an Erzählungen und Begegnungen zusammengetragen, wodurch sie zu einer der leidenschaftlichsten und einflussreichsten Kennerinnen der Geschichte dieser Berge wurde, zu einer einzigartigen Figur in der Welt des Alpinismus – eine Rolle, die sie sich selbst auf den Leib geschneidert hat.

«Ich habe nie die Entscheidung getroffen zu bleiben», sagt Miss Hawley, «ich bin einfach nur nie weggegangen.»

Romano und ich füllen die Formulare aus und beantworten die Fragen: die vorgesehenen Zeitpläne und Etappen, Anzahl der Expeditionsmitglieder, Aufgaben, alpinistischer Lebenslauf, Beruf, Familienstand und so weiter und so fort. Wie immer ist es meine Aufgabe, die Sekretärin zu spielen und die Fragebögen für uns beide auszufüllen; und die Aufgabe von Romano – dem Künstler in unserer Seilschaft –, Miss Hawley das Programm der Besteigung zu erläutern.

Wenn wir von der Besteigung zurückkehren, wird wieder ein Interview stattfinden, in dem wir berichten werden, was sich letztlich wirklich abgespielt hat.

Heute ist der 20. März, wir hätten eigentlich gestern schon aufbrechen sollen und sind doch immer noch hier. Zum Glück sind wir in die Wohnung der Agentur umgezogen und können wie zuhause ganz entspannt herumlümmeln.

Der Bus nach Biratnagar, mit dem unsere Köche mit dem Material unterwegs sind, wurde von einer streikbedingten Straßensperre aufgehalten, weshalb auch wir beide hier warten müssen.

«Der Frühling ist eine sehr aktive Zeit», grinst Nima. «Die Touristen kommen, die Expeditionen starten, und die Streikenden streiken …, sie können ja wohl schlecht während des Monsuns demonstrieren!»

In der Tiefebene Terai war die Gewalt seit Kriegsende im Jahr 2006 zurückgegangen, aber die Lage verschlechterte sich nun wieder, und verschiedene bewaffnete Gruppierungen hatten den Kampf wieder aufgenommen.

Es hatte alles 1996 begonnen, als die Guerillakämpfer der maoistischen Vereinigten Kommunistischen Partei Nepals, unter Führung von Prachanda «dem Stolzen», einen bewaffneten Kampf gegen die Monarchie des Königs Birendra begannen. «Krieg des Volkes» haben sie ihn genannt, «gegen das Kastensystem und die feudale Monarchie, um die Gesellschaft zu modernisieren und Sklaverei und Privateigentum abzuschaffen». Der Bürgerkrieg dauerte zehn Jahre, fast 13.000 Menschen kamen dabei ums Leben. Beide Seiten haben in diesem Krieg die Rechte der Bevölkerung mit Füßen getreten und sind ohne Strafe davongekommen.

Mit Hilfe von Waffenlieferungen der großen Mächte wie Indien und den USA hat die Regierung getötet, gefoltert, Dissidenten verschwinden lassen und die Bauern in den Dörfern dazu gezwungen, gegen die Maoisten zu kämpfen.

Auf der anderen Seite hat sich das Heer der Revolutionäre gleichermaßen schuldig gemacht, indem es die zum Teil mit Gewalt unter Studenten, Analphabeten und sogar Kindern rekrutierten Kämpfer in Gefangenenlagern ausbildete. Mit extremen Straßensperren und Streiks, zu denen die Bevölkerung gezwungen wurde, belagerten sie dann Kathmandu.

Ich erinnere mich noch an den ersten Streik, in den auch wir geraten waren: Es war im Frühjahr 2005, wir wollten zum Dhaulagiri fahren, dem siebthöchsten Gipfel der Welt, der im Westen des Landes genau gegenüber der Annapurna aufragt. Ganz Nepal war gesperrt: Fabriken, Büros, Geschäfte geschlossen. Lebensmittel und Treibstoff waren knapp, kein einziges Fahrzeug durfte fahren, nicht einmal die Karren. Sogar die Krankenwagen, oft als Taxis benutzt, wurden kontrolliert. Mit Stöcken bewaffnet bezogen die Demonstranten auf der Straße ihre Streikposten, ständig überwacht von Soldaten in Schutzkleidung.

Schließlich waren Gefechte ausgebrochen, uns war es jedoch gelungen, kurz vorher in die Berge zu entkommen, denn nach den ersten drei extrem angespannten Tagen hatten sich die Maschen im Netz der Straßensperren gelockert, und hier und dort konnten Fahrzeuge – die Nummernschilder mit Zeitungspapier verdeckt – klammheimlich durchschlüpfen.

Zwei Drittel des Landes waren inzwischen unter der Kontrolle der Maoisten, und der Armee gelang es trotz Waffen und Hubschraubern nicht, den Revolutionären die Herrschaft über die Gebirgsgegenden zu entreißen.

Damals waren wir eine große, bunt gemischte Gruppe von 22 Freunden, die zum Trekking oder auf eine Expedition mitgekommen waren. Es war üblich, «herumvagabundierende» Gefährten mit dabeizuhaben, die mit uns zum Basislager kamen und nach einem Abschiedsfest weiterzogen, um dann nach Hause zurückzukehren.

Wir saßen in einem Überlandbus, spielten Karten, redeten und erzählten uns Witze, stellten uns lachend unsere Reaktion vor, wenn wir auf eine Gruppe bewaffneter, kapuzentragender Guerillakämpfer stoßen würden. Bis wir dann, nachdem wir schon zwei Tage gewandert waren, an einem Waldweg auf eine Baracke stießen, über deren Tür bedrohlich die rote Fahne mit Hammer und Sichel hing: Der gefürchtete Moment war gekommen, wir betraten das Territorium der Revolutionäre.

Mit dem Untergang der Monarchie im Jahr 2006 war der bewaffnete Kampf beendet, die Verfassungsgebende Versammlung hatte 2008 die Geburt der Demokratischen Bundesrepublik Nepal ausgerufen. Die Bevölkerung hatte eine Lobeshymne auf den Beginn eines «neuen Nepal» gesungen, heute jedoch, knapp ein Jahr danach, steht die Regierung samt Premierminister Prachanda, einem ehemaligen Maoisten, schon wieder am Rande einer Krise.

Das erzählen uns Nima und Beni, während wir zusammen «zuhause» Mittag essen.

Soweit ich verstanden habe, ist das Problem die Eingliederung der ehemaligen maoistischen Guerillakämpfer in die neue republikanische Armee. Die Geschichte der Reintegration der People Liberation Army, der maoistischen Armee, hatten wir zum ersten Mal im Herbst 2007 gehört. Gerade in Kathmandu gelandet, bemerkten wir, dass der Flughafen voller Hubschrauber und Fahrzeuge war, die die Aufschrift «UN» trugen: United Nations. Unsere Freunde hatten uns erklärt, dass gerade eine Zählung der Ex-Guerillakämpfer vorgenommen wurde, im Hinblick auf deren Wiedereingliederung in die Reihen des regulären Heeres. Denn das war eine der Bedingungen des Friedensabkommens gewesen.

Nun fürchtet man, dass diese erneute Krise die Demonstrationen des Volkes wieder auflodern lassen und jene maoistischen Flügel, die die Idee des bewaffneten Kampfes noch nicht aufgegeben haben, wieder zu subversiven Aktivitäten antreiben könnte.

In diesem ganzen Durcheinander sitzen Romano und ich hier fest. Die Tage ziehen vorüber, zwei Berge sind zu besteigen und die Gebühr für die Permits ist ans Ministerium bezahlt. Wenn wir wenigstens nicht für beide Berge bezahlt hätten, könnten wir uns überlegen, uns nur auf einen zu konzentrieren und den anderen auf den Herbst zu verschieben.

Noch sind wir nicht allzu beunruhigt, wir sind an lange Wartezeiten gewöhnt. Vor ein paar Jahren, als wir zum Makalu wollten, haben wir hier zwölf Tage lang gewartet, bis das Flugzeug endlich starten konnte.

Den ganzen Tag verbringen wir zuhause und hören Nachrichten: Wenigstens zwischen 12 und 16 Uhr gibt es Strom. Romano hat das Mittagessen gekocht, und während ich den Tisch abräume und abwasche, fläzt er wie zuhause auf dem Sofa und zappt durch die Programme.

Die Unterbrechungen in der Wasserversorgung, die langen Schlangen vor den Tankstellen, das wöchentliche Programm der Zeiten mit und ohne Stromversorgung: Hier teilt die Rationierung von Wasser, Strom und Benzin die Tage der Leute ein.

Um 19 Uhr fahren wir nach Thamel zu einem Treffen mit den Leuten der Expedition, die sich mit uns die Genehmigung für den Kangchendzönga teilen, wir haben es aus Höflichkeit vereinbart. Wir wissen nicht viel über sie, Nima hat uns nur erzählt, dass es sich um eine Mannschaft von vier Bergsteigerprofis handelt, die zuerst den Makalu besteigen und von dort aus mit dem Hubschrauber zum zweiten Berg fliegen wollen, um sich schließlich zu einem dritten Gipfel aufzumachen.

Mit einer etwas unterkühlten Freundlichkeit überreicht uns der Manager den Flyer, in dem ihr Projekt der Eroberung der 14 Achttausender erläutert wird, und erklärt uns minutiös das Programm: Für das Frühjahr sind drei Besteigungen im Himalaya vorgesehen, im Sommer wird man sich dem Karakorum widmen und nach dem Monsun werden sie wieder hierher zurückkehren.

Dann geht er zu den Einzelheiten über: Gebühren für die Gipfel, Flüge mit Flugzeug und Hubschrauber, Fahrzeuge für den Landweg, dann Porter und Höhenträger und die Mannschaft für das Basislager, außerdem das Material für die Besteigung, Anzahl der Sauerstoff-Flaschen, der Sherpas und der Meter an Seil. Zu jedem Berg wird den Bergsteigern ein Team vorausgehen, das sich um die Einrichtung des Basislagers und der Lager in der Wand kümmert. Nach ihrer Ankunft mit dem Hubschrauber werden ihnen Sherpas beim Aufstieg folgen, und nach dem Abstieg werden sie per Hubschrauber zum nächsten Gipfel weiterfliegen, wo wiederum ein anderes Team vorausgegangen ist und für alles Nötige gesorgt hat. Und immer weiter so. Der erste Gipfel ist für den 25. April geplant.

Während wir zuhören und distanziert nicken, fragen wir beide uns: «Was kostet wohl dieses Jahr im Himalaya?» Aber vor allem: «Wie soll man derartige Unternehmungen nennen: Rekord oder Massenunternehmung?»

Gewiss, es gibt keine Regeln im Alpinismus, jeder macht es so, wie er will. Aber bei dieser Art des Bergsteigens, mit Sauerstoff-Flaschen, durch die der Sauerstoffmangel in großer Höhe fast völlig abgefangen wird, wo man im Gänsemarsch den Spuren der Sherpas folgt und in Wänden unterwegs ist, die mit einem Netz von Fixseilen und Leitern gezähmt und mit Lagern und Sauerstoff-Flaschen-Depots «aufgehübscht» wurden … was bleibt da am Ende noch vom Berg übrig?

Bis vor Kurzem bedeutete der Begriff «Alpinismus» Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, spielerische Freiheit, Offenheit für Fantasie, für den Mut, neue Routen zu finden, aber auch für den Mut zu Verzicht und Misserfolg. Rein, leicht und auf die körperliche wie psychische Autarkie und den bewussten Umgang mit Gefahr gegründet; eine offene Begegnung mit dem Berg – und mit sich selbst.

Diese Art des Bergsteigens gibt es bei den Achttausendern praktisch nicht mehr, denn heute sucht man oft – von einem verzweifelten Bedürfnis zu siegen und einer wahnsinnigen Angst zu scheitern angetrieben – nur nach einer passenden Organisation: Sie soll die Möglichkeit eines Misserfolgs auf ein Minimum reduzieren, um ein Ziel zu erreichen, das dann keinen qualitativen, sondern nur mehr quantitativen Wert hat. Diese Zahlenmanie hat es sicherlich schon immer gegeben, aber das, was heutzutage zählt, sind Serienmäßigkeit, Schnelligkeit und Erfolg.

Romano und ich sind zwei aus der Mode gekommene Nostalgiker, denen dieser überdrehte Alpinismus fremd ist – aber wie sollten wir bestimmen können, was richtig und was falsch ist? Schließlich sind Gewichte und Maße reine Übereinkunft … aber wo liegt die Grenze zwischen dem Wunsch, die eigenen Ziele zu erreichen, und Gier? Es heißt, dass die Welt uns allen gehört, doch wurden die Regeln schon immer von den Siegern diktiert. In diesem Fall scheint mir das Geld der einzige Sieger zu sein.

Am 22. März sitzen wir im Flugzeug. Aber anstatt nach Biratnagar zu fliegen, sind wir auf dem Weg nach Pokhara. Gestern erwartete uns die x-te Überraschung: Der Streik hat sich auf die Dörfer der Umgebung ausgeweitet, und damit ist nicht mehr vorauszusehen, wie lange er sich hinziehen wird.

Nima redete und redete, aber seine Mitteilung brachte mich so durcheinander, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Romano schien es nicht besser zu gehen, wie ich an seinem verwirrten Gesichtsausdruck sehen konnte. Nach ein paar Minuten löste sich der Nebel auf, und wir begannen schnell einen Plan zu entwerfen. Die einzige Lösung war, die Programmpunkte umzudrehen: zuerst die Annapurna und dann den Kangchendzönga.

Und so kam es also, dass wir jetzt nach Pokhara fliegen, um uns von dort zum Basislager aufzumachen. Unsere Köche, Prem und Bahadur, sind schon auf dem Rückweg, um dort oben zu uns zu stoßen. Wir werden die Besteigung der Annapurna versuchen, Ende April werden wir nach Kathmandu zurückkehren, um uns dann zum Kantsch zu begeben.

Als Erstes sind wir gestern los, um 600 Meter Seil und zehn Haken zu kaufen. Wir hatten sehr auf eine schnelle Besteigung der ziemlich gefährlichen Annapurna gehofft, indem wir schon akklimatisiert vom Kangchendzönga kommen, sodass wir uns möglichst wenig den Gefahren dieser Wand aussetzen würden. Durch die Programmänderung jedoch muss die Akklimatisierung dort erfolgen, in einer langen Serie von Auf- und Abstiegen in der Wand, um dem Körper die Zeit zu geben, sich an den geringen Sauerstoffgehalt der Luft in großer Höhe anzupassen. Dafür brauchen wir die Seile: um wenigstens die schwierigsten Abschnitte einzurichten und schnell abhauen zu können, wenn es in der Wand schlecht läuft.

Pokhara liegt 200 Kilometer westlich von Kathmandu und ist für den Tourismus der wichtigste Ort des Landes sowie Ausgangspunkt für die bekanntesten Trekkings in Nepal. Von diesem Städtchen aus, das am Ufer eines Sees liegt, hat man einen der schönsten Blicke auf die Himalaya-Bergkette: der Dhauligiri im Westen, die Annapurna, der Machapucharé bis zum Manaslu im Osten.

Mit Tenzing, dem Angestellten Nimas, der uns zum Basislager begleiten wird, gehen wir zum Büro des Annapurna-Nationalparks, um unsere Trekking-Permits abzuholen. Dann nehmen wir ein Taxi, um bis ins letzte kleine Dorf zu fahren. Dort beginnt die Reise zu Fuß.

Als wir ankommen, sehen wir zwei Träger auf einem Mäuerchen sitzen, sie warten schon darauf, die Boxen mit unserem Gepäck zu transportieren.

Wir machen uns auf den Weg. Dieses Trekking wird nicht lange dauern, vier Tage werden wohl genügen, um den Fuß des Berges zu erreichen.

26. März. Wir sitzen in der letzten Lodge vor dem Basislager fest und lassen die Tage vorüberziehen, während wir auf Prem warten.

Meine Hand zittert, denn wir haben bis gerade eben Schnee geschaufelt. Als wir gestern Nachmittag ankamen, waren die Betreiber der Lodge gerade noch dabei, die große Terrasse vom Schnee zu befreien. Heute Morgen heißt es jedoch wieder von vorne anfangen, denn als wir aufwachten, lagen 60 Zentimeter Neuschnee. Seit 8 Uhr waren die beiden Männer auf den Beinen, beim Frühstück sahen wir sie bei der Arbeit und boten ihnen spontan unsere Hilfe an … sind wir doch von unserem Winter zuhause so gut im Training!

Wir organisieren uns folgendermaßen: Wir schaufeln den Schnee auf ein großes Tarp – eine Plane aus Polyäthylen, die wegen ihrer vielseitigen Einsatzmöglichkeiten bei keiner Expedition fehlen darf –, und wenn die Plane voll ist, ziehen wir sie weg und kippen den Schnee in die Wiese.

In diesen vier Tagen des Marschierens hat es unglaublich viel geregnet und geschneit. Weiter unten ein Weltuntergangsszenario mit Blitzen, Wind und starken Regengüssen. Hier und dort suchten wir Unterschlupf unter einem Dachvorsprung und standen mit dem Rücken ganz dicht an der Mauer, bis es die ersten Anzeichen für eine Regenpause gab. Dann stürmten wir wie bei einem 100-Meter-Sprint los. Als wir weiter nach oben kamen, begann es leicht zu schneien. Bei diesem ganzen Unwetter haben wir die Berge noch gar nicht gesehen.

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