Buch lesen: «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.»

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Über dieses Buch

Niklaus Meienbergs Enquête über den Landesverräter Ernst S. zählt zu den Klassikern der Schweizer Reportageliteratur. Der harmlose Sonderling aus einer Arbeiterfamilie gerät in die schonungslose Strafmaschine der helvetischen Militärjustiz, während gegen hochrangige Armeevertreter, obwohl sie in der Nazizeit den Tatbestand des Landesverrats viel eindeutiger erfüllen, mit 'sträflicher Milde' verfahren wird.

Meienberg erbringt mit dieser frühen Arbeit erstmals den Beweis, dass er zeitgeschichtliche Themen nicht nur bewegend schildern kann, sondern dass seine Texte selbst auch etwas bewegen.

«Ein Journalist, der unter anderem untersucht und beschrieben hat, wie ein kleiner Landesverräter zum Tod verurteilt worden ist, damit gegen andere Zeitgenossen und wichtigere, solche in der Generalität, keinerlei Zweifel aufkommt – dieser bekannte Journalist, der auch noch anderes vor die Öffentlichkeit bringt, was ihm ungerecht erscheint und aufschlussreich, ist nicht vor den Richter gestellt worden; denn es stimmt halt, was er geschrieben hat.» Max Frisch

Editorische Notiz zur Ausgabe von 1992:

Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. wurde in Buchform erstmals 1975 in Reportagen aus der Schweiz veröffentlicht. ­Zusammen mit Richard Dindo drehte Niklaus Meienberg im selben Jahr den gleichnamigen Dokumentarfilm, der, wie kaum ein anderes Werk der Schweizer Filmgeschichte, heftige Reaktionen auslöste.

Die vorliegende Ausgabe gründet auf der umgearbeiteten und ­erweiterten Textfassung von 1977. Neu wurde ein zweiter Teil hinzugefügt, in dem Niklaus Meienberg ausführlich auf die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte seiner Reportage eingeht. Dieser Beitrag ­erschien 1979 in der Zeitschrift das konzept und wurde vom Autor für diesen Band aktualisiert.


Niklaus Meienberg 1979.

Foto Walter Rutishauser/Bibliothek am Guisanplatz, Sammlung Rutishauser

Niklaus Meienberg (1940–1993), Historiker, Schriftsteller und Journalist. Er erfand die Reportage neu und dichtete ungeniert mit dem überlieferten Material europäischer Lyrik. Mit seinen Texten zur Zeitgeschichte war er ein grosser Streiter, dessen «Sprachgewalt» auch seine Feinde bewunderten. Wie kein zweiter hat sich Niklaus Meienberg der Öffentlichkeit ausgesetzt, seine ganze Person hat er in seine Texte eingebracht, und mit seiner ganzen Person ist er für sie eingestanden.

«Für mich ist Meienberg vor allem ein grosser Prosaautor. Wo diese Prosa schliesslich erschienen ist, das ist gleichgültig. Das ist ähnlich wie bei Heine. Heinrich Heine hat einen grossen Teil seines Werks für Zeitungen geschrieben. Das gehört heute zur verbindlichen deutschen Prosa.» Peter von Matt

Niklaus Meienberg

Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.

Limmat Verlag

Zürich

Die Erschiessung des
Landesverräters Ernst S.

Abzele

Böle schele

D’Chatz got uf

Walisele

Chunt sie wieder hei

Hät sie chrummi Bei

Piff Paff Puff

Und du bisch ehr- und

Redlich duss.

Schweizer Kinderreim

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1942 wurde der Fahrer Ernst S. in seinem 23. Lebensjahr unweit von Jonschwil (Kanton St. Gallen) in einem Wald erschossen, etwas unterhalb der Häusergruppe namens Bisacht. Es war aber kein Mord im landläufigen Sinn, und Ernst S. fiel auch nicht auf dem Felde der Ehre, sondern ein Detachement der schweizerischen Armee hat ihn hingerichtet. Die Infanterie hat im ganzen Krieg keinen Schuss auf den äusseren Feind abgefeuert, wohl aber je zwanzig Schuss auf siebzehn Landesverräter, und S. war der erste davon. Die ganze Aggressivität dieser auf dem Kriegsfuss stehenden Armee scheint sich nach innen entladen zu haben. Über die näheren Umstände der Hinrichtung gehen die Meinungen der Augenzeugen auseinander. Der protestantische Feldprediger Geiger, Pfarrer von Wil im Sanktgallischen, der S. auf seinem letzten Gang begleitete, sagt, die Exekution habe im Schein von Fackeln stattgefunden, und S. sei vollkommen gefasst und in sein Schicksal ergeben hinübergegangen. Der Fangschuss aus Offiziershand habe ihm nur verabreicht werden müssen, um die Soldaten des Exekutionspelotons zu beruhigen, denn der Leichnam des S. habe nach der Hinrichtung noch gezuckt, jedoch seien es reine Nervenzuckungen gewesen. Der Tod müsse sofort eingetreten sein, habe doch der Autopsiebefund im Kantonsspital St. Gallen ergeben, dass das halbe Herz des S. herausgerissen worden sei. Ein paar «höhere Zaungäste», Offiziere, die eigentlich laut Reglement bei der Hinrichtung nichts zu suchen gehabt hätten, seien auch dabeigewesen. Man habe S. an ein abgeastetes Tännchen gebunden, so dass nicht, wie bei anderen Exekutionen, das Tännchen gestürzt sei und der Exekutand damit. Bei der Bestattung auf dem Friedhof Kesselhalde in St. Gallen seien dann auch wieder ein paar höhere Uniformen dabeigewesen, während er als Feldprediger in Zivil gekommen sei. Auf der ganzen Fahrt zur Hinrichtung habe sich S. musterhaft ruhig verhalten. Der kommandierende Offizier habe jedem Soldaten eine scharfe Patrone gegeben. Soviel er, Geiger, wisse, habe nur ein einziger Soldat nicht geschossen.11 Telefongespräch, Mitte Juli 1974, mit Hauptmann-Pfarrer Geiger in Wil. Er müsse sich zuerst mit seinen Kollegen vom Stab besprechen, bevor er zu diesem Thema irgendetwas verlauten lasse, sagte er. Schliesslich gab er im Verlauf des viertelstündigen Gesprächs doch einige Erinnerungen preis. Bei einem zweiten Anruf vier Tage später sagte Pfarrer Geiger, er habe sich jetzt mit seinen Kollegen vom Stab besprochen, und sie seien zum Schluss gekommen, dass Stillschweigen bewahrt werden müsse. – Feldprediger der Schweizer Armee bekleiden im Dienst automatisch den Rang eines Hauptmanns und reden sich untereinander mit «Kamerad» an. Hauptmann-Pfarrer Geiger hat S. auch im Bezirksgefängnis von St. Gallen betreut, als dieser in Untersuchungshaft sass und später dort auf den Tod wartete (auch Pfarrer Gut von der St. Laurenzenkirche hat S. dort regelmässig besucht). – Dem Feldprediger obliegt es, die Exekutanden derart mit ihrem Schicksal zu versöhnen und aufs Jenseits zu vertrösten, dass sie ohne Aufhebens in den Tod gehen. Ein Exekutand, der sich sträubt und bis zum letzten Moment Widerstand leistet, könnte das Exekutionspeloton in Verwirrung bringen und das Exekutionsprotokoll stören. Deshalb darf keine Hinrichtung ohne Feldprediger stattfinden. Auch ein Sanitätsoffizier muss dabeisein, um den Tod festzustellen. Falls dieser nicht sofort eintritt, muss er den sogenannten Fangschuss anordnen, welchen ein Offizier mit der Pistole verabreicht, gewöhnlich in den Mund oder in die Schläfe. Protokollgemäss haben auch der Grossrichter, der Einheitskommandant, der Auditor (= Staatsanwalt im Militärstrafprozess) und, fakultativ, der Verteidiger der Exekution beizuwohnen. – Eine Frage, die ich diesem Feldprediger stellen wollte, lautete: Kann man als Gottesmann eine solche Arbeitsteilung akzeptieren und sich zu einem Rädchen der Hinrichtungsmaschine machen lassen, ohne über die Gerechtigkeit des Urteils nachzusinnen?

Ein anderer Zeuge, Dr. Zollikofer, der Verteidiger des S., sagt, die Erschiessung sei nicht auf Anhieb gelungen. Der durch die Schüsse verursachte Luftzug habe die Fackeln gelöscht. Man habe sie wieder entzündet, und die beiden Armeeärzte, Dr. Notter FMH und Dr. Ivanovitch, untersuchten den leblosen Körper des S. Dabei stellte sich heraus, dass keiner der Schüsse tödlich gewesen war, obwohl aus wenig Schritt Entfernung abgegeben. Der kommandierende Oberst Birenstihl habe deshalb einem Oberleutnant den reglementären Fangschuss befohlen. Dieser Oberleutnant, ein «phantastischer Schütze», habe seine Pistole gezückt und, mit Geschicklichkeit aus nächster Nähe zielend, einen Schuss abgegeben, welchen man wirklich «Tells Geschoss» nennen könne. Die Kugel sei stracks in den Tränenkanal eingedrungen, ohne Verwüstungen am Schädel des S. anzurichten, so dass den Zuschauern der Anblick von herumspritzenden Hirnteilen und dergleichen erspart worden sei. Dr. Zollikofer bestätigt, dass ein Rudel höherer Offiziere sich die Exekution nicht entgehen lassen wollte; die Offiziere blieben aber im Hintergrund, weil Oberst Birenstihl sie gebeten hatte, nicht allzu deutlich in Erscheinung zu treten.22 Auskunft Dr. Zollikofer vom 4. August 1974.

Der Sargschreiner Lamprecht aus Gossau (Kanton St. Gallen), welcher zum Exekutionspeloton gehörte, erklärt, er habe den Ernst, nachdem der am Bäumchen angebunden worden sei, noch gefragt: Ernst, willst du die Augen verbunden haben? Dieser jedoch, in seinem apathischen Zustand, sei ihm die Antwort schuldig geblieben, worauf ihm die Augen dann verbunden worden seien. Er, Lamprecht, sei anschliessend ins Glied zurückgetreten, worauf der Oberst dem Hauptmann befohlen habe, seines Amtes zu walten. Der Hauptmann habe den Befehl an die Soldaten weitergeleitet: Zum Schuss fertig, feuern. Die durch den Luftzug gelöschten Fackeln habe er dann wieder angezündet und den Ernst, welcher in den Stricken am Bäumchen hing, losgebunden. Nach der Untersuchung habe der Arzt dem Oberst gemeldet: Der Tod ist nicht eingetreten, worauf der Oberst dem Hauptmann den Befehl gab, seines Amtes zu walten. Der Hauptmann ging zu Ernst, setzte die Pistole an und schoss. Der Arzt untersuchte ihn nochmals, dann kamen zwei Sanitäter, sargten Ernst ein, deckten ihn zu und trugen ihn den Weg hinunter. Die Soldaten des Pelotons seien wieder nach Oberuzwil eingerückt, da konnten die Männer noch einen Kaffee trinken, es gab scharfen Kaffee, «und nachher konnten wir dann auch schlafen», sagt Lamprecht, der Sargschreiner aus Gossau.

Walter Wörnhard, Abwart in St. Gallen, gehörte zur Einheit des S., welche sich weigerte, ihn zu erschiessen. (Laut Militärstrafgesetz müssen Exekutanden von jener Einheit erschossen werden, zu der sie gehören.) Er sagt, es sei ihm eine andere Version als die des Feldpredigers Geiger zu Ohren gekommen. Der S. sei völlig von Sinnen gewesen, habe in seinen letzten Momenten getobt und geflucht und alle zum Teufel gewünscht, und zum Exekutionspfahl habe man ihn tragen müssen. Dem Obersten Birenstihl habe er Schlötterlinge angehängt, er sei gar nicht ruhig hinübergegangen. Über hundert Offiziere, und nicht nur ein paar, seien als Zaungäste dabeigewesen.

S., Ernst, Sohn des Emil und der Elise, geb. Müller, heimatberechtigt in Hettlingen bei Winterthur, wurde am 8. September 1919 in St. Gallen geboren, drunten im Sittertobel gleich neben der Färberei Frischknecht (heute Filtrox), wo sein Vater Arbeiter und Nachtwächter war. Er war das jüngste von jenen acht Kindern der Familie S., welche die Kindheit überlebten. Die Mutter schenkte zwölf Kindern das Leben, davon starben vier im Kindesalter. Vater S. war ursprünglich als Säger ausgebildet worden, hat aber zeitweise in der Fabrik und in der Landwirtschaft gearbeitet. Er war Grütlianer33 Vorläuferverein der sozialdemokratischen Partei. Eher gemässigt, was nicht hinderte, dass seine Anhänger auf dem Lande, und gar im stockkonservativen ‹Fürstenland› (Abtwil), als Kommunisten verschrien wurden. und hatte zeitlebens keine Illusionen über seine Möglichkeiten in der Gesellschaft. Oft habe er beim Sägen Verse gemacht, die er gern auf seinem Grabstein gesehen hätte, erinnert sich der Sohn Karl, der heute in Engelburg wohnt. Seine Grabsprüche seien derart beliebt gewesen, dass er auch für seine Freunde immer solche verfertigen musste. Einen besonders einprägsamen Spruch vermag Karl S. auch heute noch aus dem Gedächtnis zu rezitieren:

Hier ruht der Sager S.

Von Müh und Arbeit aus

Hier unter diesem Kreuze

hat er sein stilles Haus

Er fuhr hinab zur Hölle

Dort geht er aus und ein

Denn auch die Höllenklötze

Müssen gesäget sein

Hier liegt er auf dem Ranzen

Den Arsch wohl in die Höh’

Als ob er heut noch dächte

O Welt leck mir am Arsche

Hier ist es chaibe schö.

Vater S. scheint nicht sehr religiös gewesen zu sein, der Grabspruch auf dem Friedhof zu Abtwil wurde ihm nicht bewilligt. Er war ein Mann, der sich noch im Tode von den Bürgern unterscheiden wollte, indem er bäuchlings ruhte. Ob ihm dieser letzte Wunsch erfüllt wurde, ist nicht bekannt. Er hatte geahnt, dass seine Arbeitskraft auch in der Ewigkeit noch gebraucht würde, und obwohl er sich in die Hölle versetzte, schien ihm dieser Ort «chaibe schö», verglichen mit dem Erdenleben. Daraus kann geschlossen werden, in welchen Umständen der Säger S. auf Erden lebte. Man habe zu Hause kaum genug zu beissen gehabt, sagt der Sohn Otto, der vorzeitig pensionierte Fergger, der heute in Abtwil lebt. Als Bub habe er Äpfel klauen müssen, auch Kartoffeln heimlich ausgegraben und trotz Verbot in der Sitter Fische gefangen, damit nicht immer nur das ewig gleiche Habermus auf den Tisch kam. Der Vater sei geistig wach gewesen bis zum Schluss, noch mit 74 Jahren ein Kreuzworträtsel-Champion, und die Pfarrer habe er immer als Siechen und Halunken bezeichnet. Als Säger habe er zuletzt vielleicht 60 Rappen in der Stunde verdient, in der Färberei Frischknecht eher noch weniger. Sein Fabriklohn habe nirgends hingereicht, deshalb sei er zusätzlich Nachtwächter geworden. Ausgerüstet mit einem Hagenschwanz, musste er die Fabrik gegen Einbrecher schützen. Mit dem Hagenschwanz habe er dann oft die Familie regiert, wenn er müde und kaputt nach Hause kam. Er sei trotzdem kein Tyrann gewesen, habe oft noch Spässe gemacht, wenn auch grimmige. Natürlich sei er ein wenig ins Trinken gekommen, welch andere Lust blieb ihm als hie und da ein Gläschen? Der vergorene Apfelmost sei auch für ihn noch erschwinglich gewesen. Um Ernst, das jüngste der zwölf Kinder, habe er sich nicht gekümmert, da war er zu alt und wollte seine Ruhe haben, und die Mutter war schon 1936 gestorben. Die Mutter habe mit Heimarbeit das magere Budget aufbessern wollen, sei aber miserabel bezahlt worden von den St. Galler Textilbaronen, höchstens 30 Rappen in der Stunde, wie alle Heimarbeiterinnen damals. Sie habe sich die Gesundheit, welche durch den grossen Haushalt überbeansprucht war, damit noch ganz kaputtgemacht. Diese ostschweizerische Heimarbeit wird von Dr. Hermann Bauer, Lokalredaktor der Ostschweiz und Mitglied des Rotary-Clubs, so geschildert:

Union-Stickerei wurzelt im Ostschweizer Boden. Die Stickmaschine steht nicht nur in Fabrikhallen. Wir finden sie auch in Bauernhäusern. Der Sticker bleibt an seiner Maschine Bauer mit etwas Wiesland, etwas Acker und Kleinvieh. Er liebt seinen Beruf, der ihn mit der weiten Welt verbindet und doch nicht vom heimatlichen Boden löst. Die Ostschweizer Landschaft ist von zarter Anmut und nüchterner Strenge. Die Stickerei ist es auch. Sie entspricht dem helläugigen, wachen Ostschweizer. Die Wände seines Sticklokals sind zwar eng, aber sein Blick und seine Interessen sind weit. Da, im neuen Anbau am alten, geschindelten Bauernhaus im St. Galler Rheintal steht eine Handstickmaschine. Die Union hat sie hineingestellt. Draussen trocknet die Rheintaler Sonne väterliche Unterhosen und Kinderstrümpfe, indessen drinnen der 38jährige Sticker mit dem Pantographen dem sechsfach vergrösserten Muster nachfährt, auf dass es im Wunderwerk der Maschine zur Stickerei werde. Dafür ist der Tisch gedeckt und er auf seinem Boden eigener Herr und Meister. So wie er leisten rings im Land zahlreiche Heimsticker ihren Beitrag zur grossen Union-Produktion.44 ‹200 Jahre Union mit der Mode.› Festschrift zum zweihundertjährigen Bestehen der Union AG in St. Gallen, für welche Firma der Redaktor Bauer Public Relations machte.

Elise S., geborene Müller, die, inmitten dieser Ostschweizer Landschaft voll von Anmut und nüchterner Strenge, sich helläugig abrackerte (ob für die Union AG, für Stoffel, Mettler, Fischbacher, Forster Willy oder einen anderen, ist nicht bekannt), wird sich über den Opfermut ihres Direktors gefreut haben. Derselbe St. Galler Lokalidylliker und Dachdecker des Überbaus schreibt:

Ein Fenster leuchtet in die Nacht hinaus. Es gehört zum 1. Stock des Union-Geschäftshauses in St. Gallen. Dahinter liegt das Büro des Direktors. Wenn die anderen Fensterreihen längst dunkel geworden sind und die Hunderte von schaffenden Händen ruhen oder Dinge tun, denen ihre Feierabendliebe gilt, spricht das Schattenspiel in den aus der Nacht geschnittenen hellen Fenstervierecken von dem nicht an Bürostunden gebundenen minutiösen Überlegen und weltweiten Disponieren. Das steht am Anfang der Union-Produktion. Wendigsein und Bereitsein ist alles: Ungünstige Entwicklungen auf dem Weltmarkt müssen überwunden, Absatzgebiete gehalten, neue dazugewonnen werden. Die Suche nach immer andern Verwendungsmöglichkeiten der Stickerei darf nie aufhören. Man muss beim Kreieren mit dabei sein. Darum huscht der Schatten dessen, der sich darum bekümmert, noch nachts über die Gardinen. Darum erlöscht das Licht im Büro des Direktors so spät.55 Vgl. Anm. 4.

Auch Elise S. hat minutiös überlegt und disponiert, wenn auch nicht weltweit, auch sie ist wendig gewesen und immer bereit, aber auf einen grünen Zweig hat sie es trotz Heim- und Nachtarbeit nie gebracht. Ihre Söhne und Töchter durften mit einer Ausnahme nicht in die Sekundarschule, obwohl sie überdurchschnittlich hell waren, wie aus ihren Briefen hervorgeht. Es gelang Elise S. und ihrem Mann nicht, die ungünstigen Entwicklungen zu überwinden. Sie blieben im Tobel, und auch ihre Kinder kamen nur zeitweise in die Höhe. Die Älteste heiratete nach Abtwil auf einen Bauernhof. Louisa, die Zweitälteste, geboren 1899, wollte nicht so schnell heiraten, wollte sich emanzipieren. Sie suchte eine gute Arbeit in der Schweiz, fand keine, wanderte nach Paris aus, dann nach Mexiko und später nach Kuba, wo sie bei einer Familie Sanchez Gouvernante war. Sie hat in Hotels gearbeitet und soll vier Sprachen gekonnt haben, eine sehr schöne Frau, wenn man den Fotos glauben darf.6 6 Otto und Karl S. haben dem Verfasser eine ganze Anzahl von Fotos zur Verfügung gestellt: die vollzählige Familie drunten im Sittertobel, Ernst im Arbeitslager Carona, mit Zipfelmütze im Wald bei Holzarbeiten, Ernst in Uniform bei der Blasmusik Abtwil, ein Passbild von Ernst, Vater S. (vor dem Hof Wiehnachtshalde, mit Tabakpfeife), auf der Rückseite mit zittriger Schrift von seiner Hand vermerkt: «Geb. 26. X. 1872, Übertritt ins 71. Jahr, 26. X. 1942, Emil S., Sen.», Otto in jungen Jahren vor der Gärtnerei Frank («Gräber, Besorgung, Urnen, Dekoration»), und andere mehr. Von Gärtner Frank beschimpft, hat Otto denselben einmal in einen Buchsbaumkübel gesteckt und wurde entlassen. Schliesslich hat sie nach Caracas geheiratet und ist seit den fünfziger Jahren verschollen. Emil, der Zweitälteste, war auch im Hotelgewerbe tätig. Er ging zur Schwester nach Paris, kam zurück in die Schweiz, arbeitet jetzt seit dreissig Jahren in einem Betrieb der Zürcher Metallindustrie, ist Mitglied der Kommunistischen Partei geworden, wie sein Bruder Jakob. Jakob arbeitete wie der Vater in der Färberei von Dr. Frischknecht für 40 Rappen die Stunde (zehner und zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts), soll Dr. Frischknecht eines Tages gebeten haben, ihn am Arsch zu lecken, und ging dann nach Paris zu Louisa und Emil ins Hotel, durch den Dienstboteneingang. Dort sollen sie es schön gehabt haben miteinander. Er wirkte in Paris und Lugano als Hotelportier, «sah aus der Nähe, wie es die Reichen treiben», trat der Kommunistischen Partei bei, wie sein Bruder Emil. Von Fridolin, 1906 geboren und 1951 ledig gestorben, ist wenig bekannt. Otto, Jahrgang 1911, arbeitete in der Färberei Sitterthal, wo auch Ernst arbeitete, welche Färberei auch im Tobel gelegen ist, sehr romantisch am Wasserlauf der Sitter angesiedelt, ein wenig oberhalb von Frischknecht, und verdiente dort zum Beispiel 1939 die Stunde 92 Rappen, indem er von 6.30 Uhr bis 11.45 Uhr und von 13.30 Uhr bis 18.15 Uhr schaffte. Nach fünf Jahren Betriebszugehörigkeit bekam man damals zwei oder drei Tage Ferien im Jahr, an Samstagen wurde auch gearbeitet. Wie seine Brüder Jakob und Emil trat Otto der Kommunistischen Partei bei. Der bereits zitierte St. Galler Lokalidylliker Bauer, Germanist und Lokalredaktor, beschreibt die Landschaft im Sittertobel auf seine Art:

Steigen wir hinunter zur Sitter und verfolgen wir für ein paar Stunden ihren Lauf, so erleben wir eine Überraschung nach der andern, denn kaum eine wechselvollere Landschaft lässt sich denken als dieses mächtige Erosionsgebiet mit den steilen Flanken auf der einen und den seichten Ufern auf der andern Seite. Der erdgeschichtliche Kalender, die mächtigen Gesteinsschichten, liegen an manchen Stellen wundervoll zutage und lassen uns in vergangene Jahrhunderttausende und -millionen blicken. Bei der Erlenholzbrücke schwenken wir rechts ab und steigen durch Mischwald hinauf zur aussichtsreichen Warte des Peter und Paul.77 Aus der Feder von Dr. Bauer gibt es, obwohl er sich schon längere Zeit in St. Gallen aufhält, keine präzisen Beschreibungen der Ausbeutungsverhältnisse in St. Galler Fabriken, keine Notizen zum Lohn der St. Galler Arbeiter im Vergleich zum Profit der Fabrikanten. Bauer hat sich auf die Restauration der Kathedrale spezialisiert. Dieser restaurative Journalismus wird vom St. Galler Tagblatt

Es ist nicht bekannt, ob die Familie S. die Überraschungen geschätzt hat, die in den Fabriken an der Sitter auf sie warteten, und ob sie abends noch frisch genug war, die mächtigen Gesteinsschichten und den Mischwald zu goutieren. Jedenfalls Anna hat auf einen Bauernhof geheiratet, Moosmühlenstrasse 50, auch ziemlich im Tobel, wo sie den Ernst später aufnahm. Die Ehe soll nicht so glücklich gewesen sein, es war nämlich kein Geld da. Der Jüngste schliesslich, Karl, hat «nie eine Wirtschaft von innen gesehen jahrelang», werkte auf Bauernhöfen in der Umgebung und sparte sich das Geld für ein paar Stück Vieh vom Munde ab. Schliesslich konnte er den Hof seines Schwagers Keusen übernehmen, die sogenannte Wiehnachtshalde in Abtwil. Karl wäre ums Leben gern Bauer geblieben, aber der Hof war verschuldet. Es gab auch kein fliessend Wasser, die Installation hätte dreissigtausend Franken gekostet, also kaufte der St. Galler Textilbaron Mettler ihm die Wiehnachtshalde ab. Im Stall, wo früher der Ackergaul stand, schnauben jetzt Mettlers Reitpferde, die Wiehnachtshalde ist geschmackvoll renoviert und innen modernisiert, im obern Stock wohnt Mettlers Tochter, Karl S. aber musste im vorgerückten Alter ausziehen und umsatteln und arbeitet nun als Magaziner in der Firma Mettler.

So war das bei der Familie S. Der Vater Verdingbub in Hettlingen, wo er mehr Prügel als anderes bekam (sagt Otto), die Mutter früh zuckerkrank und arterienverkalkt, immer fleissig am runden Stickrahmen und dann die Stickerei in die Stadt hinauf gebracht, im Sommer gestohlene Fische, Krebse, Äpfel, Kartoffeln auf dem Tisch, im Winter manchmal ein paar Blutwürste, die der Vater aus dem Tschopen kramte: malerische Landschaft, manchmal Hungertuch, periodisch blutrot gefärbte Sitter durch die Chemikalien aus der Färberei, aber sonst konnte man baden. Ernst sei ein prächtiger Schwimmer gewesen, auch gut gewachsen, für einen Cervelat und ein Bürli sei er vom Dach der gedeckten Brücke ins Wasser gesprungen und habe sich nie verletzt dabei. Er sei sehr sportlich gewesen. Überhaupt ein begabtes Bürschchen, sagen die Brüder Emil, Otto und Karl. Die andern Geschwister sind gestorben oder mindestens verschollen.

Was wissen wir über Ernst S. und woher? S. wurde zur Unperson, nachdem er erschossen war. Er ist das Gegenteil einer «Persönlichkeit» im bürgerlichen Sinn. Man wollte ihn vergessen, verdrängen, Gras über ihn wachsen lassen, es gab nur schwülstige Mythenbildung über ihn. Trotzdem ist die Quellenlage nicht schlecht. Wer sich bemüht, kann den zweiunddreissigseitigen Bericht des Offiziers und Psychiaters Dr. H. O. Pfister, Nervenarzt FMH, weiland Direktionsmitglied der Appenzellisch-Ausserrhodischen Heil- und Pflegeanstalt, danach Stadt- und Platzkommandoarzt von Zürich, aufstöbern.

S. wäre unter normalen Umständen nicht zum Psychiater gegangen, dazu hatte man im Sittertobel kein Geld, aber weil er in die Rädchen der Militärjustiz geriet, wollte man ihn doch psychiatrisch untersuchen, der Zivilisation halber, bevor man ihn erschoss.88 Soweit der Verfasser es überblicken kann, kam S. als einziger der siebzehn Erschossenen in den Genuss einer psychiatrischen Untersuchung.

Pfisters Gutachten stützt sich materiell auf die Untersuchungsergebnisse von sieben ausgedehnten Sitzungen (25., 27., 30. Juli und 1., 6., 18. und 20. August 1942), die wegen Fluchtgefahr und ausgewiesener Fluchttendenz des Exploranden im ausbruchsicheren Gefängnis des Untersuchungsrichteramtes St. Gallen stattfanden. Ausserdem stellten Sie mir ihre Akten9 9 Mit ‹Sie› ist Grossrichter Lenzlinger gemeint, an den Pfisters Schreiben vom 3. Oktober 1942 gerichtet ist. Dr. Josef Lenzlinger, Jurist, Oberst, Studium in Einsiedeln und Fribourg, Bezirksamtsschreiber in Kirchberg und Wil, dann Departementssekretär im sanktgallischen Justizdepartement, Kantonsrichter, Gerichtspräsident, katholisch-konservativ. Wie sich Lehrer Lenzlinger an der Flurhofstrasse in St. Gallen, der mit ihm verwandt ist, erinnert, hatte der nunmehr verstorbene Oberst manchmal im «unterhaltenden Ton» von der Exekution des S. erzählt, bei welcher er assistierte.samt der Tatbestandsdarstellung des Untersuchungsrichters und dem motivierten Beweisdekret zur Verfügung.

Pfister hat ausserdem dankenswerterweise die Biografie des Ernst S. in seinem Gutachten rekonstruiert, und zwar recht minutiös, so dass wir genau wissen, in welchen Fabriken er wie lange gearbeitet hat. Davon ausgehend kann man sich heute in den Fabriken nach den Arbeitsbedingungen von damals erkundigen (was der Psychiater nicht tat). Pfisters Gutachten ist auch deshalb wertvoll, weil er alle Leumundszeugnisse, Zertifikate, Führungszeugnisse und ähnliches gesammelt hat, mit denen der kurze Lebensweg des Ernst S. gepflastert war. Daneben gibt Dr. Pfisters Gutachten auch Aufschluss über Dr. Pfister, das heisst über den Zustand der damaligen Psychiatrie, oder doch über jenen Teil, der reibungslos mit der Militärjustiz und ähnlichen Organen kollaborierte. Dr. Pfister hat im Irrenhaus von Herisau auch den Dichter Robert Walser behandelt.1010 Der aber «zu jener Zeit schon ganz ausgelöscht» gewesen sei (Telefon mit Dr. Pfister).

Pfister, Hans-Oscar, Jahrgang 1905, war 1942 Regimentsarzt im 19. Regiment der 8. Division im Hauptmann- oder Majorsrang, so genau kann er sich an den Rang nicht mehr erinnern1111 Telefon von Mitte Juli 1974 mit Dr. Pfister., hatte eine psychiatrische und neurologische Ausbildung in Berlin genossen. Vor dem Militärgericht sei er eine Stunde lang ausgequetscht worden in bezug auf sein Gutachten. Ein Offizier habe «übrigens geschlafen während dieser Gerichtssitzung», daran könne er sich genau erinnern. Pfister ist heute Alt-Stadtarzt von Zürich. Sein Gutachten sei nicht nach moralischen, sondern nach rein wissenschaftlichen Kriterien abgefasst, sagt er heute, und in seinen Beziehungen zu S. sei er «Mensch, das heisst, Psychiater gewesen». Wenn einer nicht «solid» gutachtet, dann wird er nicht beamteter Psychiater, sagt er. Zu S. habe er sich nicht wie die Obrigkeit zum Untertan verhalten, sondern wie ein Mensch zum Menschen. Über sein Gutachten Auskunft geben dürfe er nur, wenn er vom Oberauditor der Armee die Erlaubnis bekomme.1212 Vgl. Anm. 11.

Da die Verhandlungen des Militärgerichts damals geheim waren und nach Ansicht des Oberauditors auch weiterhin bleiben sollen1313 Auch alle an der Exekution Beteiligten mussten Stillschweigen geloben. Nach 32 Jahren scheint es manchem von ihnen jedoch angezeigt, dieses zu brechen., mag es für das Volk heute aufschlussreich sein, ein paar Einzelheiten zu erfahren. Denn S. war ganz demokratisch zu Tode gebracht worden, unter Einhaltung des Instanzenweges.

Andere wichtige Akten, das Zivilleben des Ernst S. betreffend, liegen im Archiv des Bezirksgerichts St. Gallen. Dort war man weniger zugeknöpft als im Oberauditorat.14 14 Schreiben des Justizdepartements des Kantons St. Gallen, signiert: Regierungsrat F. Schlegel, vom 17. Juli 1974 an den Verfasser: «… erteilen wir Ihnen hiermit die Bewilligung, in das Urteil des Bezirksgerichtes St. Gallen vom 3. November 1941 i. S. Ernst S. Einsicht zu nehmen …» Auch die Vormundschaftsbehörde St. Gallen steuerte einiges Wertvolles bei.15 15 Bewilligung zur Einsichtnahme in die Vormundschaftsakten Ernst S.; vgl. Anm. 14. Nur im sanktgallischen Militärdepartement, wo ein Herr Matzig, bei dessen Vater Ernst S. in die Schule ging, die Akte S. verwaltet, wollte man nach einem Telefongespräch mit Herrn Bernasconi vom Militärstrafwesen (Oberauditor) keinen Einblick gewähren. Die Akte S. lag schon auf dem Pult, griffbereit, aber zugleich unendlich fern. Berna locuta, causa finita. Bern hatte die Akten in St. Gallen eingesperrt. Weitere Dokumente wurden von Otto und Karl S. zur Verfügung gestellt, den beiden Brüdern im Weichbild St. Gallens; ein Beileidsbrief, Entwürfe des Gnadengesuchs, Briefe des Leiters der Erziehungsanstalt Langhalde, Photographien und anderes Anschauungsmaterial. Die Gemeinde Hettlingen ZH war wenig freigebig. Nur mit grosser Mühewaltung war es möglich, die Namen und Zivilstandsdaten der Angehörigen von Ernst S. (und sonst nichts) dort auf der Gemeindekanzlei beim subtilen Herrn Keller in Erfahrung zu bringen. Allgemein lässt sich sagen, dass die Informationsfreudigkeit von oben nach unten zunahm: Offiziere, zumal höheren Rangs, waren stets zugeknöpft bis verstopft, als ob sie etwas zu verbergen hätten. (Hauptmann-Pfarrer Geiger, Major Dr. Eberle1616 So war Oberst Dr. Karl Eberle Verwaltungsratspräsident von Benziger, einem der Verlage, welchem der Verfasser 1974 seine Ernst S.-Reportage angeboten hatte. Benziger musste denn auch «leider verzichten»., Major oder Hauptmann Dr. H. O. Pfister.) Soldaten und Unteroffiziere gaben meist gern Auskunft. Die Offiziere waren oft sehr pikiert, wenn man von S. sprach, manche waren verstimmt oder gar beleidigt1717 Als der Verfasser die Fakten zur Erschiessung der Fouriere E. und Z. zusammenstellte (vgl. Tages-Anzeiger-Magazin Nr. 32 und 33, 1973), machte er andere Erfahrungen: Justizoffiziere, Feldprediger, Exekutionsoffiziere, welche die Hinrichtung im Eigental geleitet hatten, sprachen offenherzig vom «gerechten Urteil» und von der «sauberen Exekution, die reibungslos verlaufen war»., andere hat es gewurmt.

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130 S. 1 Illustration
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9783038551577
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