Buch lesen: «Craving Lily»

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Craving Lily

Next Generation Aces 4

Nicole Jacquelyn


© 2020 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt

© Umschlaggestaltung Andrea Gunschera

© Englische Originalausgabe Nicole Jacquelyn 2017

© Übersetzt von Sylvia Pranga

ISBN Taschenbuch: 9783864439292

ISBN eBook-mobi: 9783864439308

ISBN eBook-epub: 9783864439315

www.sieben-verlag.de

Inhalt

Prolog

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Teil 2

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Danksagungen

Die Autorin

Prolog
Lily

Ich war früher blind. Das meine ich nicht metaphorisch. Ich war buchstäblich und legal sechs Jahre lang blind. Dafür gab es keine wirkliche Erklärung. Die Ärzte nannten es dissoziative Störung. Meine Eltern nannten es hysterische Blindheit. Ich weiß nur, dass ich eines Tages auf einer Familienfeier von meinen beiden Großmüttern zu Boden gerissen wurde und sie mich mit ihren Körpern bedeckten. Ihr Parfüm mischte sich mit dem Geruch des Grases unter mir, als sie mich vor einem Kugelhagel schützten. Ich kniff die Augen zu, als sie flüsterten, dass alles wieder gut werden würde, doch dann zuckten ihre Körper und wurden still.

Als es vorbei war und mein Vater ihre Leichen von mir herunterzog, öffnete ich die Augen und konnte ihn nicht sehen. Ich konnte nichts sehen.

Mit der Zeit wurden meine anderen Sinne schärfer, um das fehlende Augenlicht auszugleichen, und das Leben ging weiter. Natürlich war es anders. Lange Zeit hatte ich Angst, zu gehen, allein gelassen zu werden oder selbst zu essen. Was, wenn ein Insekt in meinem Essen war und ich keine Ahnung hatte? Was war, wenn ich stolperte und mein letztes bisschen Orientierungssinn verlor? Was war, wenn etwas passierte, wenn ich allein war und ich nicht darauf reagieren konnte, weil ich die Bedrohung nicht sah? Ich weigerte mich sogar zu schlafen, wenn ich meinen Dad den Flur hinunter nicht schnarchen hörte. Schließlich wurde es jedoch zu meiner neuen Normalität. Kinder sind robust, und das war bei mir nicht anders.

Meine Sehkraft kam in so kleinen Schritten zurück, dass sie kaum merkbar waren. In der Nacht, als meine Schwester ihre Sachen packte und mich bat, bis zum Morgen zu warten, ehe ich meinen Eltern sagte, dass sie weg war, fragte ich mich, warum sie nicht das Licht ausgeschaltet hatte, nachdem sie mich in ihrem Bett zugedeckt hatte und verschwunden war. Ich wusste, dass es im Schlafzimmer hell war, verstand es aber erst später, als meine Cousine Rose mich fragte, warum ich automatisch das Licht einschaltete, wenn ich in ein Zimmer kam.

Monatelang sah ich nur Licht und Schatten, als ob ich versuchen würde, durch ein weißes Laken zu sehen und dann plötzlich, als wäre sie nie weg gewesen, war meine Sehkraft wieder da. Einfach so.

Ich dachte über die Jahre ohne Augenlicht nach, während der Mann vor mir langsam auf und ab ging. Sein Haar war völlig zerzaust, weil er so oft mit den Fingern hindurchgefahren war. Er war gut gekleidet. Ein Russe. Jünger, als ich zunächst gedacht hatte, aber auch kräftiger. Sein Partner war weniger einschüchternd. Größer, aber wärmer. Die beiden hatten die letzten zwanzig Minuten etwas auf Russisch diskutiert, und ich hatte keine Ahnung, was sie gesagt hatten. Ich hatte ebenfalls keine Ahnung, wie sie auf das Grundstück gekommen waren. Cams und Trix’ Grundstück wurde bewacht, war eingezäunt und nur einen Steinwurf vom Motorradclub der Aces entfernt. Einst hatte das Haus meinen Großeltern gehört und war gebaut worden, um Angriffen standzuhalten. Mein Großvater war Präsident des Clubs gewesen, also hatte er einen Panikraum ins Büro einbauen lassen. Leider hatte ich nicht genug Zeit, um hineinzukommen, nachdem die Männer ins Haus eingedrungen waren. Ich hatte es jedoch geschafft, meinen Neffen Handzeichen zu geben, sodass sie sich jetzt außer Sichtweite befanden. Mein Gott, ich hoffte, sie verstanden, was sie tun sollten.

„Dein Name?“, fragte mich der jüngere Mann zum zehnten Mal.

Ich antwortete nicht. Ich hatte keine Ahnung, was sie vorhatten, aber wenn sie Informationen über den Club hatten, zu dem alle Männer meiner Familie gehörten, würde das bestimmt meine Stirn zur Zielscheibe werden lassen.

„Wie heißt du denn?“, konterte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ich wurde frech, das wusste ich, konnte den Impuls aber nicht unterdrücken. Sie hatten mich auf einen Stuhl geschoben, nachdem sie sich ins Haus gedrängt hatten. Keiner der Männer hatte mich angerührt. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich aufhalten würden, wenn ich versuchen würde, abzuhauen, mir aber ansonsten keinen Schaden zufügen wollten. Ich musste nur dafür sorgen, dass ihre Aufmerksamkeit auf mich gerichtet blieb, damit sie nicht das Haus durchsuchten.

Der kräftigere Kerl sah zur Haustür und murmelte etwas Unheilvolles, was den jüngeren noch nervöser machte. Sie warteten auf etwas, doch ich wusste nicht, auf was.

„Weißt du, du solltest hier besser abhauen“, sagte ich zu dem zappeligen Typen. „Wenn jemand bemerkt, dass du hier bist, bist du tot.“

„Halt die Klappe, Miststück“, sagte der Kräftige mit so starkem Akzent, dass ich eine Weile brauchte, um die Worte zu verstehen. „Halt einfach die Klappe.“

„Ich meine es ernst. Ihr beiden seid am Arsch“, fuhr ich fort und beobachtete den Jüngeren beim Hin- und Herlaufen. „Haut einfach ab, und ich muss niemandem sagen …“

Der Kräftige muss stinksauer gewesen sein, weil ich seine Warnung ignoriert hatte, denn eine große Faust knallte gegen die Seite meines Kopfes und alles wurde schwarz.

Als ich eine Weile später wieder aufwachte, dachte ich kurz, dass die Blindheit zurückgekommen wäre. Ich konnte nichts sehen, nicht eine einzige Form oder auch nur Licht. Erst als meine Augen zu brennen begannen, begriff ich, dass ich nicht blind war. Dann fing ich an zu husten, weil überall um mich herum Rauch war.

Teil 1

Kapitel 1
Leo

„Willst du heute Abend zu der Party am Kanal gehen?“, fragte mich Cecilia, als ich mich neben sie auf die Couch fallen ließ. Ich war so verflucht müde, hatte ihr aber versprochen, vorbeizukommen, also hatte ich mich zum Haus ihrer Eltern geschleppt. Es war verdammt seltsam, dort zu sein. Ich hasste es.

Es war erst etwas über ein Jahr her, seit ich auf der Party im Garten des Hauses ins Gesicht geschossen worden war, aber ich hatte nie jemandem erzählt, wie unwohl ich mich fühlte, wenn ich in dieses Haus ging. Das hätte ich sonst noch ewig zu hören bekommen.

„Nein, nicht heute Abend“, stöhnte ich und ließ den Kopf auf die Couchlehne sinken. „Ich bin total erledigt.“

„Hi, Leo“, rief eine süße Stimme. Cecilias kleine Schwester Lily kam ins Zimmer, gefolgt von ihrer Cousine Rose. Sie bewegte sich nicht schnell, es war aber auch kein Zögern in ihren Schritten zu bemerken, als sie zu uns kam und sich auf den Teppich vor uns kniete.

„Kannst du das nicht anderswo machen, Lil?“, zickte Cecilia sie an, als Lily ein Buch auf den Couchtisch legte.

„Nein“, murmelte Lily. „Mom hat gesagt, ich soll es hier unten machen. Es ist ja nicht so, dass ich euch sehen könnte, also tut, was immer ihr wollt.“

„Oh, nein, bitte nicht“, grummelte Rose. „Ich kann euch nämlich sehen.“

„Ignorier sie einfach“, sagte Lily leichthin. „Das tue ich jedenfalls.“

„Ach, Löwenzahn“, ärgerte ich sie und lächelte über ihre besserwisserische Miene. „Du weißt, dass du mich nicht ignorieren kannst.“

„Ich tue mein Bestes“, konterte sie und machte eine scheuchende Bewegung mit der Hand. Sie schlug das Buch auf und ich beugte mich vor, um einen Blick auf die sehr einfache Geschichte für Kinder zu erhaschen, die in Schrift und Braille geschrieben war.

„Bereit?“, fragte Rose und drehte sich ein bisschen, sodass sie mir und Cecilia den Rücken zuwandte.

„Ich denke schon.“ Lilys Miene wurde ernst. Ihr Finger berührte die erste Seite und glitt über das Papier, bis sie die kleinen Erhöhungen fand. Ihre Lippen bewegten sich, als sie langsam mit der Fingerkuppe über die Braille-Schrift fuhr. Langsam sagte sie: „Es war einmal …“

„Oh, Mann, das hast du ja noch gar nicht gesehen“, flüsterte Cecilia und nahm einen Stift vom Beistelltisch. „Sieh dir das an.“

Bevor ich sie aufhalten konnte, warf sie den Stift auf Lily.

Wut stieg so schnell in mir auf, dass ich ihr Handgelenk fest umfasst hatte, bevor sie auch nur den Arm senken konnte.

Vor Überraschung blieb mir der Mund offenstehen, denn Lily wich dem Stift aus und fing ihn auf, als hätte sie ihn gesehen.

„Was zum Teufel soll das, Cecilia?“, fragte sie, und ihre Wangen röteten sich.

„Pass auf, was du sagst“, konterte Cecilia und riss sich von mir los. „Du weißt, dass du nicht so reden sollst.“

„Fick dich!“, rief Lily kochend vor Wut. Sie schlug mit den Fäusten auf den Couchtisch, was das ganze Ding zum Klappern brachte.

„Ihr seid solche Arschlöcher“, zischte Rose und sah uns finster an.

„Ich wusste, dass du ihn fangen würdest“, sagte Cecilia und warf mir einen Blick zu, bevor sie sich wieder an ihre Schwester wandte. „Du fängst sie immer.“

„Nicht, wenn ich mit etwas anderem beschäftigt bin“, schrie Lily, offensichtlich verlegen, zurück. „Was zum Teufel ist los mit dir? Warum tust du so etwas?“ Sie stand auf und fiel fast zur Seite, weil sie auf den Stift trat und wegrutschte.

Mein Herz hämmerte und mein Magen zog sich zusammen, als Tränen in Lilys Augen traten. Himmel noch mal. Ich war nicht in Cecilias kleine Demonstration eingeweiht gewesen und fühlte mich trotzdem höllisch schuldig.

„Was zur Hölle ist hier los?“, fragte Farrah, die ins Zimmer gelaufen kam.

Lily hob das Kinn und sagte kein Wort, als ihre Mutter ein paar Schritte auf uns zukam.

„Also?“ Farrah sah uns reihum an, bis ihr Blick schließlich an Rose hängenblieb. „Was ist passiert?“

Als Rose sich weigerte, zu antworten, sah Farrah Lily an. „Erzählst du mir mal, warum ich dich bis nach oben Obszönitäten schreien gehört habe?“

„Petzen werden verprügelt“, murmelte Lily mit düsterer Miene. Dann hob sie die Faust in Roses Richtung und wartete darauf, dass sie ihre Knöchel dagegen stieß.

„Himmel, du hast zu viel Zeit im Club verbracht“, schnaubte Farrah. „Und du auch.“ Sie zeigte auf Rose und sah dann zu Lily, die versuchte, den Stift mit ihrem Fuß zu verstecken.

„Cecilia“, sagte Farrah ausdruckslos und richtete den Blick auf uns. „Sag mir, dass du deine Schwester nicht mit einem verdammten Stift beworfen hast.“

„Sie fängt ihn immer auf!“, antwortete Ceecee und zuckte mit den Schultern. „Es ist ja nicht so, dass ich dachte, ich würde sie damit treffen.“

Farrah sah mich an, dann wieder Lily, ehe sie etwas sagte. „Die beiden haben zu viel Zeit im Club verbracht.“ Sie wies auf Rose und Lily. „Aber ihr habt eindeutig zu wenig Zeit dort verbracht. Du musst lernen, was Loyalität bedeutet, Cecilia. Deine Schwester ist keine verdammte Zirkusnummer.“

Ceecees Kinn zitterte. Sie warf mir einen Blick zu, sprang auf und rannte aus dem Zimmer.

„Ich hätte gedacht, dass du es besser weißt“, sagte Farrah an mich gerichtet verächtlich, doch Rose unterbrach sie.

„Er hat versucht, sie aufzuhalten, Tante Farrah“, sagte Rose ruhig. „Vielleicht solltest du das Onkel Casper sagen, damit er morgen, wenn er die blauen Flecken auf Ceecees Handgelenken sieht, Leo nicht umbringt.“

„Ich wusste nicht, was sie vorhatte“, sagte ich, wobei ich meine Worte an Lily richtete, die verlegen schweigend herumstand. „Als mir klar wurde, dass sie den Stift werfen wollte, versuchte ich, ihren Arm festzuhalten, bevor sie ihn loslassen konnte.“

„Ich bin sicher, dass es Cecilia gutgeht“, sagte Farrah und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Rose, es ist Zeit, dass wir dich nach Hause bringen. Pack deine Sachen zusammen.“

„Kann ich bei Rose übernachten?“, fragte Lily schnell und lächelte ihre Mutter schmeichelnd an.

„Nein“, antwortete Farrah. „Ihr beiden habt zwei volle Wochen miteinander verbracht. Ihr werdet es überstehen, eine Nacht getrennt zu sein.“

„Oh, Mann“, beklagte sich Rose und ging mit düsterer Miene aus dem Zimmer.

„Fährst du mit uns, Lily Liebling?“, fragte Farrah. Sie nahm ihre Handtasche und schob die Füße in Schuhe.

„Nein.“

„Hör auf zu schmollen. Sonst bleibt dein Gesicht noch so.“

„Das ist okay für mich, denn ich kann es ja nicht sehen.“

„Dann hab ein bisschen Mitleid mit deiner Mutter, die es nicht sehen will“, sagte Farrah trocken. „Lass uns fahren, Rose!“

Ich beobachtete das Ganze, blieb aber auf der Couch sitzen, als Farrah Rose nach draußen drängte und hinter sich die Tür schloss. Ich wollte gehen, wusste aber, wenn ich es täte, würde Cecilia Telefonterror machen, wenn sie nach unten kam und sah, dass ich nicht mehr da war. Ich war nicht einmal mehr sicher, warum ich mir ihren Scheiß noch gefallen ließ. Ich denke, es war einfach leichter, sie ihre Spielchen spielen zu lassen, als mich mit dem ganzen Mist auseinanderzusetzen, den sie veranstalten würde, wenn ich mit ihr Schluss machte.

„Du kannst ruhig nach oben gehen“, sagte Lily, griff nach unten und nahm ihr Buch. „Hier ist niemand, der dich aufhalten würde.“

„Schon gut“, antwortete ich.

Sie trat zwei Schritte zur Seite, streckte die Hand zum Sessel in der Ecke aus und strich mit den Fingern über die Armlehne, bis sie sicher war, wie er ausgerichtet war. Dann ließ sie sich mit einem Seufzen hineinfallen.

„Sie liebt mich, weißt du“, sagte Lily nach ein paar Minuten Schweigen. „Sie hat nur eine Show abgezogen.“

„Sie hat sich wie ein Arschloch benommen.“

„Es war keine große Sache“, widersprach sie und schüttelte den Kopf. „Solche Dinge passieren in der Schule die ganze Zeit.“

„Die Leute machen dir Ärger?“, fragte ich düster und beugte mich vor. Der Gedanke, dass irgendjemand das kleine Mädchen vor mir schikanierte, erweckte in mir den Wunsch, ein paar Mittelschülern in den Hintern zu treten.

„Ach, vergiss es“, meinte sie fröhlich und warf die Hände in die Luft. „Ich kann auf mich selbst aufpassen, und wenn ich mit jemandem nicht fertig werde, kümmert Rose sich darum.“

„Das ist doch Mist. Es sollte dich überhaupt niemand schikanieren.“

„Ist schon okay. Wenn ich ein Junge wäre, würdest du mir sagen, dass ich selbst damit fertig werden soll. Ich brauche von niemandem Hilfe.“

„Nein, das würde ich nicht. Wenn einer der Jungs ein Problem hätte, würde ich mich darum kümmern.“

„Du meinst, wenn einer der Jungs blind wäre und ein Problem hätte“, antwortete sie wissend und schüttelte den Kopf. „In der Schule ist alles in Ordnung. Ich meinte nur, dass du Cecilia nicht für einen schrecklichen Menschen halten sollst. Das ist sie nicht. Sie hat nur versucht, eine Show abzuziehen.“

„Ich kenne Ceecee, seit wir Babys waren, Löwenzahn. Ich denke, dass ich sie inzwischen gut einschätzen kann.“ Das war die Wahrheit. Und die Wahrheit war auch, dass Cecilia sich wie ein verwöhntes Gör benahm. Das würde ich ihrer kleinen Schwester jedoch nicht sagen.

„Jetzt erzähl mir, was die Kinder in der Schule gemacht haben.“

„Mein Gott! Nichts“, antwortete sie. „Haben die Kinder in der Schule dich schikaniert, als das mit deinem Gesicht passierte?“

„Verdammt, Löwenzahn.“ Ich verzog das Gesicht. Die meisten Menschen erwähnten mein Gesicht nicht. Sie redeten um den heißen Brei herum oder taten so, als hätten sie es nicht bemerkt, was unglaublich blöd war. Natürlich sahen sie die Narbe, die sich quer über meine Wange bis zu meinem Auge hochzog. Ich versuchte ja auch nicht, sie zu verbergen.

„Nein, niemand hat mich schikaniert. Sie haben sich gehütet.“

„Ist sie schlimm?“, fragte sie und drehte den Kopf in meine Richtung. „Deine Narbe?“

„Nicht gerade schön“, murmelte ich und strich mit den Fingern über die Haut, die ich nicht mehr spüren konnte.

„Darf ich sie anfassen?“

„Was?“

„Darf ich deine Narbe berühren? Niemand will sie mir beschreiben, auch nicht, wenn ich danach frage.“

Ich starrte sie mit großen Augen fast eine Minute an. Lily war ein süßes Kind. Hübsch auf eine Art, die zeigte, dass sie als Erwachsene umwerfend aussehen würde, aber sie wirkte immer noch so unschuldig, dass es fast schmerzlich war. Sie hatte den Knochenbau ihrer Mutter und von ihrem Vater das dunkle Haar und die sonnengebräunte Haut. Sie hatte das Beste von beiden Elternteilen bekommen, auch wenn ich das Cecilia, die blondes Haar und helle Haut hatte, nie sagen würde. Lily hatte nicht den geringsten Anflug von Gemeinheit in sich und würde auf keinen Fall etwas über meine Narbe sagen, außer sie hatte schon eine Weile darüber nachgedacht.

„Äh, klar“, antwortete ich schließlich und räusperte mich.

Sie hüpfte aus dem Sessel, bevor ich von der Couch aufstehen konnte, ging vorsichtig um den Couchtisch herum und achtete darauf, in nichts hineinzulaufen. Sobald ich mich vorbeugte, war sie vor mir, die Hände in Brusthöhe gehoben.

„Welche Seite?“, fragte sie und legte den Kopf auf die Seite. „Zeig mir, wo sie ist.“

Mein Herz hämmerte, ich atmete tief durch, nahm eine ihrer Hände und führte sie an mein Gesicht. Niemand hatte je meine Narbe berührt, außer mir und dem Arzt, der mich genäht hatte. Selbst Cecilia gestattete ich nicht, ihre Hände auf mein Gesicht zu legen. Es fühlte sich einfach zu merkwürdig an, wenn die taube Haut berührt wurde. Das war für mich Übelkeit erregend.

Die Narbe war auch furchtbar hässlich. Ich musste mich immer noch daran gewöhnen, kein Witz. Bevor ich angeschossen wurde, hatten sich die Frauen reihenweise für mich interessiert, wenn ich das auch kaum ausgenutzt hatte. Aber danach? Nur die Freaks, die Fetische und einen Vaterkomplex hatten, wollten noch etwas von mir.

Und Cecilia. Aber ich könnte schwören, dass dieses Miststück sich immer auf die entgegengesetzte Seite meiner Narbe setzt, damit sie sie nicht ansehen muss.

„Es ist …“ Lily brach ab, hob die andere Hand und strich mit den Fingern über beide Seiten meines Gesichts. Dann fuhr sie mit einem einzelnen Finger über die gezackte Linie der immer noch leicht hochstehenden Haut. „Das ist ja kaum etwas!“, sagte sie verärgert. „Du benimmst dich, als wärst du der Glöckner von Notre Dame, und das hier ist alles?“

Ich öffnete den Mund, schloss ihn aber überrascht wieder, als sie leicht auf meine vernarbte Wange klatschte. „Sei nicht so ein Weichei, Leo.“

Ich lachte überrascht auf. In diesem Moment dröhnten Schritte die Treppe hinunter.

„Was macht ihr beiden da?“, fragte Cecilia misstrauisch.

„Was glaubst du denn?“, fragte ich unheilvoll. Sie meinte besser nicht das, wonach es klang.

„N-nichts“, stammelte Lily, ließ die Hände sinken und ging um den Couchtisch herum. Ihre Wangen wurden glühend rot, als sie vorsichtig das Zimmer verließ.

Mit unbeholfenen Schritten bewegte sie sich in die Küche, und ich sah Cecilia angewidert an, als sie anfing zu lachen.

„Jemand ist verknallt“, sang sie und zeigte mit dem Daumen in die Richtung, in die Lily gerade verschwunden war. Ihre süße kleine Schwester, die sie mit Sicherheit noch hören konnte und die wahrscheinlich vor Verlegenheit fast starb.

Ich presste die Zähne aufeinander und stand auf.

„Manchmal bist du ein verdammtes Miststück, weißt du das?“ Ich schüttelte den Kopf und ging an ihr vorbei zur Haustür.

Ich hatte keine Ahnung, warum Cecilia ihre kleine Schwester so behandelte. Ich hatte viel angestellt, um meine ältere Schwester Trix zu nerven, als ich noch ein Kind war. Aber ich hätte mir eher den Arm abgehackt, als sie absichtlich zu verletzen. Für mich ergab es keinen Sinn, dass Cecilia die ständigen Sticheleien gegen ihre Schwester nicht lassen konnte.

Ich war wütend, als ich auf mein Motorrad stieg, konnte aber nicht anders, als leise über die letzten Worte der Kleinen an mich zu lachen. Verdammt, ich hoffte, dass sie sich nicht darüber aufgeregt hatte, dass Cecilia so ein Arschloch war.

Nur, um mich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war, lief ich die Verandatreppe wieder hinauf und streckte meinen Kopf durch die Haustür.

„Mädchen sollten nicht so ein schmutziges Mundwerk haben, Löwenzahn!“, rief ich durch die Öffnung.

Ihre Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

„Blödsinn! Kennst du meine Mutter nicht?“

Ich grinste, machte die Tür wieder zu und ging zu meinem Bike. Lily ging es gut. Das Mädchen hatte ein dickes Fell.

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