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Es ist kein Fließbandtag an dem Robert in eine Art Kettenreaktion von unvorhersehbaren Ereignissen hinein gerät, während seine Jugendliebe Melanie unversehens in die Folgen eines Bankraubs verwickelt wird. Derweil wird Robert in einem Berliner Stadtpark zum unfreiwilligen Zeugen eines dramatischen Liebesspiels des zwielichtigen Bruno Lahn und seiner blutjungen Gespielin Emilie, landet dann ohne Ausweis auf einem Polizeirevier und wird Zuschauer, wie eine entlaufene Raubkatze ihren Beutezug antritt.

Total verquer, witzig, spannend, keine Minute weiß man, wie es weiter geht und die verrückten Ideen über schlagen sich.

α

Prolog

Aus gut unterrichteten Kreisen wurde bekannt, dass die Deutsche Bank ihr Firmenjubiläum in ihren eigenen Räumen mit einer sehr seltenen Leihgabe der OeNB, der Oesterreichischen Nationalbank, begehen würde. Die OeNB hatte ein Exemplar des sogenannten Big Phil für die geladenen Gäste zur Verfügung gestellt. Aus gebührendem Abstand konnte so ein jeder eine der weltweit größten Münzen in Augenschein nehmen. Der aktuelle Wert der Münze läge bei 1,3 Millionen Euro, hieß es.

1.

Hoppelt der Osterhase heute unterm Weihnachtsbaum oder ist Fließbandtag angesagt?, dachte Robert. Vor ein paar Wochen hatte er eine sonderbare Bezeichnung kreiert, er nannte dieses morgendliche Gefühl: Fließbandtag. Das Wetter war ansprechend, blauer Himmel mit vielen weißen Wolken. Es machte Lust auf einen Ausflug ans Meer.

Was er nicht wusste war, dass mit Beginn dieses Tages sein Leben ihm das Potential zur Vorlage eines Thrillers bereithielt.

Er zog sich seine Joggingsachen an und verließ das Haus, um gegenüber im Park seine Lieblingsstrecke in Richtung Teltowkanal zu beginnen. Der dicke Besitzer der kleinen Autovermietung, dessen Geschäftsräume direkt an einem der Parkeingänge lagen, schenkte ihm ein sehr reduziertes „Morgen!“, und beendete seine Wanderung, angekleidet in verblichenen Bermudas, in Enten-Watschel-Manier, von seiner Wohnung, die um die Ecke gelegen war, bis an die Eingangstür seines Arbeitsplatzes.

Manchmal konnten die ersten Meter des Joggings eine Qual sein, doch an diesem Fließbandtag hatte Robert das Gefühl mit Leichtigkeit die 16km bis Potsdam hin und zurück laufen zu können. Auf dem Weg, der etwas abschüssig durch die Birkenwiese zu den beiden Teichen führte, löste sich in nicht allzu weiter Entfernung ein Schuss oder war es eher eine Explosion? Das konnte man nicht so genau unterscheiden. Aufgescheucht stoben einige Enten auseinander und flogen in Richtung des nahe gelegenen Bäke-Parks.

Ebenso aufgescheucht durch seinen Vierbeiner, begegnete ihm nun Herr Schenck. Wie so oft musste er mit seinem Collie kämpfen, denn auch der schien durch den Schuss sehr verängstigt worden zu sein. Mit aller Kraft zerrte dieser Hund an der Leine, sodass er schon fasst in ein Joggingtempo verfallen musste.

Ein idealer Schlittenhund, dachte Robert

„Ist ja gut, Frau Bella! Niemand will Sie erschießen!“, schimpfte Schenck.

Was für ein seltsamer Zeitgenosse er doch ist! Robert war noch nie aufgefallen, dass er seine Hündin siezte!

Er sollte doch seinen Kater auch mal siezen. Das stellte er sich lebhaft vor: Kommen Sie einmal her Herr Mikesch! Sie haben ja Ihr Fresschen noch gar nicht aufgegessen!

Anlässlich des letzten Stadtparkfestes, der Park feierte seinen einhundert Jährigen Geburtstag, gab es auf der kleinen Freiluftbühne ein musikalisches Rahmenprogramm. Der Zufall wollte es, dass er neben Hubert Schenck zu sitzen gekommen war. Sie hatten sich angeregt über ihre Musikgeschmäcker unterhalten.

Schenck hatte schon zum sechsten Mal genullt, war aber neben seinen Favoriten aus den siebziger Jahren durchaus auch aktuellen Musikrichtungen zugetan! Seine momentanen Tipps neben den Eels und Soap&Skin, waren französische Musikschaffende, bei denen Julien Doré an erster Stelle rangierte.

Robert seinerseits war noch nie ein echter Fan von irgendeiner Gruppe oder einem Musiker gewesen. Wenn er mal mit Stöpseln in den Ohren joggen ging, so ließ er sich in letzter Zeit gern den Lauf von der Ukrainerin Marina Baranova mit ihren Klavierinterpretationen untermalen.

Sein Gesprächspartner an jenem Tag im Juni erzählte ihm noch, dass seine zweite große Leidenschaft neben der Musik, die Literatur sei. Haruki Murakami war sein Held, dem er gern auch nacheifern würde. Denn Schenck schrieb selbst auch. Sein neues Projekt war wohl die Story über einen Vater, dessen Tochter von ihrer Mutter bösartig gegen ihn aufgehetzt und ihm kontinuierlich vorenthalten worden war. Darüber geriet er geradezu in Rage. Wie viele Kinder, deren Geschichten in Dokumentationen oder Spielfilmen veröffentlicht wurden, suchten ihre Eltern über die ganze Welt verteilt und in dem Fall über den er wohl gerade schrieb, war das Gegenteil der Fall. Diese Tochter hatte nichts mit ihrem leiblichen Vater am Hut! Schenck sagte ihm noch, dass eine derartige Mutter schon wie eine Brunnenvergifterin agieren könnte und dass das Gift aus dem Brunnenwasser zu filtern praktisch unmöglich sei! Ein so negativ beeinflusstes Kind könne nicht mehr anders, es musste wohl oder übel seinen Vater hassen!

Robert hatte schon den Eindruck gehabt, dass Schenck selber betroffen wäre.

Doch dann war ihre Unterhaltung abrupt unterbrochen worden, weil ein heftiger Sommerregen die gesamte Veranstaltung im wahrsten Sinn des Wortes hatte ins Wasser fallen lassen.

Er tauchte auf aus seinen Gedanken, denn eine neuerliche Begegnung mit einem Vierbeiner forderte seine Aufmerksamkeit.

Auf der Holzbrücke, die über den Verbindungsgraben der beiden Teiche angelegt war, kam ihm ein tapsiger, schwarzweißer Husky entgegen. Eine junge blonde Frau in einem luftigen Sommerkleid rief besorgt in einiger Entfernung nach ihrem Hund. Der allerdings ließ sich keineswegs von seinem Frauchen beeindrucken, sondern stoppte Roberts Lauf ungerührt und begann sehr interessiert an seinen Schuhen zu schnüffeln. Auch ein weitaus energischerer Tonfall der Frau, „Jukka, Jukka, aus!“, änderten nichts an Jukkas Neugierde. Inzwischen war sie auf der Höhe des Geschehens, nahm ihre Sonnenbrille ab und lächelte Robert mit kecker Mine an.

„Sie ist gerade mal ein halbes Jahr alt, ist sehr verspielt und gehorcht nur zeitweise!“, meinte sie in einem schelmischen Tonfall.

„Ist schon okay, die ist ja wirklich sehr süß mit ihrem Mickey-Mouse-Gesicht“, beruhigte Robert die Husky-Besitzerin.

Doch dann ging ein Grinsen über sein Gesicht.

„Melina! Ich hätte dich ja fast nicht wiedererkannt! Wohnst du jetzt hier im Dreh?“

„Noch nicht allzu lange! Ich hatte allerdings keine Mühe dich zu erkennen! Aber du bist ja am Laufen. Ich will dich nicht länger aufhalten. Finde ich dich bei Facebook?“

„Klar! Immer noch Robert Prinz. Würde mich freuen, Melina!“

„Okay, alter Weiberheld! Ich werde deine Freundschaft anfragen!“

Robert begann seinen Laufrhythmus noch im Stehen und meinte:

„Bis bald auf Facebook!“, fügte er verschmitzt hinzu und nahm sein Joggingtempo wieder auf.

„Auf jeden Fall!“, hörte er sie hinter sich und war schon dabei die Sedanstraße zu überqueren.

Als er an der großen Goebenwiese vorbeilief, krachte es erneut und diesmal war es eindeutig! Es handelte sich um einen Schuss und er fand ein Echo an den Mietshäusern am anderen Ende der Wiese. Eine entsetzte Frauenstimme schrie laut auf.

Robert verlangsamte sein Tempo, drehte sich um, konnte jedoch nirgends etwas entdecken. Keine angeschossene oder gar erschossene Person und auch keine hilflose Frau waren zu sehen.

Das Gesicht von Melina mit ihrem Husky kam Robert plötzlich in den Sinn. Galt der Schuss ihr? Hatte sie so geschrien?

Der Weg am Kanal in Richtung Teltow war menschenleer. Am Klinikum Steglitz, dessen Fassade in den letzten Jahren als Kulisse für diverse Filme herhalten musste, egal ob die Handlung in Berlin, in Bayern oder Schleswig-Holstein angelegt war, war ein Rettungshubschrauber dabei mit lautem Getöse abzuheben. Robert fühlte sich plötzlich wie in einem Sandsturm, hielt die Hände vor die Augen, aber zu spät! Sein linkes Auge, einigermaßen gesandstrahlt, fing an ergiebig zu tränen. So konnte er, fast blind, nicht weiterlaufen! Glücklicherweise war hinter dem Klinikgelände eine Holzbank, eingerahmt von Hagebuttensträuchern, auf die er sich setzen konnte, bis sich das Brennen gelegt haben würde und er wieder klarsichtig wäre.

Unverhofft spürte er etwas Feuchtkaltes an einer Hand. Er tastete daran, etwas unsicher und hatte das Gefühl eines weichen Pelzes.

Unglücklicherweise schien der Hubschrauberlandeplatz in diesem Moment sehr begehrt zu sein und glich einem überdimensionierten Bienenstock, denn nun begann ein weiterer Helikopter, entsprechend geräuschintensiv, mit seinem Landeanflug auf das Klinikgelände. Selbst hier, geschützt vom Hagebuttengebüsch, herrschten erneut krasse Windverhältnisse. Mit der Folge, dass das Feuchtkalte und Pelzige auf Roberts Schoß, offenbar völlig verängstigt, platznahm. Ob es die Winde oder der Zeitfaktor waren? Jedenfalls erkannte er die Konturen eines Hundes auf seinen Schenkeln. Der fiepte und fing an seine Hand abzuschlecken.

„Ja, was machst du denn hier?“, fragte Robert den anschmiegsamen Vierbeiner.

Der war nicht gerade gesprächig, sondern versuchte Roberts Hand in ein mit Hundespeichel gebadetes, menschliches Pfötchen zu verwandeln.

Das fliegende, lärmende Rettungsobjekt war zur Ruhe gekommen und Robert hatte wieder einen klareren Durchblick.

 

Der jugendliche Husky Jukka saß furchterfüllt auf ihm. Und sein Frauchen, Melina? Jedenfalls war sie nicht hier auf dem Weg am Teltowkanal!

„Jukka! Wo ist denn dein Frauchen?“, versuchte Robert erneut eine Konversation.

Jukka spitzte die Ohren, sprang vom Schoß und gab ihm ein bettelndes Pfötchen.

Er stand auf und an ein Fortsetzen seines Dauerlaufs war nun nicht mehr zu denken. Jukka besaß ein rotes Halsband. Bei Huskies spricht man wohl eher von Geschirr. Und er hatte weder Leine noch einen Schimmer, wo er mit der Suche nach der jungen blonden Frau anfangen sollte.

Es blieb die Hoffnung, dass Jukka, da sie ihn als Lebensretter auserkoren hatte, auch weiterhin an seiner Seite bleiben würde.

Es schien Robert am sinnvollsten wieder an den Ort zurückzukehren, an dem er vorhin Melina begegnet war. Der Himmel hinter der Goebenwiese war pechschwarz! Ein beachtliches Grummeln kündete das Unbehagen der himmlischen Wetterdirigenten an. Eine Lightshow hatten sie auch nicht vergessen, denn je dunkler dieser Vormittag geriet, je heller erschienen die stroboskopartigen Erscheinungen da oben. Seine neue vierpfotige Freundin war überhaupt nicht begeistert von dem Wetterspektakel. Sie klemmte ihren buschigen Schwanz und schlich in engstem Fell-Bein-Kontakt neben ihm her. Am liebsten wäre sie zwischen Roberts Beinen gen Unwetter dahin geglitten.

So etwas hatte er weder gesehen, geschweige denn erlebt! Vom Wandervogelgedenkstein aus, dort wo die Goebenwiese beginnt, bewegte sich eine Wand aus Wasser auf ihn zu. „Es regnet in Kübeln“ wäre leichtfertig untertrieben gewesen. Ohne Übergang, von einem auf den nächsten Zentimeter, ergossen sich die Wassermassen vom Himmel und bewegten sich auf Robert und Jukka zu.

Da half nur eins! Drüben auf der gegenüberliegenden Seite der Wiese war eine kleine Hütte.

Robert schrie ein kurzes und befehlendes „Komm!“ und hoffte, dass sie das verstehen würde.

Er sprintete los und vermutlich hätte er sich den Befehl sparen können, denn die Hündin blieb an seiner Seite, um im rasanten Tempo den rettenden Unterschlupf zu erreichen.

Die Wasserwand war schneller! Mitten auf der Wiese erreichte sie die beiden. Die Intensität des kühlen Nass nahm ihnen fast den Atem. Schemenhaft lockte das kleine Holzgebäude in Form eines Pilzes. Robert musste an einen seiner Lieblingsromane denken, indem sich eine Frau alleine im Gebirge, nur mit einem Hund und einem Rindvieh, hinter einer unsichtbaren Wand wähnte.

Erneut erschien ihm seine Mitschülerin Melina vor seinem geistigen Auge, die, wenn sie nicht das Opfer des Schusses war, sicher in ihrem dünnen Kleidchen bei diesem Unwetter nach ihrer Hündin suchte. Nur so bekleidet konnte sie sich ja den Tod holen!

Die Franzosen haben ein zutreffendes Wort für den Zustand in dem Jukka und Robert den hölzernen Unterschlupf betraten: Trempé! Was so viel heißt wie triefend nass. Die Hündin, entsprechend geduscht, wirkte plötzlich so, als hätte sie nur noch die Hälfte ihres Körpervolumens. Robert fühlte sich zwar bekleidet aber trotzdem wie durch den Ärmelkanal geschwommen.

Da! Donner und Blitz unmittelbar an Ort und Stelle. Eine gleißende Beleuchtung, die Hütte vibrierte einem Erdbeben gleich und jetzt sah Robert, dass sie nicht alleine in dieser kleinen Behausung waren.

Wie vom Donner gerührt ! Besser als dieser Ausspruch kann man eine Situation nicht beschreiben. Hinten, auf der gegenüberliegenden Seite, saß eine blutjunge Frau in eindeutiger Position auf einem älteren Mann. Das Gewitter hatte sie sehr unvorteilhaft überrascht!

„Tut mir sehr Leid! Wir wollten sie nicht stören!“, stammelte Robert, dem die Situation sehr peinlich war. Jukka hingegen hatte wieder neuen Lebensmut gefasst und schlich zu den beiden, um am entblößten Hinterteil der Frau zu schnüffeln. Sie hatte sich ihr moosgrünes Röckchen hinten an ihrem Bund hochgeklemmt.

„Komm her!“, befahl Robert. Doch Jukka dachte nicht daran. Der Geruch schien sie zu faszinieren.

Doch die junge Frau hatte ein ganz anderes Problem.

„Scheiße nochmal! Ich komme nicht los!“, zeterte sie zu ihrem Liebhaber.

Der seinerseits schien die Situation auch nicht mehr sehr zu genießen, denn er meckerte:

„Verdammtes Gewitter! Was ist denn in dich gefahren, Emilie! Du hast dich total verkrampft und hältst mich gefangen! So werden wir hier noch bis Weihnachten festsitzen!“

„Es war jedenfalls deine Idee, mich hierher zu locken! Ich hatte überhaupt nicht vor, mich hier von dir …!“, er hielt ihr abrupt eine Hand auf den Mund. Sie drehte ihren Kopf zu Robert und bat:

„Können Sie sie bitte zurückholen, dass sie mir jetzt nicht meinen ganzen Po abschleckt?“

In der Tat vollführte Jukka nun einen ähnlichen Liebesbeweis mit dem Hinterteil dieses Mädchens, wie vorhin mit Roberts Hand. Sie kam ihm eher wie ein Teenager, als wie eine erwachsene Frau vor. Er näherte sich ihr und zog Jukka an ihrem roten Geschirr zur anderen Seite des Raums.

Draußen prasselten immer noch die himmlischen Fluten, als nähere sich eine biblische Sintflut.

Wieder krachte und blitzte es in einem! Etwas sehr Schweres prallte mit lautem Getöse vor die Tür der Hütte. Es begann verkohlt und faulig zu riechen.

„Um Gottes Willen, was war das denn? Kannst du denn nichts tun?“, flehte die Mädchenfrau.

„Was kann ich wohl tun, wenn du mich derart festsaugen musst. Sollen wir vielleicht so im Krebsgang da hinauskriechen?“

Robert inspizierte den Eingang und stellte fest, dass eine kapitale Birke, stark angekohlt, den Zugang versperrte. Offenbar hatte der Wolkenbruch sehr an Intensität verloren, denn über den Baumstamm hinweg konnte man oberhalb die Häuserfront wahrnehmen.

„Sag mal, du siehst ja in welcher Situation wir hier sind? Vielleicht kannst du uns ja helfen? Nicht weit von hier, zwei Straßenkreuzungen entfernt, hat Doktor Teichmann seine Praxis. Ich gebe dir meine Autoschlüssel, falls du einen Führerschein hast und du fährst zu Teichmann und bittest ihn herzukommen und uns zu befreien. Mein Wagen, ein silberner Mercedes Sport, steht oben auf dem Platz unter den Kastanien. Mein Name ist Bruno Lahn und wie heißt du?“ Bruno schaute entsprechend genervt zu Robert.

„Klar, kann ich machen. Aber du siehst ja, ich bin klatschnass. Die Hündin hier ist mir zugelaufen. Ich weiß nicht, ob die so bei euch bleibt. Auf meinen Ausweispapieren steht Robert Prinz!“

„Okay! Kein Problem, Robert! Sie mal! Hier neben mir auf dem Boden steht meine Sporttasche. Ich wollte eigentlich nachher noch eine Runde laufen gehen. Meine Klamotten müssten dir passen. Den Hund kannst du ja notfalls mitnehmen.“

„Ich muss aber sehen, dass ich hier überhaupt raus komme!“

Robert nahm sich Brunos Tasche und kramte eine Jogginghose und ein Sweatshirt heraus.

Jukka saß die Zeit über interessiert neben ihm und verfolgte jede Handbewegung.

Als er umgezogen war, die Sachen waren ihm ein wenig zu groß, nahm er Anlauf und sprang wie bei einer Turnübung mit einem Seitpferd auf den Stamm. Die Wagenschlüssel hatte er sich vorher in die Hosentaschen gesteckt.

Von draußen rief er: „Jukka! Jukka, komm!“

Tatsächlich setzte die Hündin wie ein Springpferd über das hölzerne Hindernis und kam schwanzwedelnd auf Robert zu.

Gemeinsam gingen sie bei Nieselregen hoch zum Parkplatz und fanden auch gleich den Mercedes. Das Geräusch, das die Fernbedienung am Fahrzeug verursachte, ließ an amerikanische Thriller denken. Wie selbstverständlich nahm die Vierpfoterin auf dem Beifahrersitz vor einer abgewetzten Aktentasche Platz. Aus der Seitenablage lugte ein Foto hervor. Robert zog es hoch und sah ein junges blondes Mädchen von maximal vierzehn Jahren. Auf der Rückseite stand in Handschrift: Emilie.

Als Robert den Motor startete, meldeten sich diverse Lautsprecher und ließen Mariska Veres der holländischen Popgruppe Shocking Blue nach Mighty Joe schmachten. Danach war ihm nun überhaupt nicht und er schaltete das Gerät aus. Zu allem Überfluss fing jetzt auch noch ein Handy an sich zu melden! „Show me love, show me love, …“ tönten Jelena und Julija der russischen Popformation t.A.T.u. als Klingelton.

Glücklicherweise hatte der Anrufer nicht allzu viel Geduld.

Beim Einlegen des Rückwärtsganges gingen ihm abenteuerliche Gedanken durch den Kopf. Dieser Bruno Lahn erschien ihm irgendwie sehr seltsam. Offensichtlich war er eine Art Sehnsuchtsfaktor der jungen Emilie und hatte sie zu einem intensiven Schäferstündchen verführt. Ob sie ihm schöne Augen gemacht hatte oder ob er auf so junge Dinger stand? Auf jeden Fall konnte ihm dieses Abenteuer in der Hütte strafrechtliche Konsequenzen einbringen. Deshalb auch seine Übersprunghandlung, ihm, einem Fremden, seine Luxuskarre anzuvertrauen.

Die kurze Strecke zur Arztpraxis war abenteuerlich. Die Straßen sahen aus als hätte ein Tropensturm gewütet. Abgerissene Äste und deren Blattwerk pflasterten seinen Weg. Glücklicherweise wusste er, wo Teichmann seine Wirkungsstätte hatte, denn die Hinweise dieses Bruno Lahn waren eher dürftig gewesen.

Unaufgefordert schaltete sich das Radio mit einer Verkehrsdurchsage ein:

„Vorsicht Autofahrer! Die Drakestraße in Lichterfelde ist aufgrund eines Unwetters gesperrt. Bitte umfahren sie diesen Bereich großräumig! – Und nun wieder zurück zu unserer Literaturstunde:

Und mein Kopf beschriebe folgendes, was meine Welt verlor: Drachen steigen auf, über einem abgeernteten Kartoffelfeld, der Raucherbereich, oben in einem Doppeldeckerbus, ein Pink-Floyd- Konzert im Sportpalast, das Rauchen einer Gitanes Zigarette, der Geruch der Berliner S-Bahn an einem Sommertag, ein Leben ohne Handy, Kornblumenfelder im Wind, ein Fläschchen Patschuli, Peep-Show-Reklame.

Soweit der kurze Auszug aus den Memoiren von Gottfried von Schlüter.“

Robert schaltete das Radio erneut aus. Was kümmerten ihn die Erinnerungen eines Schreiberlings, von dem er noch nie gehört hatte. Er war vorhin quietschvergnügt zum Joggen aufgebrochen, er hatte Melina getroffen, ihm war ihre Hündin Jukka zugelaufen, ein mächtiges Unwetter hatte ihn überrascht und nun musste er einem Lüstling aus einer ziemlich unangenehmen Patsche helfen. Da wollte er keine Gedanken an Pink-Floyd-Konzerte und Peep-Show- Reklamen vergeuden!

Als er in die Klingsorstraße einbog, zeigte ihm ein Polizeibeamter seine rot weiße Kelle und winkte ihn direkt vor einem Mannschaftswagen auf den Parkstreifen.

Blitzschnell schossen Robert sehr ungemütliche Gedanken durch den Kopf! Er saß ohne Fahrzeugpapiere, ohne eigene Ausweispapiere und mit einem zugelaufenen Hund in einem fremden Fahrzeug! Das konnte ja heiter werden!

2.

Melina hatte den Eindruck, dass, seit dem sie aus dem Elternhaus ausgezogen war, sich ihre Schwester sehr verändert hatte. Im Vertrauen hatte ihre Mutter ihr mitgeteilt, dass sie so gut wie nie mehr zum Hockeytraining ging und auch die beiden Klavierstunden pro Woche mehr oder weniger widerwillig über sich ergehen ließ. Ihr gegenüber zeigte sie völlig ungewöhnliche Musikleidenschaften.

Bislang hatte sie fast ausschließlich deutsche Schlager gehört. Andreas Gabalier und Helene Fischer waren ihre Helden. Und nun plötzlich schwärmte sie für die alten Recken von Pink Floyd, Genesis und im Besonderen für einen speziellen Titel einer holländischen Popgruppe! Melina verbot sich den Titel auszusprechen, geschweige denn ihn sich mit ihrer Schwester anzuhören. Er war und blieb für sie ein No-Go! Ihre Schwester allerdings fand ihn total sexy!

Als sie gerade zum morgendlichen Gassi mit ihrer jungen Hündin aufbrechen wollte, klingelte das Telefon. Ihre Mutter war am Apparat und berichtete etwas ziemlich Beängstigendes.

Emilie war heute früh nicht in der Schule erschienen! Soweit sich Melina erinnern konnte, hatte ihre Schwester noch nie die Schule geschwänzt. Und das ausgerechnet heute, wo der wichtige Test in Französisch anstand. Sie fing an sich Vorwürfe zu machen. Vielleicht hätte sie nicht von zu Hause ausziehen dürfen, um mit ihrem Freund Udo ein Appartement zu teilen? Als sie noch mit ihrer Mutter und Emilie im kleinen Einfamilienhaus gewohnt hatte, konnte sie viel mehr Obacht auf ihre Schwester geben.

Jukka schlich ihr unaufhörlich um die Beine, was gleichbedeutend mit: Frauchen, ich muss mal!, war.

Na gut oder auch nicht!

Melina schickte Emilie eine kurze SMS: Wo bist du? Warum bist du nicht in der Schule?, und machte sich auf den Weg in den Park.

 

Dort angekommen wurde ihr erst bewusst, was für ein fabelhaftes Wetter heute war. Blauer Himmel und weiße Wolken, die sich da oben ein Wettschweben lieferten. Sie beneidete Udo, der in dieser Woche mit seinem Seminar eine Exkursion nach Schottland auf die sagenumwobene Insel Staffa machte. Deren Ziel war es, den Spuren Jules Vernes zu folgen, der in seinem Roman Der grüne Strahl einer Reisegruppe gefolgt war, die in der Fingalshöhle Zuflucht vor einem auf dem Meer tobenden Orkan gesucht hatte.

In solchen Gedanken versunken holte Melina ein Schuss oder eine Detonation in die Realität zurück. Sie sah einige Enten, die von dem plötzlichen Krach aufgeschreckt am Himmel das Weite suchten.

Jukka kläffte kurz zaghaft und suchte dann Schutz an Frauchens Beinen.

Am Kinderspielplatz begegnete sie einer Parkbekanntschaft nebst Collie, die sie erst vor kurzem gemacht hatte. Seitdem sie mit ihrer Jukka unterwegs war, kam sie häufig mit anderen Hundebesitzern ins Gespräch.

Nichts ist so kommunikativ wie die Vierpfoter beim Gassi gehen!

Sie konnte sich vorstellen, dass das ein Ausspruch von Loriot sein könnte, der ja bekanntlich vernarrt in Möpse gewesen war.

Der Collie-Besitzer Schenck hatte Interesse an ihrer Huskyhündin gezeigt, denn eine Verwandte von ihm wollte sich wohl ein Exemplar dieser Rasse zulegen. Für den Fall, dass sie ihn wiederträfe, hatte sie sich einen Zettel mit den Daten ihres Züchters vorbereitet.

Indem sie ihm nun das Papier überreichte, erklärte sie ihm allerdings, dass eigentlich ihre jüngere Schwester diejenige war, die unbedingt einen Husky haben wollte. Aber da sie offensichtlich in ein gefährliches Alter gekommen sei, vernachlässige sie leider den Hund und heute sogar den Schulunterricht.

Der Collie fing jetzt an sein Herrchen anzukläffen. Offensichtlich war er eifersüchtig, dass er sich mit ihr unterhielt.

„Bella! Jetzt ist aber gut! Sie sind aber überhaupt nicht freundlich zu der jungen Frau!“, und zu Melina gerichtet sagte er: „Ich nehme an, dass ihre Schwester in der Pubertät ist? Da spielen die Hormone verrückt, oder?“

Melina nickte zustimmend und meinte:

„Das ist ja lustig! Mir ist noch gar nicht aufgefallen, dass sie ihre Hündin siezen?“, dabei schaute sie die Collie Dame verwundert an.

Doch nun nahm sie den Gedanken von Schenck wieder auf:

„Aber ja! Manchmal erkenne ich meine Schwester nicht mehr. Unsere Hündin ist ihr plötzlich völlig schnurz piep egal! Ja sie meidet sogar ihre Nähe und tut so, als kennte sie sie nicht! Sie entwickelt sich zu einer kecken, kleinen Lolita! Ich könnte mir sogar vorstellen, dass sie einen kleinen Freund hat!“ Melina kramte ein Papiertaschentuch aus ihrem Täschchen und schnäuzte sich.

„Es ist das schönste und vielleicht intensivste Alter in das Ihre Schwester da eintritt. Ich habe in einem meiner Romane sehr ausführlich jene Gefühlswelten beschrieben.“

„Ich wusste ja nicht, dass Sie Schriftsteller sind! Ich hätte immer auf Musiker getippt.“ Sie steckte das Tempo wieder in ihre Tasche und versuchte Jukka zu beruhigen.

„Ja wissen sie, es ist verdammt schwer bei den Verlagen Fuß zu fassen. Man muss schon Boris Becker, Verona Pooth, Carmen und Robert Geiss heißen oder ein gewaltverbrechender Mafiaboss sein, um seine von Ghostwritern geschriebenen Memoiren veröffentlichen zu können!“ Schenck wirkte plötzlich ziemlich ratlos und auch traurig.

„Was halten Sie davon, wenn Sie mir mal ein Exemplar Ihres Schaffens mitbringen? Ich bin eine begeisterte Leseratte!“

„Sehr gern!“, antwortete er und versuchte mehr oder weniger vergeblich seine Bella zu beschwichtigen.

Auch Melina hatte ihre liebe Not mit Jukka und meinte:

„Sie sehen ja? Meine Hündin will nun weiter. Sie liebt es die Enten da am Teich zu erschrecken. Bis bald und vergessen sie Ihr Buch nicht!“

„Versprochen!“ Er musste sich sputen, denn das andere Ende an seiner Leine hatte offenbar die Geduld verloren und sich losgerissen!

Irgendetwas weckte Jukkas Interesse, denn sie legte einen Gang zu, um da vorne auf die Holzbrücke zu gelangen, die den Spaziergängern das Überqueren des Grabens zwischen den beiden Teichen ermöglichte.

Jetzt sah sie, was ihre Hündin so angezogen hatte. Ein jungendlicher Jogger, der seinen Lauf abbremsen musste, da Jukka ihm sonst zwischen seine Beine geraten wäre.

Melina stutzte. Sie erkannte den Jogger!

Nun wollte sie ihre Hündin zur Ordnung rufen, doch die ließ sich keineswegs davon beeindrucken. So forcierte sie ihr Tempo.

Als sie auch auf der Brücke angelangt war, schimpfte sie in ernstem Tonfall: „Jukka, Jukka aus!“, just in dem Moment, da ihre Vierpfoterin die Laufschuhe des jungen Manns schnüffelnd zu begutachten begann.

„Sie ist gerade mal ein halbes Jahr alt, ist sehr verspielt und gehorcht nur zeitweise!“, meinte Melina in einem schelmischen Tonfall.

„Ist schon okay, die ist ja wirklich sehr süß mit ihrem Mickey-Mouse-Gesicht“, beruhigte er sie.

Doch nun fing er an zu grinsen.

„Melina! Ich hätte dich ja fast nicht wiedererkannt! Wohnst du jetzt hier im Dreh?“

„Noch nicht allzu lange! Ich hatte aber keine Mühe dich zu erkennen! Doch du bist ja am Laufen. Ich will dich nicht länger aufhalten. Finde ich dich bei Facebook?“

„Klar! Immer noch Robert Prinz. Würde mich freuen, Melina!“

„Okay, alter Weiberheld! Ich werde deine Freundschaft anfragen!“

Robert begann im Stehen wieder seinen Laufrhythmus aufzunehmen und meinte verschmitzt:

„Bis bald auf Facebook!“

„Auf jeden Fall!“, rief sie ihm hinterher, doch der war schon dabei die Sedanstraße zu überqueren.

Ihr Handy meldete sich. Eine SMS ihrer Mutter, die ihr mitteilte, dass Emilie ihr Mobiltelefon zu Hause vergessen hatte.

Inzwischen war Melina am Jugendheim Albert Schweitzer angelangt und wollte gerade die Straße überqueren, als ein BWM in blau-metallic verfolgt von einem schwarzen Mercedes die enge Linkskurve in die Brückenstraße verpasste und in den Vorgarten eines Einfamilienhauses raste. Der Mercedes hielt stark quietschend an und ein Mann stieg aus, der an die Film-Blues-Brothers erinnerte. Sofort schoss er auf den BMW-Fahrer, der aus seinem ramponierten Fahrzeug geklettert war und seinerseits eine Pistole auf den Mercedes-Typ gerichtet hatte. Der Blues-Brother kam ihm zuvor, sodass sein Kontrahent nicht zum Abdrücken kam und getroffen zusammensackte. Vor Panik und Angst hatte Melina die Szenerie mit einem lauten Schrei untermalt.

Jukka fuhr ein gewaltiger Schreck in ihre vier Pfötchen, dass sie wie von einer Tarantel gestochen in Richtung Teltowkanal davonjagte.

Der Blues-Brothers-Mann fixierte Melina, ging auf sie zu und richtete den eben benutzten Revolver auf sie.

„Sie haben zwei Möglichkeiten, junges Fräulein! Entweder ich erschieße sie so wie den Kollegen dort, oder sie steigen freiwillig auf eine Spritztour in meinen Wagen!“

Ein sehr dicker Komplize quälte sich aus der Beifahrertür und öffnete die rechte Hintertür.

„Da haben wir aber einen leckeren Fang gemacht!“, kommentierte er mit einer Fistelstimme.

Melina zitterte wie das berühmte Espenlaub, war schlohweiß im Gesicht und folgte dem Befehl wortlos.

Die Luft in diesem Mercedes glich einer Räucherkammer. Sehnsüchtig aber irgendwie erleichtert schaute sie ihrer davon trabenden Hündin nach.

„Lady! Gib mir mal dein Handy!“, fiepte sie der Dicke an.

Melina reichte es in die fleischige Pranke des Beifahrers.

Anschließend befestigte er sie mit schwarzen Plastik Handfesseln am Gurtschloss.

Dann gingen die Beiden zum BMW und öffneten die Kofferraumklappe. Gemeinsam hievten sie einen offensichtlich enorm schweren blauen Leinensack hervor und trugen ihn gemeinsam zu ihrem Mercedes. Es rumste gewaltig, als sie ihre Beute im Kofferraum ablegten.