Koordinaten für den Abschuss 52.448095, 13.333907

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Melinas Gedanken arbeiteten auf Hochtouren. Was würden die Kerle mit ihr machen? Immerhin war sie Zeugin eines Mordes gewesen. Ob sie sie irgendwo außerhalb Berlins vergewaltigen würden, um sie anschließend umzubringen und in einem abgelegenen Wald zu verscharren? Vielleicht wäre sie auch eine Sicherheit für die beiden Ganoven und diente ihnen als Pfand?

Der Blues-Brother rutschte hinters Lenkrad und ließ sich vom Dicken eine Zigarette anzünden.

„Wir werden jetzt eine kleine Reise zusammen machen!“, wendete sich der Fahrer an sie und ließ den Motor beim Starten aufheulen. „Wenn du schön brav bist, kommst du cool aus der Geschichte raus!“

„Mensch, Johnny! Wir haben den dicken Phil! Damit haben wir ausgesorgt! Ein Glück, dass wir da drüben John mit seinem Schmelzofen … “,

„Vielleicht hältst du mal deine Schandschleuder auf Zero, Timmy!“, fiel ihm der Blues-Brother ins Wort.

Entfernt waren mehrere Polizeisirenen zu hören. Offenbar war der Vorfall am Jugendheim schon polizeikundig. In überhöhtem Tempo jagten sie in Richtung Stadtgrenze.

Der Himmel verfinsterte sich ebenso in einer enormen Schnelligkeit.

Am Autobahnkreuz Wannsee kam eine Regenwand auf sie zu. So etwas hatten weder die beiden Gauner noch Melina jemals gesehen! Angeblich gäbe es ein derartiges Phänomen auf der Sinai Halbinsel, hatte ihr Udo mal berichtet.

Johnny musste notgedrungen den Wagen am Straßenrand anhalten und dann prasselte es auf sie ein, als ob die gesamte Umwelt aus einer einzigen riesigen Autowaschanlage bestünde!

„Vielleicht sollten wir stärker rauchen und die Fenster öffnen, damit die Scheiße verschwindet?“, Timmy blies seinem Kumpan einen Schwall Qualm ins Gesicht.

„Bist du nun eigentlich komplett verblödet? Glaubst du vielleicht, dass du der alte Äolus bist und das Wetter befehligen kannst?“ Johnny drückte seine Kippe mit Nachdruck aus und in Richtung Melina schnauzt er: „Hör auf zu zittern, Lady! Solange wir nicht an Ort und Stelle sind, rühren wir dich nicht an!“

Sie sah sein Gesicht im Rückspiegel und ahnte, dass er zu ihr sprach aber mit dem Lärm der Sintflut um sie herum, verstand sie ihn nur bruchteilhaft. Sie überlegte, wie sie den Kerl anreden sollte, dann überwand sie sich und schrie mehr als dass sie sprach:

„Lassen Sie mich doch einfach gehen! Ich verspreche Ihnen auch hoch und heilig, dass ich vorhin nichts gesehen und gehört habe!“

„Ach, Puppe! Und ick heiße Sylvester Bronson!?“ Fistelte der Dicke mit sich überschlagender Stimme.

„Der heißt Charles Bronson, du Komiker!, brüllte Johnny, „du willst uns doch nicht verlassen, bevor es richtig schick wird?“, fügte er hinzu.

Melina fing an, an dieser Situation zu verzweifeln. Tränen kullerten ihre weißen Wangen entlang und sie dachte an ihren Freund, der da am Ende der Welt auf dieser gottverlassenen schottischen Insel herumturnte, an Emilie, die sich wer weiß wo herumtrieb und an ihre Jukka, die auf sich alleine gestellt, sicher hoffnungslos bei diesem Weltuntergangswetter nach ihrem Frauchen suchte.

Genauso wie diese aberwitzige Wettererscheinung gekommen war, genauso schnell verschwand sie auch wieder. Nur noch leichter Nieselregen befeuchtete die Windschutzscheibe.

Sofort ließ Johnny wieder seinen Mercedes aufheulen und fuhr auf die Autobahn in Richtung Magdeburg. Die Fahrbahn war auto- und menschenleer!

Das Radio brachte Wunschmusik. Nach dem sechziger Jahre Song „Yesterday Man“ wünschte sich jemand „Lago Maggiore“ von Rudi Schuricke. Melina kannte den Schlager von ihrer Großmutter, doch war ihr überhaupt nicht nach Schnulzen aus den Fünfzigern zumute. Die nervliche Anspannung verursachte ihr einen pochenden Kopfschmerz, der von dem üblen Qualm nicht gerade gemindert wurde.

Wie aus einem dicken Londoner Nebel, in diesem Fall zähem Zigarettenrauch, gerieten neue Töne an Melinas Ohr! Zitternd beugte sie sich nach vorn und versuchte sitzend eine Art schützende Embryohaltung einzunehmen. Die beiden vorne beachteten sie nicht, denn sie besprachen flüsternd ihre bevorstehende Reiseroute.

Well, Mighty Joe was here last year, I'll tell you. Just like you, I had no fear. I fell for him, Baby, and then…he made me a wo…man, sie war ja mit ihren Handgelenken am Schloss des Sicherheitsgurts gefesselt! Deshalb konnte sie sich auch nicht die Ohren zuhalten.

Es war ein so schöner Juniabend gewesen. Sie hatte es zu Hause nicht mehr ausgehalten, denn sie hatte gerade mit ihrem Freund Schluss gemacht und brauchte Ablenkung. Ihre Freundin Jenny war einverstanden gewesen zusammen mit ihr ins Grüne zu fahren. Sie hatten einen ausgedehnten Spaziergang über am Stadtrand angrenzende Felder gemacht und anschließend saß sie an der vielleicht gottverlassensten Bushaltestelle Berlins. Jenny hatte den zuerst kommenden Bus in die andere Richtung nehmen können.

Da kam urplötzlich dieser elende Typ in seinem Kapuzenpulli auf sie zu. Er hatte sie unverschämt offen angestarrt. Verängstigt hatte sie ihr Röckchen hochgezuppelt. Da hatte der sie gefragt, ob er behilflich sein könnte. Das Ganze wurde dann immer bedrohlicher und unverschämter. Er hatte daraufhin sein Handy angemacht und ihr erklärt, dass man es mit Musik dabei gemütlicher hätte. Es war dieser ekelhafte Song von Shocking Blue, bei dem er sie gezwungen hatte, es ihm mit dem Mund zu besorgen. Aber damit hatte er es nicht bewenden lassen. Er hatte Mighty Joe auf Endlosschleife eingestellt und sie genötigt, sich auf seinen Schoß zu setzen. Sie hatte es mit ihm machen müssen, obwohl sie erst dreizehn Jahre alt gewesen war. Zudem hatte er sie angeschrien, dem Rhythmus des Songs zu folgen und immer wenn die Frau he made me a wo…man intoniert hatte, hatte sie innehalten müssen, damit er stöhnend grölen konnte: Yeah! I’m Joe!

Mitten dabei war endlich ein Bus angekommen! Doch der war nur im Schneckentempo an ihnen vorbeigeschlichen, der Fahrer hatte sie begafft und war dann, indem er einen Daumen nach oben gezeigt hatte, einfach weitergefahren!

Nachdem dieser Unhold seinen Trieb an ihr befriedigt hatte, hatte er ihr noch ironisch gratuliert und gemeint, dass sie nun für ihr Schlampenleben gerüstet sei. Zu allem Überfluss war auch noch ihr kleines Handtäschchen mit Portemonnaie und Personalausweis in die große Bauchtasche seines Kapuzenpullis gewandert. Viel Geld hatte sie nicht dabei gehabt, aber mit Hilfe des Ausweises kannte er ihren Namen und ihre Adresse! Dann hatte er sich aus dem Staub gemacht und sie zitternd, obwohl es sommerlich warm gewesen war, auf der Haltestellenbank zurückgelassen. Auf jeden Fall wäre sie am liebsten in allen Erdböden der Welt versunken! Niemanden, nicht mal ihrer Mutter hatte sie gewagt auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen!

Gott sei Dank!, dachte sie. Der Shocking-Blue-Titel war vorbei und mit Yesterday von den Beatles gab es unbelastete Musik zu hören. Draußen rauschten Brandenburger Kiefern am Wagen vorbei und sie hätte verdammt nochmal gern gewusst, wo die beiden Verbrecher sie hinbrächten!

Von einer Spritztour und einer kleinen Reise hatte der Kerl gesprochen. Das konnte ja so ziemlich alles bedeuten. Ihre Neugierde ließ sie gesprächig werden:

„Wo fahren wir denn hin?“, wagte sie einen zaghaften Vorstoß.

„Ach Lady, das wirst du schon früh genug erfahren! Aber ich verspreche dir, dass die Betten dort sehr angenehm weich sind und dich bei Bewegungen auch nicht übertönen werden!“ Johnny fing an sich über seine Antwort mit einem derart rauen Lachen auszuschütten, dass man hätte meinen können, er habe gerade den Witz des Jahrhunderts von sich gegeben. Das animierte selbstverständlich auch Timmy, der nun versuchte seinen Kumpel an Gegröle noch zu übertrumpfen.

Sofort bereute Melina ihre Frage zutiefst, denn zur Erheiterung dieser Spießgesellen wollte sie nicht beitragen.

Johnny schaute auf seine Uhr und erklärte seinem Kollegen, dass sie trotz allem noch gut in der Zeit lägen.

„Ich hätte ja nie gedacht dass Jürgen uns die Tour vermasseln würde, um zu versuchen mit dem Teil einen Alleingang zu starten!“, meinte er zu Timmy gerichtet. „Umso besser, da bleibt sein Anteil bei uns!“

„Ob Ben schon auf uns wartet?“, wollte Timmy wissen.

„Klaro! Wir haben doch nur ein bisschen Verspätung durch das Scheißwetter!“

Sie nutzten die Ausfahrt Saarmund von der A115. Menschenleer lag der kleine Flughafen in der Mittagssonne, so als habe es das Unwetter gar nicht gegeben. Nur ein einziges Flugzeug stand an der Startbahn. Ein schlanker Mann in einer Kleidung die an die deutschen Pioniere in Deutsch-Südwest erinnerte, lief qualmend um seine beige-rote Fokker S-11.

Johnny und Timmy sprangen freudestrahlend aus ihrem Mercedes und klopften dem Typ am Flugzeug herzhaft auf die Schulter. Sie palaverten einen Moment lang und Melina bemerkte, dass Timmy mehrfach in ihre Richtung gestikulierte.

Dann kamen sie alle Drei auf sie zu!

Melina schwante Böses! Sie, die so unter Flugangst zu leiden hatte, würde in dieses kleine Fluggerät einsteigen müssen, um wer weiß wohin zu fliegen!

3.

„Na, Meister, dann steigen wir mal aus und zeigen die Papiere!“, der Polizeibeamte mit seiner schusssicheren Weste über seinem Bierbauch schien keinerlei Spaß zu verstehen. Und er präzisierte: „Führerschein, Ausweis und Wagenpapiere!“ Jukka verkroch sich unten vor den Beifahrersitz.

Robert blieb sitzen und überlegte angestrengt, was er dem Polizisten als Erklärung anbieten könnte. Wenn er bei der Wahrheit bliebe, hieße das in etwa folgendes: Ich war joggen, wollte mich wegen des Unwetters unterstellen, habe dabei in einer Hütte einen Mann mit einer jungen Frau beim Geschlechtsverkehr überrascht. Das Mädchen erlitt dabei durch Blitz und Donner einen Krampf, sodass die beiden aneinander geklebt blieben. Der Mann bat mich mit seinem Wagen Hilfe bei einem Arzt zu holen.

 

Er hustete etwas unsicher und sagte dann: „Der Hund hier ist mir beim Joggen zugelaufen und ich bin gebeten worden mit diesem Wagen Hilfe zu holen.“

„Steigen Sie mal aus, junger Mann und geben Sie mir dann Ihren Ausweis, den Führerschein und die Wagenpapiere!“ Das war jetzt schon kein höflicher Ton mehr sondern eher ein Befehl.

Robert blickte zur verängstigten Hündin und stieg aus.

„Ihre Papiere, Meister!“, hörte er erneut.

„Ich habe keine Papiere, weil ich joggen war, mir der Hund zugelaufen ist, ich beim Unwetter in einer …“

„So! Wenn das so ist, dann begleiten Sie mich jetzt. Das Fahrzeug schließen Sie ab!“

Erst jetzt nahm Robert wahr, dass da noch drei weitere bis auf die Zähne bewaffnete Beamte vor einem Mannschaftswagen standen. Er folgte seinem Befehlshaber und wurde von einem weiteren Polizisten in die Grüne Minna begleitet.

Ob er Jukka erneut erwähnen sollte, die ja noch im Mercedes verharrte? Da er aber keine Leine für die Hündin hatte, hielt er es für besser, sie dort zu belassen.

Man brachte ihn zu einem nahegelegenen Polizeirevier. Er kam sich reichlich dämlich vor! Mit den zu großen dunkelblauen Jogginghosen und dem schwarzen Poloshirt mit dem Aufdruck „All Bleus“ und dem darunter drapierten Symbol, einer Kreuzung des Silberfarn Emblems der neuseeländischen Rugby Nationalmannschaft, den All Blacks, mit dem französischen Hahn, der den Silberfarn als Schwanz trug.

Er musste in der Empfangshalle Platz nehmen, wobei ihm links und rechts zwei jungendliche Polizeibeamte einrahmten. Offensichtlich hielt man es für möglich, dass er die Flucht ergreifen könnte.

Die Luft war stickig und vom Unwetter selbst hier drinnen reichlich schwül. Nach ein paar Minuten begannen die beiden Beamten einen Informationsaustausch über ein am Vormittag verübtes Verbrechen. Drei bewaffnete und maskierte Ganoven hatten aus den Räumen der Deutschen Bank eine der größten Goldmünzen der Welt entwendet. Wegen eines Firmenjubiläums hatte die OeNB, die Oesterreichische Nationalbank, der Deutschen Bank ein Exemplar des sogenannten Big Phil als Leihgabe zur Verfügung gestellt. Der aktuelle Wert der Münze läge bei 1,3 Millionen Euro, meinte einer der beiden Polizisten in bewunderndem Tonfall.

Robert seinerseits wunderte sich insgeheim, welchen Wert an Strafe der Aufenthalt ihm hier einbrächte, zudem man ihn nahezu eine ganze Stunde warten ließ.

Endlich bemühte sich ein älterer, hagerer Polizist mit Glatze und an einer Krücke humpelnd, zu ihm. Hoffentlich würde er ihm umgehend erläutern, welchen Vergehens er sich schuldig gemacht hätte.

Er dachte an Jukka, die so lange in einem fremden Auto verharren musste und ebenso an Melina, die sicher tausend Tode aus Angst um ihre Hündin starb.

Im Arbeitsraum dieses knorrigen Polizeibeamten angekommen, forderte ihn dessen Kollegin auf, an der Längsseite des Bürotisches Platz zu nehmen. Der Alte setzte sich auf seinen Stuhl vorm Fenster.

Die Polizistin mit einer strengen Pferdeschwanzfrisur ihm gegenüber begann das Verhör.

Sie musterte Robert herablassend und bemerkte:

„Na, Papiere haben wir also keine?!“ Sie bediente sich nicht nur des Krankenschwesterplural, sondern auch anschließend eines Aufnahmegeräts.

„Wie ich vorhin schon …“,

„Sie reden, wenn sie dazu aufgefordert werden!“, unterbrach der Alte rüde Roberts Versuch einer Erklärung.

Anschließend nahm die Beamtin seine Personalien auf und kam nun auf den Punkt.

„Wo waren wir denn heute Vormittag zwischen 9 und 11Uhr?“

„Ich weiß nicht, wo Sie waren? Ich habe mir heute Vormittag meine Joggingsachen angezogen und …“, um wie viel Uhr will meine Kollegin wissen und wo die war, geht Sie einen feuchten Kehricht an!“, blaffte der Alte.

„Gegen 9.30 Uhr“, antwortete Robert.

„Und dann? Lassen Sie sich doch nicht alles einzeln aus der Nase ziehen!“ Diese Staatsdienerin war das Gegenteil von charmant.

„Na, ich bin gegenüber meiner Wohnung in den Stadtpark gegangen, um dann meinen Dauerlauf zu beginnen.“

„Und weiter?“

„Im Park an den beiden Teichen traf ich eine junge Frau mit ihrem Husky. Dann lief ich weiter, schließlich am Kanal entlang in Richtung Teltow.“

„Ist ihnen sonst noch etwas aufgefallen?“

„Ja, ich hörte einen Schuss!“

„Wann?“

„Ich glaube, als ich an der Goebenwiese angelangt war.“

„Weiter!“, bellte der Alte.

„Als ich in Höhe des Klinikums war, verursachte ein Hubschrauber einen Art Sandsturm, der mich fast erblinden ließ!“

„Bleiben sie bei der Wahrheit und erzählen sie hier keine Opern aus 1001 Nacht!“

Was für eine blöde Kuh, dachte Robert und setzte seinen Bericht fort:

„Da ich die Augen voller Sand hatte, musste ich mich dort auf eine Bank setzen.“

„Und der Heilige Geist ist Ihnen erschienen?“, grinste der Alte.

„Da, wo ich herkomme, in Saarbrücken, sind die Polizisten freundlicher!“

Das gefiel dem Glatzkopf überhaupt nicht und er brüllte:

„Was verdammt nochmal haben sie denn hier verloren? Warum sind sie nicht in ihrem Kaff geblieben?“

Unbeeindruckt fuhr Robert fort:

„Als ich also auf dieser Bank saß, ist mir der Husky der jungen Frau, die ich vorher getroffen hatte, zugelaufen.“

„Und!“ Die Polizistin wirkte gereizt.

„Als ich wieder einigermaßen sehen konnte, fing ich an, den Weg wieder zurückzulaufen.“

„Warum sind sie nicht weitergejoggt?“, sie blickte ihn sehr abschätzend an.

„Das ging doch wegen des Hundes nicht!“, blaffte Robert.

„Vergreifen sie sich nicht im Ton, junger Mann! So können sie mit den Kollegen in den Saarlandkaffs reden, aber nicht hier!“ Der Alte stand mit Drohgebärde auf und zeigte auf das Bild des Regierenden Bürgermeisters, das mittig über dem Schreibtisch hing.

„Also, da ich nun in Begleitung von Jukka war, konnte …“

„Wer ist Jukka?“ Sie nahm einen Schluck aus ihrem Kaffeepott, auf dem die Fahne von Hertha BSC verewigt war.

„Jukka ist die Hündin, um die es gerade geht. Ich überlegte, dass es wohl das Klügste wäre, dorthin zurückzugehen, wo ich zuvor die junge Frau mit Jukka getroffen hatte.“

Der Alte stand erneut auf und schloss das Fenster, da von draußen ein ohrenbetäubender Lärm hereindrang, so als führe eine Panzerkolonne vorbei.

„Weiter jetzt! Was passierte dann?“, schnauzte er, als er sich wieder hinsetzte.

„Es dauerte nicht lange und es begann mächtig zu donnern und als wir zurück an der Bäkewiese waren, kam dieses gewaltige Unwetter auf uns zu. Wir rannten quer über die Wiese, hin zu der kleinen Hütte auf der anderen Seite. Durch die Wassermassen waren wir beide wie aus dem Wasser gezogen!“

„Sie haben sich dann in der Hütte untergestellt?“

Wie scharfsinnig die ist!, dachte Robert, sagte das aber lieber nicht.

„Richtig! Ich war einigermaßen froh heil in dem Unterschlupf angekommen zu sein. Dann merkte ich aber, dass wir da nicht alleine waren! Ein Mann war da mit einer sehr jungen Frau!“

„Und weiter? Wollen Sie wohl mal flüssig berichten und nicht wie aus einer abgestandenen Schlammpfütze kleckern!“

Was für eine Zicke!, Robert überlegte, wie er das umschreiben könnte, was die beiden da machten.

„Nun, das war mir sehr peinlich!“

„Ihnen war peinlich, sich bei dem Sauwetter unterzustellen?“

„Nein! Es war mir unangenehm die beiden beim Vögeln zu stören!“

Das brachte nun den alten Polizeibeamten in Rage!

„Sie wollen uns sagen, dass da ein erwachsener Kerl ein junges Mädchen?“, er unterbrach sich.

„So ist es, Herr Wachtmeister!“

„Aus welchem Mustopf kommen sie denn? Ich bin Kriminalhauptmeister! Also, dieser Typ hat sich da an einem jungen Mädchen vergangen?“

„Das Ganze war noch viel komplizierter!“

Das rief nun wieder die Beamtin auf den Plan!

„Erklären sie das mal! Was kann denn daran viel komplizierter sein, wenn ein erwachsener Mann mit einem jungen Ding rummacht?“

„Na ja! Es gab da währenddessen einen gewaltigen Donner mit gleichzeitigem Blitzeinschlag, der eine ganze Birke zum Einsturz vor die Hütte brachte!“

„Was hat das mit dem strafrechtlich relevanten Geschlechtsverkehr zu tun, dem sie beiwohnten?“

„Die junge Frau erlitt offensichtlich einen Krampf, der die beiden aneinanderschweißte.“

„Sie wollen damit sagen, dass sie sich nicht mehr voneinander lösen konnten?“

„Genauso! Deshalb bat der Typ mich mit seinem Wagen bei einem Arzt in der Nähe um Hilfe zu bitten. Ich zog mir seine Sportsachen an. Er gab mir seine Autoschlüssel und …“

„ … sie fuhren ohne Papiere in einem fremden PKW los!“, ergänzte der Kriminalhauptmeister- Glatzkopf.

Doch sie schien weiterzudenken.

„So haben unsere Kollegen sie in der Klingsorstraße vorgefunden und mit anderen Worten, wenn die beiden in der Hütte nicht gestorben sind, so leben sie noch heute? Ich meine, so kleben sie“, sie konnte sich ein hämisches Grinsen nicht versagen, „noch aneinander!“, vervollständigte sie ihren Satz. Zu ihrem Kollegen gerichtet dachte sie nun laut:

„Paul! Wir nehmen sofort Herrn Prinz mit und fahren zu der Hütte!“

4.

Melina wusste nicht, ob ihr aus Angst vor den Männern oder aus Flugangst schlecht war.

Sie saß rechts neben dem dicken Timmy, während Johnny vorne neben dem Piloten Ben Platz genommen hatte.

Es war sicher kein ideales Flugwetter, denn sie durchquerten riesige Wolkengebilde, die die kleine Maschine wie ein Spielzeugflugzeug an einem Gummiband hin und her und rauf und runter tanzen ließen.

Immer noch hatte sie überhaupt keine Ahnung, wo der Flug sie hinführen würde. Wenn sie ihre Angst überwinden konnte, um aus dem Fenster zu schauen, so entdeckte sie ganz normale Landschaften.

Dann schien das Übelste überstanden, denn der kleine Flugapparat schwebte ruhig dahin. So erlaubte sie es sich einigen aufrührerischen Gedanken hinzugeben.

Ob diese Entführung, deren Ende so ungewiss wie nur irgendetwas war, oder ob das Wiederhören des so verhassten Shocking-Blue-Titels ihr so hautnah jenen Abend mit ihrem Vergewaltiger vor Augen führte? Auf jeden Fall mochte sie nicht ihre Augen schließen, denn sofort hatte sie dessen Fratze vor sich und fühlte den Augenblick, als sie sich auf seinen Schoss setzen musste und er so brutal in sie eingedrungen war. Sie hatte all ihre sensible Kraft überwachen müssen, um dieses Gefühl, was er in ihr hervorgerufen hatte, nicht auch noch angenehm zu finden.

Wenn sie viele Wochen und Monate später aus ihrem Fenster im Haus ihrer Mutter schaute, lief es ihr ab und an kalt den Rücken hinunter, wenn sie Männer in seinem Alter auf dem Bürgersteig entdeckte und manchmal bildete sie sich sogar ein, ihn unter jenen Kerlen wieder zu entdecken. Dann schmiss sie sich auf ihr Bett und trommelte mit den Fäusten auf ihr Kopfkissen ein.

Einmal, als sie morgens an der Bushaltestelle stand, grinste sie ein Gesicht aus einem vorbeifahrenden Wagen an und sie hätte wetten mögen, dass er es war.

Ihr armer Udo hatte es auch nicht leicht mit ihr! Ihr Sexualleben fand nur im Dunkeln statt. Sie wollte ihn unter keinen Umständen dabei anschauen. Und! Es kam unter keinen Umständen in Frage, dass sie sich auf ihn raufsetzte! Da mochte er noch so sehr betteln, ihr schöne Augen machen oder andere Frauen ins erotische Spiel argumentieren! Für sie kam das nicht in Frage!

Natürlich hatte das zu Beginn ihrer Beziehung zu Diskussionen geführt. Da Melina sonst kein schüchterner Mensch war und den meisten Dingen im Leben sehr aufgeschlossen gegenüberstand, wollte Udo diese seltsamen Allüren seiner Freundin nicht begreifen. Auch ihm gegenüber hatte sie nicht den Mut aufbringen können, um ihm zu erzählen, was sie damals an der Bushaltestelle erdulden musste.

Sie wachte kurz aus ihren Gedanken auf und sah, dass sie über ein Meer flogen. Kein Land in Sicht! Der Dicke neben ihr schnarchte und was die anderen Verbrecher da vorn verhackstückten, das war ihr scheißegal.

Was wohl Emilie trieb? Sie schien ihr mit 14 Jahren wesentlich reifer als sie es vor sechs Jahren gewesen war. Wann immer sie sie in letzter Zeit gesehen hatte, war sie so zurechtgemacht, als wäre sie zu einem Fotoshooting aufgefordert worden. Kurze Röckchen, Blüschen mit Dekolleté, geschminkt, dass man wahrlich nicht von diskret sprechen konnte. Dass ihre Mutter ihr das durchgehen ließ, war ihr schleierhaft.

 

Noch nie hatte die sich für ihr Sexualleben interessiert. Doch vorletzte Woche hatte Emilie sie geradezu mit Fragen bombardiert.

Am meisten hatte sie dabei interessiert, ob es normal sei, den Schwanz eines Mannes in den Mund zu nehmen und ob Analverkehr auch für heterosexuelle Paare gedacht sei.

Melina hatte geantwortet, dass sie doch wohl noch entschieden zu jung für derartige Erlebnisse sei und ob sie einen Freund hätte, der so etwas mit ihr machen wollte.

Emilie hatte ihr sehr ausweichend erwidert, dass das doch nur so allgemein gemeint gewesen sei und außerdem wäre zurzeit Sexualkunde im Biologieunterricht das Thema.

Geglaubt hatte Melina ihrer Schwester das nicht. Die Art und Weise wie sie mit ihr gesprochen hatte und das Zittrige in ihrer Stimme, als sie vom Biologieunterricht gesprochen hatte, waren für sie alarmierende Merkmale gewesen.

Sie hatte daraufhin ihre Mutter in dieses Thema eingeweiht, aber nur Unverständnis geerntet. Ihr war es vorgekommen, dass es ihrer Mutter sehr genehm wäre, wenn ihre zweite Tochter möglichst bald erwachsen sein würde. Sie hatte sich gar zu der Bemerkung verstiegen, dass geschlechtsreife Mädels ihren Gefühlen auch nachgeben müssten.

Ihre Mutter hatte große Sehnsucht nach Jukka geäußert und so war Melina am letzten Montag hingefahren und hatte ihr außerdem noch einen alten Agatha-Christie-Schmöker mitgebracht. Vorm Haus war sie Zeugin gewesen, wie ihre Schwester in einen hellen Mercedes eingestiegen war, der dann sehr sportlich mit ihr davon gerauscht war.

Als sie ihre Mutter darauf angesprochen hatte, meinte die nur, dass ihr Klavierlehrer sie wohl manchmal abholen würde. Melina allerdings konnte sich daran erinnern, dass der Klavierlehrer ihrer Schwester nur einen alten Polo fuhr.

Ihre Mutter stöhnte nur aufgrund dieses Einwands und widmete sich Jukka, die ihr natürlich mit Begeisterung ihre Hand abschleckte.

Und! Heute war Emilie nicht in der Schule! Wo war ihre Schwester?

Sie wagte einen weiteren Blick aus dem Fenster. Immer noch Wasser mit mächtigen Schaumkronen. Entweder sie waren irgendwo über dem Mittelmeer, über der Ostsee oder der Nordsee. Das Mittelmeer schien ihr zu weit weg. Obwohl! Sie hatte gehört, dass es nicht allzu wenige Hobbypiloten gab, die mit ihrem Privatjet nach Mallorca flogen. Ihr Hausarzt zum Beispiel. Wie oft hatte er ihr schon Avancen gemacht und sie gefragt, ob sie nicht mal mit ihm nach Cala Ratjada kommen wollte. Er hätte da eine süße Finca.

Sie hatte nur lächelnd gesagt, dass sie sich nicht vorstellen könnte, dass seine Ehefrau damit sehr glücklich wäre.

Die Nordsee, der Atlantik? Nein! Soweit könnte diese Fokker nicht fliegen.

Also am ehesten die Ostsee! Vielleicht flogen sie nach Dänemark oder Schweden?

Dänemark übte immer noch eine einzigarte Magie auf sie aus. Wie konnte sie auch diese wunderbare Klassenreise auf die Insel Møn vergessen. Sie war das erste Mal richtig verliebt gewesen.

Am Strand, unterhalb des höchsten Kreidefelsens der Dänen hatte sie für ihre Begriffe hemmungslos mit Robert geknutscht. Was wäre wohl gewesen, wenn er nicht ständig anderen Tussis hinterhergestiegen wäre? Insgeheim schämte sie sich, dass sie Udo nur wegen der Ähnlichkeit zu Robert ausgesucht hatte.

„Wie heißt du eigentlich?“

Sie richtete ihren Kopf auf und merkte, dass sich Johnny zu ihr umgedreht hatte.

„Lady Gaga!“

„Verarschen kann ich mich selber!“, er nahm die dicke Sonnenbrille ab.

„Wenn sie mir sagen, wo wir hinfliegen!“

„Disneyland Paris! Wir treffen dort Onkel Dagobert!“, er feixte sich eins und schlug sich mit seinen schwarzen Touchscreen Fahrradhandschuhen auf seine muskulösen Oberschenkel.

„Wir fliegen über Meer!, giftete ihn Lady Gaga an.

„Schlaues Mädchen!“

„Ich bin nicht ihr Määä …“, sie verschluckte ihren Satz, denn die kleine Maschine spielte urplötzlich Russische Berge, wie die Franzosen für Achterbahn sagen.

Ein gewaltiges Luftloch ließ die Fokker gut und gern einhundert Meter an Höhe verlieren!

Melina war sterbensübel und zitterte am ganzen Körper. Ihr dicker Nachbar war abrupt aufgewacht und wollte wissen, ob sie denn schon angekommen seien.

Johnny, der durch den enormen Satz des Flugzeugs vor Schreck seine Kippe fallengelassen hatte, bückte sich danach und grummelte:

„Timmy! Merkst du denn nicht, dass wir noch in der Luft sind?“

Melina sah aus dem Fenster und bemerkte, dass sie wieder über Land flogen.

Johnny drehte sich wieder zu ihr um.

„Lady! Das mit dem Gaga kaufe ich dir nicht ab! Es dauert nicht mehr lange und du hast wieder Boden unter den Füßen. Heute Abend gebe ich dir eine spezielle Party! Wenn du schön mitspielst, kriegst du dann Schampus so viel wie du willst!“ Zu Ben gerichtet meinte er gönnerhaft: „Du bist auch eingeladen, Kumpel!

Melina merkte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Fast schon in einem Flüsterton fragte sie:

„Und was soll das für eine Party werden?“

Da meldete sich der Pilot zu Wort und es klang als ob Rod Stewart zu ihr gesprochen hätte.

„Schon mal was von einem flotten Dreier gehört, Lady? Johnny und ich werden es uns mit dir gemütlich machen und Timmy, der eigentlich eine Schwuchtel ist, es sich aber nicht eingestehen will, wird dann alles mit dem Smartphone aufnehmen, damit du später deinen Blagen zeigen kannst, was für eine geile Mama sie haben!“

Sie konnte nicht anders und musste dringend aus dem kleinen Fenster schauen. Sie wollte keinem dieser fiesen Gangster die Genugtuung geben mitzubekommen, dass ihr die Tränen über ihre Wangen liefen.

Das Flugzeug begann seinen Landeanflug und über die Kopfhörer des Piloten hörte sie:

G…. Airport. Foxtrot, Oscar, Kilo, Kilo, Echo, Romeo, One, One. Ready for landing!

Sie konnte nur ein G oder J identifizieren, wusste somit nach wie vor nicht, wo sie sich nun befand.

5.

Auch der Platz unter den Kastanien war wie ein Wintergrab mit Grün eingedeckt.

Das war Robert vorhin, als er den silbernen Mercedes gesucht hatte gar nicht so aufgefallen.

Der hagere, glatzköpfige Polizist und seine Kollegin nahmen ihn in ihre Mitte, als sie hinunter zur Hütte gingen.

Von weitem sah die durch das Unwetter gefällte Birke vorm Hütteneingang aus wie ein Apatosaurus.

Keiner der Drei hatte jedoch eine Ahnung, was sie in dem hölzernen Unterschlupf erwarten würde.

„Sei bloß vorsichtig, Paul! Durch den Starkregen ist das hier wie eine Rutschbahn!“ Fast wäre die Polizistin ausgeglitten und beugte sich nun für ihren gehandikapten Kollegen vor.

„Kein Problem, Betty! Mit meinen Krücken kann mir doch nichts passieren.“

Robert, der ja immer noch in den geliehenen Sportklamotten steckte, hatte ein seltsames Gefühl in der Magengrube. Er blickte hoch auf die Häuserzeile, die den Hügel der Bäkewiese und unten die Wiese selbst begrenzte. Auf einem Balkon mit einer ziemlich großen Fahne von Hertha BSC stand eine vollbusige Frau in einer blaukarierten Kittelschürze und winkte ihnen zu, so als ob sie sich nicht der Hütte nähern sollten.

Zwei Etagen höher und links von der zeichenmachenden Frau, stand ein älterer Herr mit einer Schiebermütze, in einer grauen Strickjacke und schwenkte ein weinrot-weißes Taschentuch.

Robert bemerkte außerdem, dass sich hinter vielen Fenstern die Gardinen bewegten. Das hieße, dass viele Menschen die Wiese oder die kleine Holzbehausung beobachteten.

Sein Begleitschutz schien davon keine Notiz zu nehmen.

Ein Hubschrauber kam aus der Richtung des Klinikums und flog zur vor ihnen liegenden Wiese. Es war kein Rettungshelikopter, sondern, da er ziemlich tief mit entsprechenden Nebenwirkungen flog, war gut zu erkennen, dass er zur Polizei gehörte.

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