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Aus der Reihe: Der Weg Der Vampire #6
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KAPITEL DREI

Caitlin setzte sich im Sarkophag auf und starrte den Mann vor sich an. Sie wusste, er kam ihr irgendwoher bekannt vor, doch sie konnte nicht zuordnen, woher. Sie starrte seine großen, braunen, besorgten Augen an, sein perfekt geformtes Gesicht, seine Wangenknochen, seine glatte Haut, sein dichtes, gewelltes Haar. Er war äußerst gutaussehend, und sie konnte spüren, wie viel sie ihm bedeutete. Sie spürte tief im Inneren, dass er ein wichtiger Mensch für sie war, doch beim besten Willen konnte sie sich nicht daran erinnern, wer er war.

Caitlin spürte etwas Nasses in ihrer Hand, und als sie hinunterblickte, sah sie einen Wolf da sitzen und sie ablecken. Sie war davon überrascht, wie fürsorglich er ihr gegenüber war, als kannten sie sich schon ewig. Er hatte wunderschönes weißes Fell, mit einem einzelnen grauen Streifen, der ihm mitten über den Kopf und Rücken lief. Caitlin hatte das Gefühl, dass sie dieses Tier auch kannte, und dass sie irgendwann in ihrem Leben eine starke Verbindung zu ihm gehabt hatte.

Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht erinnern, welche.

Sie blickte sich im Raum um, versuchte, ihre Umgebung in sich aufzunehmen, hoffte, es würde ihrer Erinnerung auf die Sprünge helfen. Langsam wurde der Raum deutlicher sichtbar. Es war düster, nur von einer Fackel beleuchtet, und in der Ferne sah sie angrenzende Räume, die mit Sarkophagen gefüllt waren. Der Raum hatte eine niedrige Gewölbedecke, und der Stein sah uralt aus. Es wirkte wie eine Gruft. Sie fragte sich, wie sie hierher gekommen war—und wer diese Leute waren. Sie hatte das Gefühl, aus einem Traum erwacht zu sein, der nie enden wollte.

Caitlin schloss einen Moment lang die Augen, atmete tief durch, und dabei blitzte plötzlich eine Reihe von willkürlichen Bildern durch ihren Kopf. Sie sah sich selbst im römischen Kolosseum stehen, mehrere Soldaten auf seinem heißen, staubigen Boden bekämpfen; sie sah sich über eine Insel im Hudson River fliegen, auf eine weitläufige Burg hinunterblickend; sie sah sich in Venedig, auf einer Gondel, mit einem Jungen, den sie nicht wiedererkannte, der aber ebenfalls wunderschön war; sie sah sich in Paris, an einem Fluss entlangwandern mit einem Mann, den sie als den Mann wiedererkannte, der ihr gegenüberstand. Sie versuchte, sich auf dieses Bild zu konzentrieren, es festzuhalten. Vielleicht würde es ihr helfen, sich zu erinnern.

Sie sah sie beide noch einmal, diesmal in seiner Burg am französischen Land. Sie sah, wie sie gemeinsam auf Pferden am Strand ritten, dann sah sie einen Falken hoch über ihnen kreisen und einen Brief abwerfen.

Sie versuchte, sein Gesicht besser zu sehen, sich an seinen Namen zu erinnern. Es schien ihr langsam wieder einzufallen, sie war so nahe dran. Doch ihr Verstand blitzte zu etwas anderem weiter, und es war so schwer, irgendetwas festzuhalten. Ein Leben nach dem anderen blitzte vor ihr auf, als endlose Reihe Schnappschüsse. Es war, als würden ihre Erinnerungen sich neu auffüllen.

„Caleb“, ertönte eine Stimme.

Caitlin öffnete ihre Augen. Er hatte sich auf sie zugelehnt, streckte eine Hand aus und hielt ihre Schulter.

„Mein Name ist Caleb. Vom weißen Clan. Erinnerst du dich nicht?“

Caitlins Augen schlossen sich wieder, während ihr Verstand von seinen Worten, seiner Stimme angeregt wurde. Caleb. Bei dem Namen klingelte etwas in ihrem Kopf. Es fühlte sich an, als wäre der Name ihr wichtig.

Der weiße Clan. Auch dabei klingelte es. Sie sah sich plötzlich in einer Stadt, die sie als New York City erkannte, in einem Kloster am Nordende der Insel. Sie sah sich auf einer großen Terrasse stehen und hinausblicken. Sie sah sich mit einer Frau namens Sera streiten.

„Caitlin“, kam die Stimme wieder, fester. „Erinnerst du dich nicht?“

Caitlin. Ja. So hieß sie. Da war sie sich nun sicher.

Und Caleb. Ja. Er war ihr wichtig. Er war ihr...Freund? Es fühlte sich an, als wäre er mehr als das. Verlobter? Ehemann?

Sie öffnete die Augen und starrte ihn an, und langsam stürmte alles wieder auf sie ein. Hoffnung erfüllte sie, als sie langsam, Stück für Stück, wieder anfing, sich an alles zu erinnern.

„Caleb“, sagte sie sanft.

Seine Augen füllten sich mit Hoffnung und wurden feucht. Der Wolf winselte neben ihr und leckte ihr über die Wange, als wolle er sie ermutigen. Sie blickte zu ihm hinüber, und plötzlich fiel ihr sein Name wieder ein.

„Rose“, sagte sie, dann erkannte sie, dass das nicht passte. „Nein. Ruth. Du heißt Ruth.“

Ruth kam näher und leckte ihr übers Gesicht. Caitlin musste lächeln und streichelte ihr über den Kopf. Ein erleichtertes Grinsen zog sich über Calebs Gesicht.

„Ja. Ruth. Und ich bin Caleb. Und du bist Caitlin. Erinnerst du dich jetzt?“

Sie nickte. „Es fällt mir wieder ein“, sagte sie. „Du bist mein...Ehemann?“

Sie sah zu, wie sein Gesicht plötzlich rot anlief, als wäre er verlegen, oder beschämt. Und in dem Moment fiel es ihr plötzlich ein. Nein. Sie waren nicht verheiratet.

„Wir sind nicht verheiratet“, sagte er bedauernd, „aber wir sind zusammen.“

Nun wurde auch sie verlegen, während sie sich langsam an alles erinnerte, ihr alles wieder einfiel.

Plötzlich fielen ihr die Schlüssel ein. Die Schlüssel ihres Vaters. Sie fasste in ihre Tasche und stellte beruhigt fest, dass sie noch da waren. Sie fasste in eine andere Tasche und spürte, dass auch ihr Tagebuch noch da war. Sie war erleichtert.

Caleb streckte eine Hand aus.

Sie ergriff sie und ließ sich von ihm hochziehen und aus dem Sarkophag heraus helfen.

Es fühlte sich gut an, aufrecht zu stehen, ihre schmerzenden Muskeln zu strecken.

Caleb streckte die Hand aus und wischte ihr das Haar aus dem Gesicht. Seine sanften Finger fühlten sich so gut an, als sie ihr über die Schläfe strichen.

„Ich bin so froh, dass du am Leben bist“, sagte er.

Er umarmte sie und drückte sie fest. Sie drückte zurück, und dabei schossen noch mehr Erinnerungen auf sie ein. Ja, das war der Mann, den sie liebte. Der Mann, den sie eines Tages zu heiraten hoffte. Sie konnte seine Liebe durch sie fließen spüren, und sie erinnerte sich daran, dass sie gemeinsam in die Vergangenheit gereist waren. Sie waren zuletzt in Frankreich gewesen, in Paris, und sie hatten den zweiten Schlüssel gefunden und waren beide zurückgeschickt worden. Sie hatte gebetet, dass sie diesmal gemeinsam zurückkommen würden. Und während sie ihn fester drückte, wurde ihr klar, dass ihre Gebete Wirklichkeit geworden waren.

Diesmal waren sie endlich zusammen.

KAPITEL VIER

„Ich sehe, ihr habt einander gefunden“, ertönte eine Stimme.

Caitlin und Caleb, mitten in ihrer Umarmung, wirbelten erschrocken zu der Stimme herum. Caitlin war schockiert, dass irgendjemand sich so schnell an sie heranschleichen konnte, besonders bei ihren scharfen Vampir-Sinnen.

Doch als sie der Frau entgegenstarrte, die vor ihnen stand, erkannte sie, warum: diese Frau war selbst ein Vampir. Ganz in Weiß gekleidet, mit einer Kapuze auf dem Kopf, hob die Frau ihr Kinn und starrte mit stechend blauen Augen zurück. Caitlin konnte ein Gefühl von Frieden und Harmonie von ihr ausgehen fühlen, und sie ließ ihre Abwehr sinken. Sie spürte, wie auch Caleb sich entspannte.

Die Frau fing breit zu lächeln an.

„Wir warten hier schon seit geraumer Zeit auf euch“, sagte sie mit sanfter Stimme.

„Wo sind wir?“, fragte Caitlin. „Welches Jahr ist es?“

Die Frau lächelte nur zurück.

„Kommt hier entlang“, sagte sie und drehte ihnen den Rücken zu, während sie durch den niedrigen Torbogen hinausging.

Caitlin und Caleb tauschten einen Blick aus, dann folgten sie ihr zur Tür hinaus, mit Ruth an ihrer Seite.

Sie schritten einen gewundenen Steinkorridor entlang, der zu einer engen Treppe führte, die nur von einer Fackel beleuchtet war. Sie waren dicht hinter der Frau, die einfach weiterging, als würde sie sich darauf verlassen, dass sie ihr folgten.

Caitlin verspürte den Drang, mehr Fragen zu stellen, sie aufzufordern, ihnen zu sagen, wo sie waren; doch als sie oben an der Treppe ankamen, eröffnete sich vor ihnen plötzlich ein prächtiger Anblick, der ihr den Atem raubte, und sie erkannte, dass sie in einer enormen Kirche waren. Zumindest dieser Teil der Frage war beantwortet.

Einmal mehr bereute Caitlin, in ihrem Geschichte- und Architekturunterricht nicht besser aufgepasst zu haben; bereute, nicht auf den ersten Blick genau zu wissen, welche Kirche dies war. Sie erinnerte sich an all die prachtvollen Kirchen, die sie schon besucht hatte—die Notre Dame in Paris, den Duomo in Florenz—und dachte bei sich, dass diese hier ihnen irgendwie ähnlich war.

Das Hauptschiff der Kirche erstreckte sich über hundert Meter, hatte einen Fußboden aus Marmorfliesen und Mauern, die mit dutzenden aus Stein gemeißelten Statuen geschmückt waren. Sie hatte eine hoch aufragende, gewölbte Decke, die sich über hundert Meter hoch erhob. Hoch oben waren reihenweise gewölbte Bleiglasfenster, die die Kirche mit einem sanften, vielfarbigen Licht durchströmten. Am anderen Ende war ein riesiges, kreisrundes Stück Bleiglas, das Licht auf einen enormen vergoldeten Altar warf. Davor ausgebreitet standen hunderte kleiner Holzstühle für die Gläubigen.

Doch im Moment war die Kirche leer. Es schien, als hätten sie das gesamte Gebäude für sich.

 

Sie schritten hinter der Vampirin her durch den Raum, und ihre Schritte hallten durch den riesigen, leeren Saal.

„Welche Kirche ist dies?“, fragte Caitlin schließlich.

„Westminster Abbey“, kam die Stimme der Frau, während sie weiterging. „Der Krönungssitz von Königen und Königinnen, schon seit tausenden Jahren.“

Westminster Abbey, dachte Caitlin. Sie wusste, dass das in England war. London, genauergesagt.

London.

Der Gedanke daran, hier zu sein, traf sie wie ein Sack Ziegel. Es war überwältigend, Ehrfurcht gebietend. Sie war noch nie zuvor hier gewesen und wollte schon immer einmal hierher. Sie hatte Freunde gehabt, die es besucht hatten, und hatte Bilder davon im Internet gesehen. Es erschien ihr logisch, dass sie hier waren, wenn man die lange mittelalterliche Geschichte dieser Stadt bedachte. Diese Kirche alleine war tausende Jahre alt—und sie wusste, dass es in dieser Stadt noch mehr davon gab. Doch sie wusste noch immer nicht das Jahr.

„Und welches Jahr ist es?“, fragte Caitlin nervös.

Doch ihre Begleiterin ging so schnell, dass sie die riesige Kapelle bereits durchquert hatte und sich durch einen weiteren Türbogen duckte, und Caitlin und Caleb so dazu zwang, sich zu beeilen.

Als sie hindurch schritten, fand sich Caitlin zu ihrer Überraschung in einem Kloster wieder. Da war ein langer Steinkorridor mit steinernen Mauern und Statuen auf einer Seite, und offenen Steinbögen auf der anderen. Diese Bögen standen im Freien, und durch sie hindurch konnte sie einen kleinen, friedlichen Innenhof sehen. Es erinnerte sie an so viele andere Kloster, in denen sie gewesen war; langsam erkannte sie das Muster ihrer Schlichtheit, ihrer Leere, die gewölbten Mauern, die Säulen, die gepflegten Innenhöfe. Sie alle fühlten sich wie eine Zufluchtsstätte vor der Welt an, wie ein Ort für Gebete und stille Andacht.

Die Vampirin blieb endlich stehen und wandte sich an sie. Sie starrte Caitlin mit ihren großen, mitfühlenden Augen an und sah aus wie aus einer anderen Welt.

„Wir sind an der Jahrhundertwende“, sagte sie.

Caitlin dachte einen Moment lang nach. „Welches Jahrhundert?“, fragte sie.

„Das sechzehnte natürlich. Es ist 1599.“

1599, dachte Caitlin. Der Gedanke daran war überwältigend. Wieder einmal wünschte sie sich, dass sie ihr Geschichtsbuch aufmerksamer gelesen hätte. Zuvor war sie von 1791 nach 1789 gesprungen. Doch nun war sie im Jahr 1599. Ein Sprung von fast 200 Jahren.

Sie erinnerte sich daran, wie viele Dinge schon 1789 primitiv erschienen waren—die fehlenden Wasserleitungen, die gelegentlichen unbefestigten Straßen, die kaum gewaschenen Leute. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie viel primitiver die Dinge noch 200 Jahre früher sein würden. Bestimmt würde diese Zeit noch viel weniger wiedererkennbar sein als alle zuvor. Selbst London würde wahrscheinlich kaum wiederzuerkennen sein. Bei dem Gedanken fühlte sie sich isoliert, alleine, in einer fernen Welt. Wenn Caleb nicht hier an ihrer Seite wäre, würde sie sich völlig einsam fühlen.

Doch zugleich war da diese Architektur, diese Kirche, dieses Kloster—sie alle fühlten sich so vertraut an, so wiedererkennbar. Immerhin schritt sie durch genau die gleiche Westminster Abbey, die auch im 21. Jahrhundert existierte. Nicht nur das, dieses Gebäude war selbst jetzt schon uralt, existierte bereits seit Jahrhunderten. Immerhin spendete ihr das einen Hauch Trost.

Doch warum war sie in diese Zeit geschickt worden? Und an diesen Ort? Offensichtlich hatte er eine große Bedeutung für ihre Mission.

London. Im Jahr 1599.

War dies die Zeit, in der Shakespeare lebte?, fragte sie sich, ihr Herz plötzlich schneller klopfend, als sie sich vorstellte, dass sie—wenn auch nur den Funken—einer Chance hatte, ihn leibhaftig zu Gesicht zu bekommen.

Sie schritten schweigend einen Korridor nach dem anderen entlang.

„London im Jahr 1599 ist nicht so primitiv, wie ihr denkt“, sagte ihre Begleiterin und warf ihr ein Lächeln zu.

Caitlin war es peinlich, dass ihre Gedanken gelesen worden waren. Wie immer wusste sie, dass sie sie sorgsamer hätte verbergen sollen. Sie hoffte, dass sie diese Vampirin nicht beleidigt hatte.

„Ich habe es nicht als Beleidigung aufgefasst“, antwortete sie, wieder ihre Gedanken lesend. „Unsere Zeit ist primitiv in vieler technologischer Hinsicht, die du gewohnt bist. Aber wir sind, auf andere Art, weiter fortgeschritten als selbst in deiner modernen Zeit. Wir sind äußerst wissend und gelehrt, und Bücher regieren den Alltag. Ein Volk von primitiven Mitteln, vielleicht, doch mit einem scharfen Intellekt.

Wichtiger noch, dies ist eine entscheidende Zeit für die Art der Vampire. Wir stehen hier an einem Scheideweg. Du bist aus gutem Grund zur Jahrhundertwende hier angekommen.“

„Warum?“, fragte Caleb.

Die Frau lächelte sie an, bevor sie durch eine weitere Tür ging.

„Die Antwort darauf ist eine, die ihr selbst herausfinden müsst.“

Sie betraten einen weiteren prächtigen Raum mit hoch aufragenden Decken, Bleiglas, Marmorböden, geschmückt mit enormen Kerzen und gemeißelten Statuen von Königen und Heiligen. Doch dieser Raum war anders als die anderen. Sarkophage und Bildnisse waren sorgsam darin angeordnet, und in der Mitte stand ein riesiges Grabmal, dutzende Meter hoch und von Gold überzogen.

Ihre Begleiterin ging geradewegs darauf zu, und sie folgten. Sie hielt davor an und wandte sich an sie.

Caitlin blickte an dem prunkvollen Grabmal hoch: es war groß, imposant. Es war selbst ein prachtvolles Kunstwerk, vergoldet, mit feinen Schnitzereien verziert. Sie spürte auch eine Energie von ihm ausgehen, als wäre es von einiger Bedeutung.

„Das Grabmal des heiligen Eduard des Bekenners“, sagte die Vampirin. „Es ist ein heiliger Ort, ein Wallfahrtsort für unsere Art seit hunderten von Jahren. Man sagt, dass jemand, der an seiner Seite betet, wundersame Heilung für die Kranken empfangen wird. Seht den Stein zu euren Füßen: er ist ganz abgenutzt von all den Leuten, die hier im Laufe der Zeit gekniet haben.“

Caitlin blickte hinunter und sah, dass das Marmorpodest tatsächlich leichte Einbuchtungen um seinen Rand hatte. Sie staunte darüber, wie viele Leute hier über die Jahrhunderte hinweg gekniet haben mussten.

„Doch in deinem Fall“, fuhr sie fort, „hält es noch tiefere Bedeutung.“

Sie blickte Caitlin direkt an.

„Dein Schlüssel“, sagte sie zu Caitlin.

Caitlin war verblüfft. Welchen Schlüssel meinte sie? Sie fasste in ihre Taschen und spürte dort wieder die beiden Schlüssel, die sie bisher gefunden hatte. Sie war nicht sicher, welchen davon die Frau wollte.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Deinen anderen Schlüssel.“

Caitlin dachte verwirrt nach. Gab es da noch einen Schlüssel, den sie vergessen hatte?

Dann, als sie zu ihrem Halsansatz blickte, wurde es ihr klar. Ihre Halskette.

Caitlin fasste danach und war erstaunt, dass sie immer noch da war. Vorsichtig nahm sie sie ab und hielt ihr das zarte, antiquierte Silberkreuz auf ihrer Handfläche hin.

Die Vampirin schüttelte den Kopf.

„Nur du kannst ihn benutzen.“

Sie nahm sanft Caitlins Handgelenk und führte es zu einem winzigen Schlüsselloch am Fuß des Sockels.

Caitlin staunte. Das Schlüsselloch wäre ihr ansonsten nicht einmal aufgefallen. Sie steckte den Schlüssel hinein, drehte ihn herum, und ein leises Klicken ertönte.

Sie blickte hoch und sah, dass sich ein winziges Fach an der Seite des Grabes geöffnet hatte. Sie blickte zu der Vampirin, die ihr feierlich zunickte.

Caitlin streckte die Hand aus und zog langsam ein langes, schmales Fach heraus. Darin, stellte sie erschrocken fest, lag ein langes, goldenes Zepter, sein Kopf mit Rubinen und Smaragden verziert.

Sie holte es heraus und staunte, wie schwer es sich anfühlte, wie glatt das Gold in ihrer Hand war. Es musste einen Meter lang sein, und aus massivem Gold gefertigt.

„Das Heilige Zepter“, sagte die Nonne. „Es gehörte einst deinem Vater.“

Caitlin blickte es mit neuer Ehrfurcht und Respekt an. Sie fühlte sich wie elektrisiert davon, es zu halten, und sie fühlte sich ihrem Vater näher als je zuvor.

„Wird es mich zu meinem Vater führen?“, fragte sie.

Ihre Begleiterin drehte sich einfach um und ging aus der Kammer. „Hier entlang“, sagte sie.

Caitlin und Caleb folgten ihr durch eine weitere Türe, und mehrere weitere Korridore entlang, über den mittelalterlichen Innenhof eines weiteren Klosters. Während sie gingen, erblickte Caitlin überrascht mehrere weitere Vampire, in weiße Roben mit Kapuzen gehüllt, durch die Hallen wandeln. Die meisten von ihnen blickten zu Boden, wie im Gebet versunken. Manche schwenkten Weihrauchfässer. Ein paar nickten ihnen im Vorbeigehen zu und setzten schweigend ihren Weg fort.

Caitlin fragte sich, wie viele Vampire hier lebten, und ob sie zum Clan ihres Vaters gehörten. Ihr war nie klar gewesen, dass Westminster Abbey auch ein Kloster war, zusätzlich zur Kirche. Oder dass es ein Zufluchtsort für ihre Art war.

Endlich betraten sie ein weiteres Zimmer, dieses kleiner als die anderen, doch mit einer hohen, gewölbten Decke und natürlichem Licht, das hereinschien. Dieses Zimmer hatte kahle Steinböden, und in seiner Mitte stand ein bemerkenswertes Möbelstück: ein Thron. Hoch auf einem Podest platziert, mindestens fünf Meter hoch, stand der hölzerne Thron da, ein besonders breiter Stuhl mit Armlehnen, die sich nach oben schwangen und einer Lehne, die wie ein Dreieck abgewinkelt war, das in der Mitte eine Spitze formte. Darunter, an den Ecken, saßen zwei goldene Löwen, so gestaltet, dass es aussah, als hielten sie den Stuhl aufrecht.

Caitlin betrachtete ihn ehrfürchtig.

„Der Sitz König Edwards“, sagte die Vampirin. „Der Krönungsthron für Könige und Königinnen seit tausenden Jahren. Ein ganz besonderes Möbelstück—nicht nur wegen seines Platzes in der Geschichte, sondern weil einer der Schlüssel unserer Art darin verweilt.“

Sie wandte sich Caitlin zu. „Wir bewachen diesen Thron schon seit tausenden Jahren. Nun, da du hier bist und das Zepter freigelegt hast, ist es an der Zeit, dass du deinen rechtmäßigen Platz einnimmst.“

Sie deutete Caitlin, den Thron zu besteigen.

Caitlin sah sie schockiert an. Welches Recht sollte sie, ein einfaches Mädchen, haben, einen solch königlichen Thron zu besteigen—einen Thron, auf dem schon tausende Jahre lang Könige und Königinnen gesessen hatten? Es fühlte sich nicht richtig an, auch nur in seine Nähe zu gehen, noch weniger, das riesige Podest zu besteigen und darauf zu sitzen.

„Bitte“, drängte die Vampirin. „Du hast das Recht dazu. Du bist die Auserwählte.“

Caleb nickte ihr zu, und langsam, widerwillig, stieg Caitlin auf das riesige Podest, das Zepter in der Hand. Als sie oben angekommen war, drehte sie sich herum und ließ sich zaghaft auf dem Thron nieder.

Er war aus hartem Holz gefertigt und gab nicht nach. Als sie sich zurücklehnte, legte sie ihre Hände auf die Armlehnen und konnte seine Macht spüren. Sie konnte die tausenden Jahre königlicher Figuren spüren, die hier an dieser Stelle ihre Kronen empfangen hatten. Es fühlte sich an wie elektrisch aufgeladen.

Wie sie so über den Raum blickte, fünf Meter höher als alle anderen, fühlte sie sich, als würde über sie hinwegragen, über die ganze Welt. Es war ein Ehrfurcht gebietendes Gefühl.

„Das Zepter“, sagte die Vampirin.

Caitlin blickte zu ihr hinunter, verwirrt, unsicher, was sie damit tun sollte.

„In der Armlehne des Throns findest du ein kleines Loch. Es ist dazu gedacht, es zu halten.“

Caitlin sah genauer hin und fand diesmal ein kleines Loch, gerade breit genug, um den genauen Umfang des Zepters zu fassen. Langsam steckte sie das Zepter in das Loch.

Es versank zur Gänze, bis nur noch sein Kopfstück über der Lehne zu sehen war.

Plötzlich ertönte ein leises Klicken.

Caitlin blickte hinunter und sah staunend ein kleines Fach, das sich am Ansatz eines der Löwenköpfe öffnete. Darin lag ein kleiner goldener Ring. Sie holte ihn heraus.

Sie hob ihn hoch und starrte ihn an.

„Der Ring des Schicksals“, sagte die Vampirin. „Er ist nur für dich gedacht. Ein Geschenk deines Vaters.“

 

Caitlin starrte ehrfurchtsvoll, hielt ihn gegen das Licht, bewunderte das Funkeln der Edelsteine, als sie ihn bewegte.

„Stecke ihn an den Ringfinger deiner rechten Hand.“

Caitlin schob ihn auf den Finger, und als sie das kühle Metall spürte, durchfuhr sie ein Vibrieren. Sie konnte die Macht spüren, die von ihm ausging.

„Er wird dir den Weg weisen.“

Caitlin betrachtete ihn. „Aber wie?“, fragte sie.

„Du musst ihn nur inspizieren“, sagte die Vampirin.

Caitlin war zuerst verwirrt, doch dann sah sie sich den Ring genauer an. Sie bemerkte eine feine, zarte Gravur um den Ring herum. Ihr Herz schlug schneller, als sie zu lesen begann. Sie fühlte sofort, dass es eine Botschaft von ihrem Vater war.

Über die Brücke, hinter dem Bären

Der Wind zur Sonne, umgehen wir London.

Caitlin las das Rätsel noch einmal, dann las sie laut, sodass Caleb es hören konnte.

„Was bedeutet es?“, fragte sie.

Ihre Begleiterin lächelte nur.

„Bis hierher ist es mir erlaubt, euch zu führen. Den Rest der Reise dürft ihr für euch selbst entdecken.“ Dann lehnte sie sich vor. „Wir zählen auf dich. Was auch immer du tust, lass uns nicht im Stich.“